Kitabı oku: «Im Hause des Kommerzienrates», sayfa 4
Nach wenigen Minuten saß Suse bequem und weich gebettet in der luftigen Stube. Sie musterte ängstlich die famosen Vorhänge, entsetzte sich über das Bett auf dem »stolzen Kanapee« und bemühte sich vergeblich, ihre Freude darüber zu verbergen, dass sie nun wieder jeden Sack zählen konnte, der drunten im Hofe auf- und abgeladen wurde.
Die junge Dame sah nach ihrer kleinen goldenen Uhr. »Es wird Zeit, mich in der Villa vorzustellen; sonst gerate ich möglicher Weise mitten in den stolzen Teezirkel der Frau Präsidentin«, sagte sie mit der anmutigen Geste eines leichten Schauders und zog die Handschuhe aus der Tasche. »In einer Stunde komme ich wieder und koche Dir eine Suppe, Suse –«
»Mit den feinen Händen?«
»Mit den feinen Händen, versteht sich. Glaubst Du denn, ich lege sie in Dresden in den Schoß? … Hast doch meine Lukas gekannt, Suse – sie ist heute wie damals; da heißt es, Hand und Fuß rühren und die Zeit ausnutzen. Du solltest sie nur einmal sehen! Sie ist eine Frau Doktorin geworden, die ihres Gleichen sucht.« Damit verließ sie das Zimmer, um sich in Susens Stübchen zum Fortgehen zu rüsten.
4
Auf der Spinnerei schlug es Fünf, als Käthe in Doktor Brucks Begleitung wieder in den Hof trat. Es war kälter geworden, und die uralte halbverwischte Sonnenuhr am Giebel, die heute, im goldenen Frühlingslicht neu auflebend, mit scharfem Finger die Stunden bezeichnet hatte, sah wieder trübselig verlassen und verwittert aus.
Das helle Geklingel der Türschelle lockte Franz wieder heraus auf die kleine Freitreppe, und auch seine Frau folgte ihm neugierig mit langem Halse, um die heimgekehrte junge Herrin zu begucken. Käthe bat sie, während ihrer Abwesenheit fleißig nach der Kranken zu sehen, was auch heilig und teuer versprochen wurde. In diesem Augenblick rauschte es in den Lüften, und gleich darauf stürzte eine schöne Taube herab und blieb hilflos aus dem Steinpflaster liegen.
»Schwerenot, nehmen denn die Bubenstreiche kein Ende?« fluchte Franz, indem er die Treppe herabsprang und das Tierchen aufhob – es war flügellahm geschossen. »Da guck’ her, Frau!« sagte er zu der Müllerin. »’s ist keine von unseren – ich dachte mir’s gleich. ’s ist ein gottheilloses Volk da drüben. Die schießen der armen Dame ihre Prachttauben nur so vor der Nase weg. Na, ich sollte nur der Herr Kommerzienrat sein!« Er schüttelte die Faust.
»Wer ist denn die arme Dame, Franz? Und wer schießt nach ihren Tauben?« fragte Käthe mit großen Augen.
»Er meint Henriette«, sagte Doktor Bruck.
»Und drüben aus der Spinnerei wird geschossen«, platzte Franz ingrimmig heraus.
»Wie, die Fabrikarbeiter meines Schwagers?«
»Ja, ja, die sein Brot essen, Fräulein. ’s ist eine Sünde und Schande. Da haben Sie die Bescherung, Herr Doktor! Da sehen Sie ja nun, was das für eine Brut ist. Sie wollen bei denen alles mit Liebe und Güte durchsetzen – ja, da werden Sie weit kommen. Was haben denn solche braven Leute, wie Sie, von der Gutheit? Lange Nasen macht Ihnen die Gesellschaft. … Die Faust aufs Auge! ’runter müssen sie. Das ist meine Meinung – sonst ist kein Aushaltens.«
»Strikt Herr der Franz geworden ist!« sagte sie mit unverkennbarer Ironie. »Von wem sprechen Sie denn? Sind Sie nicht selbst aus dem Volke? Und was waren Sie denn früher in der Schlossmühle? Ein Arbeiter, wie die Leute dort in der Spinnerei auch, ein Arbeiter, der schweigend manches Unrecht leiden musste, wie ich sehr genau weiß.«
Dem Müller schoss das Blut in das bestäubte Gesicht. Er stand in sprachloser Verblüfftheit vor der jungen Dame, die ihm so kurz und bündig, so schlagend seinen Standpunkt bezeichnete. »Na, Fräulein, nichts für ungut! Es war nicht so böse gemeint«, sagte er endlich und streckte ihr in unbeholfener Verlegenheit seine breite Hand hin.
»In Wirklichkeit sind Sie auch nicht so schlimm, aber Sie haben Glück gehabt und kehren nun den Schlossmühlenpächter heraus, der Geld in der Tasche hat«, entgegnete sie und legte einen Augenblick ihre schlanke Hand in die seine, aber die kleine Falte des Unwillens auf ihrer Stirn glättete sich nicht so rasch wieder. Sie zog ein weißes Tuch aus der Tasche, schlug es um die Taube und knüpfte die vier Enden zusammen. »Ich werde Henrietten den kleinen Invaliden mitbringen«, sagte sie, das Tuch wie ein Körbchen vorsichtig in die Hand nehmend – es sah aus, wie ein armseliges Reisebündelchen.
Der Doktor öffnete eine kleine Seitentür in der Hofmauer, welche direkt in den Park führte, und ließ die junge Dame voranschreiten. Draußen blieb sie wie eingewurzelt stehen. »Ich finde mich nicht zurecht«, rief sie fast bestürzt und wandte sich wie hilflos nach ihm um. »Sieht es doch fast aus, als ob Riesenhände den Park durcheinandergeschüttelt hätten. Was tun die Leute dort?« Sie zeigte weit hinüber nach einer Erdvertiefung von gewaltigem Umfang, aus der die Köpfe zahlloser Arbeiter auftauchten.
»Sie graben einen Teich; die Frau Präsidentin liebt die Schwäne auf breitem Wasserspiegel.«
»Und was baut man da drüben, nach Süden hin?«
»Ein Palmenhaus.«
Sie sah nachdenklich vor sich hin. »Moritz muss sehr reich sein.«
»Man sagt es.« Das klang so kühl und objektiv, als vermeide er absichtlich, seinen Antworten auch nur den leisesten Mitklang eigenen Urteils zu geben. … Er war ein auffallender Mann, dieser Doktor Bruck; das sah sie jetzt so recht, wie er im rotflutenden Abendlichte neben ihr stand. Es lag etwas von militärischer Strenge und Straffheit in seiner Haltung, während sein schönes, luftgebräuntes Gesicht mit dem weichgelockten Vollbarte nur die Züge sanftgemilderten Ernstes zeigte. Von Gedrücktsein oder Niedergeschlagenheit, die ein Missgeschick wie das über ihn verhängte meist zur Folge hat, war in der ganzen Erscheinung nicht eine Spur zu finden. »Ich werde Sie führen«, sagte er, als sie unschlüssig ihre Augen über das total veränderte Terrain schweifen ließ. Er reichte ihr seinen Arm, und sie legte unbedenklich ihre Hand darauf. So schritt Schwester Flora neben ihm. … wunderlich! Erst jetzt fiel ihr der Gedanke, dass sie in wenigen Minuten der ihr geistig so weit überlegenen Schwester gegenübertreten sollte, unbeschreiblich bang und schwer auf das Herz.
Sie blieb stehen und sagte nach einem tiefen Atemholen befangen lächelnd: »O ich Hasenfuß! Ich glaube gar, ich fürchte mich. – Ob ich wohl Flora gleich beim Eintreten begegnen werde?«
Sie sah, wie ihm das Blut jäh und dunkel in das Gesicht stieg. »Soviel ich weiß, ist sie ausgefahren«, antwortete er mit bedeckter Stimme, und gleich darauf setzte er, jeder neuen Frage vorbeugend, hinzu: »Sie werden das ganze Haus heute noch in einer gewissen Aufregung finden – der Fürst hat Moritz vor wenigen Tagen den Adel verliehen.«
Und das sagte er jetzt erst. »Wofür denn?« stieß sie überrascht heraus.
»Nun, er hat bedeutende Verdienste um die Hebung der Industrie im Lande«, versetzte er so rasch und ernstlich, als gelte es, ein ungünstiges Urteil abzuwenden. »Dabei ist Moritz ein Mensch von großer Herzensgüte – er tut sehr viel für die Armen.«
Käthe schüttelte den Kopf. »Sein Glück macht mir Angst.«
»Sein Glück?« wiederholte er betonend. »Es kommt darauf an, wie er selbst diese Wechselfälle ansieht.«
»O, ganz gewiss als etwas Beseligendes«, antwortete sie entschieden. »Ich weiß aus seinen Briefen, dass ihm die Erwerbung weltlicher Güter Hauptlebenszweck ist. Seine letzte Zuschrift z. B. war eine geradezu verzückte, weil – mein Erbe sich über alles Erwarten reich herausgestellt hat.«
Er ging schweigend neben ihr her; dann fragte er mit einem Seitenblicke: »Und Sie – bleiben denn Sie kalt diesem Reichtume gegenüber?«
Käthe bog den Kopf mit graziösem Mutwillen vor und sah ihm unter das Gesicht. »Sie erwarten wahrscheinlich eine sehr gesetzte Antwort von mir großem Mädchen, so ein recht ernstes Ja, aber das kann ich mit dem besten Willen nicht herausbringen. Ich finde es nämlich über die Maßen hübsch, reich zu sein.«
Er lachte leise in sich hinein und fragte nicht weiter. Sie gingen rasch vorwärts und erreichten bald die Lindenallee. Sie war verschont geblieben; man hatte die lange Bahn bereits mit frischem Kiese bestreut. »Ach, dort die liebe, altmodische Bekannte steht auch noch«, rief das junge Mädchen, nach einer fernen Holzbrücke zeigend, die ihren schmucklosen, morschen Bogen über den Fluss schlug.
»Sie führt zu dem Grundstücke am jenseitigen Ufer –«
»Ja, nach dem Gras- und Obstgarten. Ein hübsches, altes Haus steht drin. Es hat als Wirtschaftsgebäude zu dem ehemaligen Schlosse gehört, ist ganz von Wein umsponnen und hat breite Steinstufen vor der Tür. … Köstlich anheimelnd und still ist’s dort. Suse hatte ihren Bleichplatz im Garten; im Frühlinge war er ganz blau von Veilchen; dort habe ich stets die ersten gesucht.«
»Das dürfen Sie auch jetzt noch – die kleine Besitzung ist seit heute Morgen mein Eigentum.« Er warf einen warmen Blick hinüber.
Käthe dankte ihm, sah aber zerstreut und nachdenklich auf die Kiesel nieder, über die sie hinschritten. … Sollte ihre schöne Schwester als junge Frau in dem Hause wohnen? Flora mit ihren stolzen Gebärden, ihren majestätisch nachfließenden Schleppen, Flora Mangold, die Anspruchsvolle, der kein Salon hoch und weit, keine Ausschmückung reich genug sein konnte, in dem einsamen Hause mit den großen, grünen Kachelöfen und den ausgetretenen Dielen? Wie musste sie sich geändert haben – um seinetwillen!
Ein fernes Geräusch schreckte sie auf. Sie sah die Villa bereits so nahe vor sich, dass sie die Prachtmuster der Spitzengardinen erkennen konnte. Hinter den Scheiben rührte und regte sich nichts, aber von der Promenade her, die sich vor der jenseitigen, der Hauptfassade des eleganten Hauses hinzog, kam das Getöse einer heranrollenden Equipage immer näher. Es waren zwei prächtige Pferde, die gleich darauf um die nördliche Hausecke jagten. Geschirr und Wagen funkelten in Silberschmuck und im Glanze der Neuheit. Eine Dame hielt die Zügel in fester Hand; ihre Gestalt, um die sich dunkelfarbener, pelzverbrämter Sammet schmiegte, saß so leicht und sylphenhaft dort, als schwebe sie über den Polstern. Von ihrer Stirn zurück wehten weiße Federn, und um das klassische Gesicht, den unbedeckten Hals, der sich glänzend weiß aus der dunklen Pelzeinfassung hob, flatterten krause, blonde Locken.
»Flora! Ach, wie wunderschön ist meine Schwester!« rief Käthe enthusiastisch und streckte unwillkürlich die Rechte nach der Vorüberfliegenden aus, aber weder Flora, noch der Kommerzienrat, der mit verschränkten Armen neben ihr saß, hörten den Zuruf. Die Equipage bog um die entgegengesetzte Ecke, dann hörte man sie drüben vor dem Portale halten.
Ein kleiner Kiesel tanzte vorbei – die Stockspitze des Doktors hatte ihn wie im Spiele fortgeschleudert. Jetzt erst fiel es Käthe auf, dass er nicht mehr an ihrer Seite ging; sie war freilich unter dem hinreißenden Eindrucke vorwärts geeilt. Mit einer lebhaften Gebärde wandte sie sich um. Er schritt unbeirrt, noch genau in dem Tempo, wie vorher auch, aber in seiner Haltung erschien er noch stolzer emporgereckt, noch strenger reserviert. Er musste sie eben beobachtet haben, denn er wandte rasch und fast verlegen seine Augen weg. Mit Mühe verbiss sie ein satirisches Lächeln. Sie wusste, dass sie ihn bei einem vergleichenden Gedanken ertappt hatte, der ungefähr lauten mochte: »Gott, was für eine vierschrötige Jungfrau neben meiner Elfe!«
»Ich bin erstaunt über den sicheren Mut, mit welchem Flora fährt«, sagte sie, als er wieder neben ihr ging.
»Weit mehr zu bewundern ist die Todesverachtung ihres Begleiters. Es war eine Probefahrt, und der Kommerzienrat hat die jungen Pferde gestern erst gekauft.« Er war bitter gereizt. Sie hörte das plötzlich in seiner Stimme und schwieg ganz erschrocken.
5
Es fiel kein Wort mehr von beiden Seiten. Sie erreichten bald das Haus und traten durch eine Seitentür ein, während drüben die Equipage vom Portale wegfuhr. Ein Bedienter berichtete ihnen, dass die Damen und »der gnädige Herr« im Wintergarten seien, also in den Appartements der Frau Präsidentin.
Käthe hatte ihre ganze heitere Ruhe und Sicherheit wiedergefunden. Sie nahm eine Visitenkarte aus der Brieftasche und reichte sie dem Manne hin. »Für den Herrn Kommerzienrat«, sagte sie.
»So steif?« fragte Doktor Bruck lächelnd, während der Lakai geräuschlos über den dicken persischen Korridor-Teppich hinschlüpfte und hinter einer Tür verschwand.
»So steif!« bestätigte sie ernsthaft. »Da ist die weiteste Distanz die beste. Ein biederes Hereinpoltern würde mir jedenfalls sehr schlecht bekommen. Ich fürchte nun selbst, ›den gnädigen Herrn‹ mit meiner unzeremoniellen Ankunft sehr in Verlegenheit zu bringen.«
Sie hatte sich nicht geirrt. Der Kommerzienrat kam im förmlichen Sturmschritte aus den Gemächern, mit dem bestürzten Ausrufe: »Mein Gott, Käthe!« stolperte er über die Schwelle.
Die Richtung seines Blickes war geradezu lächerlich – er suchte den Kopf der wie vom Himmel fallenden Mündel offenbar um zwei Fuß zu tief – und nun trat sie so hochgewachsen und festen Schrittes auf ihn zu und begrüßte ihn mit einem fast frauenhaft stolzen Kopfneigen:
»Lieber Moritz, sei nicht böse, dass ich der Abrede zuwiderhandle! Aber um mich abholen zu lassen, dazu bin ich nun doch schon ein wenig zu groß.«
Er stand wie versteinert vor ihr. »Recht hast Du, Käthe. Die Zeit, wo ich Dich an der Hand führte, ist vorüber«, sagte er langsam, gleichsam in dem Anblicke ihres mit Rosenglut überhauchten Gesichts verloren. »Nun, sei mir tausendmal willkommen!« Jetzt erst reichte er auch Bruck begrüßend die Hand. »Ein Zusammenfinden im Korridor – da muss ich wohl gleich hier vorstellen –«
»Bemühe Dich nicht, Moritz! Das habe ich bereits selber besorgt«, unterbrach ihn das junge Mädchen. »Der Herr Doktor machte gerade Krankenbesuch bei Suse, als ich in die Mühle kam.«
Das Gesicht des Kommerzienrats verlängerte sich. »Die Mühle war Dein Absteigequartier?« fragte er betreten. »Aber liebes Kind, die Großmama Urach hat mit der liebenswürdigsten Bereitwilligkeit erklärt, sich Deiner anzunehmen; mithin verstand es sich von selbst, dass Du Dich ihr sofort vorstelltest; stattdessen gehst Du zu Deiner alten Flamme, der Jungfer Suse! Ich bitte Dich, sage das drin lieber nicht!« setzte er hastig flüsternd hinzu.
»Verlangst Du das ernstlich von mir?« Die fest klingende Mädchenstimme stach seltsam ab von seinem scheuen Flüstertone. »Ich kann doch nicht leugnen, wenn die Sache zur Sprache kommen sollte… Auf das Verheimlichen verstehe ich mich wirklich nicht, Moritz« – sie verstummte für einen Moment, erschrocken über die Feuerglut, die ihm in das Gesicht schoss, dann aber sagte sie resolut: »Habe ich einen Fehler begangen, so will ich mich auch dazu bekennen; es wird ja nicht gleich meinen Kopf kosten.«
»Wenn Du einen gutgemeinten Wink so tragisch nehmen willst, dann habe ich allerdings nichts mehr zu sagen«, entgegnete er verlegen und ärgerlich zugleich. »Den Kopf wird es freilich nicht kosten, aber Deine Stellung in meinem Hause erschwerst Du Dir. Übrigens ganz wie Du willst! Sieh Du selbst, wie Du Dich mit diesem herben ›Geradedurch‹ in unseren hochfeinen Gesellschaftskreisen zurechtfindest!«
Schon bei den letzten Worten hatte sein Ton mehr scherzhaft als pikiert geklungen. Er ließ sich nun einmal nicht gern die behagliche Stimmung verderben. Er bot ihr galant den Arm und führte sie nach dem ehemaligen Speisezimmer, das neben dem Wintergarten lag und dessen Tür er aufstieß.
Das war aber nicht mehr der traute Ess-Salon mit seinen altmodischen, behäbigen, roten Saffianmöbeln. Die Wand, die ihn einst vom Wintergarten getrennt, war verschwunden; an ihrer Stelle trugen schlanke, oben in Rundbogen auslaufende Säulen den Plafond, den der köstlichste Farbenschmuck in maurischem Stil bedeckte. Drunten lief ein niedriges, spitzenklares, vergoldetes Bronzegitter von einer Säule zur anderen – es schied den steingetäfelten Fußboden des maurischen Zimmers von dem weißen Wegsand, dem grünen Flaum kleiner Rasenflecke im Wintergarten. Hinter diesem Gitter grünte und blühte es wonnig; da dufteten Maiblumen und köstliche Bouquets von Parmaveilchen zu Füßen der mächtigen Drachenbäume, des dunklen Lorbeer und der prachtvollen Dekoration von silbergestreiften, metallisch glänzenden Blattpflanzen. Dieses herrliche Pflanzenbild wurde umrahmt und gleichsam in einzelne Felder geteilt durch eine Art von Blumenornamentik. Um die Säulen rankte sich die Clematis und behing die schlanken Schäfte bis hinauf in das feingebogene Rund mit weißen und lilablauen Blüten.
Zwischen den zwei Säulen, die einen Mittelweg in das Zimmer freiließen, stand Flora. Sie war noch in der Straßentoilette und augenscheinlich im Begriff, das Zimmer zu verlassen. Hoch hinter ihrem federgeschmückten Haupt wölbte der Springbrunnen des Wintergartens seine glitzernde Kuppel. Mit der behandschuhten Rechten hob die schöne Dame das schwere kastanienbraune Sammetkleid, dem das schräg hereinfallende Abendlicht schwachgoldige Reflexe entlockte, ein wenig über den Fuß, die unbedeckte Linke aber legte sich anmutig stützend an die Säule, weiß und zart wie die danebenhängende Clematisblüte.
Beim Eintreten des hochgewachsenen Mädchens öffnete sie zuerst ihre graublauen Augen weit vor Erstaunen, aber auch ebenso rasch kniff sie die Lider zu einem blinzelnd prüfenden Blick zusammen, wobei ein sarkastisches Lächeln um ihre Lippen huschte.
»Nun rate, Flora, wen ich da bringe!« rief der Kommerzienrat.
»Da brauche ich mir nicht lange den Kopf zu zerbrechen – das ist Käthe, die sich allein auf den Weg gemacht hat«, versetzte sie in ihrer eigentümlich nachlässigen und doch so überaus bestimmten Art und Weise. »Wer die alte Sommer gekannt hat, der weiß, dass das stämmige Mädchen da mit dem weiß und roten Apfelgesicht ihre Enkelin sein muss, Augen und Haar aber hat sie frappant wie Clotilde, Deine verstorbene Frau, Moritz.«
Mit einer geschmeidigen Bewegung löste sie sich gleichsam aus dem Blumenrahmen, trat auf die Schwester zu, und den Kopf in den Nacken zurückbiegend, bot sie ihr die Lippen zum Kuss. Ja, das war noch immer die unvergleichlich schöne Flora, aber das langjährige Herrschertum über die Herzen hatte die weibliche Grazie von ihrer Ausdrucksweise genommen. Ebenso nachlässig wie bei dem kühlen Begrüßungskuss nach sechsjähriger Trennung, war ihr Wesen dem mit eingetretenen Doktor gegenüber. »Grüß Gott, Bruck!« sagte sie und reichte ihm die Rechte, aber nicht wie eine Braut, sondern wie ein College dem anderen. Er erfasste die Hand mit leichtem Druck und ließ es ruhig geschehen, dass sie sofort wieder zurückgezogen wurde.
Diese äußere Zurückhaltung zwischen dem Brautpaar schien sich von selbst zu verstehen. Flora wandte unbefangen den Kopf nach dem Wintergarten zurück. »Großmama«, rief sie mit lächelndem Spott in ihren geistreichen Zügen, »unser Goldfisch macht Dir und Deinen Bekannten die Freude, sich vier Wochen früher anstaunen zu lassen.«
Die Präsidentin war bereits bei Floras ersten Worten hinter einer Kameliengruppe hervorgetreten. Ohne dass sie es vielleicht selbst wusste, hatte sie die Angekommene mit jener Spannung gemustert, welche die meisten Menschen einem sogenannten Glückskind gegenüber an den Tag legen. Floras boshaft übermütiger Zuruf machte diesen Ausdruck sofort verschwinden. Die alte Dame zog unwillig die Brauen zusammen, und ein feines Rot der Verlegenheit flog über ihr bleiches Gesicht hin. »Ich erinnere mich nicht, ein so auffälliges Interesse gerade für jene Eigenschaft Deiner Schwester gezeigt zu haben«, sagte sie kühl und mit einem streng verweisenden Blick. »Wenn ich mich über Käthes Kommen freue und sie freundlich willkommen heiße, so geschieht das, weil sie meines lieben verstorbenen Mangold Kind und Eure Schwester ist.«
Sie ging mit gehobenen Händen auf Käthe zu, als beabsichtige sie eine Umarmung; allein diese verbeugte sich so tief und zeremoniell, als stehe sie zum ersten Mal in ihrem Leben vor der stolzen Schwiegermutter ihres Vaters. Ein scharfer Blick hätte in dieser einen Gebärde leicht das scheue Zurückweichen vor jeglicher Berührung erkannt, die Präsidentin aber sah darin offenbar nur das Anzeichen eines tiefen Respektes. Sie zog die Hände zurück und hauchte einen Kuss auf die Stirn des jungen Mädchens. »Bist Du wirklich allein gekommen?« fragte sie, ihre Augen suchten unruhig forschend die Tür, als müsse noch irgendeine nicht gerade willkommene Reisebegleitung eintreten.
»Ganz allein. Ich wollte auch einmal selbstständig meine Flügel probieren, und das hat meine Doktorin gern erlaubt.« Sie strich noch einmal wie unbewusst mit den schlanken Fingern über die Stelle, welche die alte Dame mit ihren kalten Lippen berührt hatte.
»Ei, das glaube ich Dir gern; das ist ja ganz im Sinne der alten Lukas«, sagte die Präsidentin mit einem ganz leisen, ironischen Lächeln. »Sie war ja auch stets sehr selbstständig … Dein guter Papa hatte sie ein ganz klein wenig verzogen, mein Kind. Sie tat, was ihr gefiel; selbstverständlich immer nur das Rechte –«
»Und das Verständige; aus dem Grunde mag ihr wohl auch der Papa seine jüngste wilde Hummel anvertraut haben«, setzte Käthe mit jener heiteren Unbefangenheit hinzu, die ihr ganzes Wesen charakterisierte. Aber gerade dieser Freimut, diese Leichtigkeit und Sicherheit schienen unangenehm zu berühren.
Die Präsidentin zog die Schultern leicht empor. »Dein Papa hat sicher Dein Bestes gewollt, liebe Käthe, und meine Sache ist es nie gewesen, irgendeine seiner Maßregeln zu bemäkeln. Aber er war eine vornehme Natur und hielt streng auf das Dekorum – ob es ihn nun doch nicht einigermaßen in Verlegenheit gebracht hätte, wenn ihm sein heiteres Töchterchen plötzlich so sans gêne, so frank und frei in das Haus geflattert wäre?«
»Wer weiß?« versetzte Käthe. »Der Papa würde doch wissen, wes Geistes Kind diese Tochter ist« – ein mutwilliger Strahl blitzte aus ihren braunen Augen – »Müllerblut, das schlägt sich tapfer und wohlgemut durch die Welt, Frau Präsidentin.«
Der Kommerzienrat räusperte sich und strich eifrig seinen schönen Lippenbart, während die Präsidentin so betreten aussah, als habe unvermutet ein allzu kräftiger Luftzug ihr vornehmes Gesicht angeblasen, Flora aber brach in ein helles Gelächter aus. »Kind Gottes, Du bist kostbar naiv«, rief sie, die Hände zusammenschlagend. »Ja, ja: ›Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wandern,‹« rezitierte sie. »Mit einer solchen Äußerung müsste unser Jüngstes nächstens in Moritzens großer Soiree debütieren, Großmama; da würden sie die Ohren spitzen!« Sie blinzelte die alte Dame schadenfroh an, die jedoch ihr Gleichgewicht schon wiedergefunden hatte.
»Ich vertraue dem angeborenen Takt Deiner Schwester, mein Kind«, sagte sie, ihre Hand nebenbei nun auch dem Doktor zur Begrüßung hinstreckend. Dazu lächelte sie mit jenem feinen Zusammenziehen der Lippen, das nur einen Schein der Zahnspitzen sehen ließ und von welchem man nie wusste, ob es süß oder sauer war.
»Takt, Takt – der wird viel helfen«, wiederholte Flora, den Kopf spöttisch wiegend. »Die Müllerreminiszenz ist ihr genau ebenso angeboren. Die gute Lukas hat es eben nicht verstanden, ihr ein wenig Weltklugheit einzupauken – da fehlt’s. Übrigens bin ich wirklich froh, dass Du allein gekommen bist, Käthe; ich hoffe, es wird sich so besser mit Dir leben lassen, als wenn Du am Rock Deiner alten hausbackenen Gouvernante hängst.«
Käthe hatte das Barett abgenommen; die schwüle Blumenluft trieb ihr das Blut heiß in die Wangen. Jetzt, mit der dicken, goldbraunen Haarflechte über der Stirn, sah sie noch größer aus.
»Hausbacken? Meine Doktorin?« rief sie lebhaft. »Eine poesievollere Frau lässt sich nicht denken.«
»Ei, was Du sagst! Sie schwärmt wohl den Mond an, schreibt empfindsame Verse ab, etc. Oder dichtet sie gar selbst? Wie?«
Das junge Mädchen richtete die glänzenden Augen mit klugem Blicke auf das Gesicht der Spötterin. »Verse nicht, aber die Manuskripte ihres Mannes schreibt sie ab, weil die Setzer der medizinischen Zeitschrift seine wunderlichen Krakelfüße absolut nicht entziffern können«, sagte sie nach einem kurzen Moment schweigender Prüfung. »Sie schreibt auch keine eigenen Verse oder Novellen – dazu fehlt ihr die Zeit, und doch dichtet sie. … Ach, Du lächelst noch genau so wie früher, Flora, so tief und so scharf in den Mundwinkeln, aber das Spottlächeln scheucht mich nicht mehr in die Ecken; ich habe eine streitbare Ader und behaupte weiter: Sie dichtet doch in der Art und Weise, wie sie das Leben nimmt und ihm stets eine Seite abzugewinnen weiß, von der ein verklärendes Licht ausgeht, wie sie ihr einfaches Heim ausschmückt – aus jedem Eckchen guckt ein schöner Gedanke – und wie sie es unsäglich gemütlich und doch ästhetisch anregend für ihren braven Mann und mich alten Kindskopf und die wenigen auserwählten Freunde des Hauses zu erhalten versteht.«
In diesem Augenblicke flog ein ganzer Regen von frischen Veilchen gegen die Brust des jungen Mädchens und rieselte auf den Fußboden nieder,
»Bravo, Käthe!« rief Henriette. Sie stand im Wintergarten, dicht am Gitter, und presste die bleichen Hände auf ihre heftig atmende Brust. »Ich möchte Dir gleich um den Hals fliegen, aber – sieh mich doch an! – müsste das nicht zum Totlachen sein? Du, so kerngesund an Leib und Seele, und ich –« ihre Stimme versagte.
Käthe warf das Barett, das sie noch in der Linken hielt, von sich und flog zu ihr. Sie umschlang zärtlich die schwache Gestalt, aber die Tränen des Erbarmens und die Betroffenheit darüber, dass das Gesicht der Schwester »so entsetzlich abgemagert«, wurden weislich unterdrückt.
Flora biss sich auf die Lippen. »Das Jüngste« war nicht nur imposant an Leibesgestalt geworden, es hatte auch in den hellen Augen und auf den Lippen den seltenen Freimut innerer Unabhängigkeit, der manchmal so unbequem werden kann. Ihr kam plötzlich die dunkle Ahnung, als trete mit dem kraftvollen Mädchen dort eine schattenwerfende Gestalt in ihr Leben. … Sie nahm hastig den Hut ab und fuhr mit beiden Händen auflockernd durch die zerdrückten Scheitellöckchen. »Hast Du das poetische Reisebündelchen da wirklich von Dresden mitgebracht?« fragte sie trocken, mit einem blinzelnden Seitenblicke nach dem zusammengeknüpften weißen Tuche am Arme der Angekommenen.
Das junge Mädchen löste die verschlungenen Enden und reichte Henriette die Taube hin. »Ein kleiner Patient, der Dir gehört«, sagte sie. »Das arme Ding ist flügellahm geschossen. Es fiel im Schlossmühlenhofe auf das Pflaster.«
Da war bereits die Einkehr in der Mühle verraten, allein die Präsidentin schien die letzten Worte ganz zu überhören; sie zeigte tief empört auf das verwundete Tierchen und sagte, nach dem Kommerzienrate zurückgewendet, mit strafendem Vorwurfe: »Das ist nun die vierte, Moritz.«
»Und noch dazu mein Liebling, mein Silberköpfchen!« rief Henriette und wischte sich eine Träne des Schmerzes und der Erbitterung von den Wimpern.
Der Kommerzienrat war ganz blass vor Schreck und Ärger. »Liebe Großmama, ich bitte Sie dringend, machen Sie mir daraus keinen Vorwurf mehr!« rief er fast heftig. »Ich tue, was möglich ist, um diesen bodenlosen Nichtswürdigkeiten auf die Spur zu kommen und sie zu verhindern, aber der Täter versteckt sich hinter der Phalanx von zweihundert erbitterten Menschen« – er zuckte die Achseln – »da lässt sich gar nichts tun. Ich habe auch deshalb Henriette wiederholt gebeten, ihre Tauben einzuschließen, bis die Aufregung vorüber ist.«
»Also wir werden in der Tat die Nachgebenden sein müssen? Es wird immer besser«, sagte die alte Dame sehr anzüglich; sie zog und rückte an der Schleierwolke, die ihr um Gesicht und Hals lag, als ob ihr die innere Aufwallung unerträglich warm mache. »Sagst Du Dir nicht selbst, Moritz, dass eine solche Gleichgültigkeit die Verwegenheit geradezu herausfordert? Man wird das geduldete Taubenschießen nachgerade langweilig finden und sich edleres Wild aussuchen.«
»Warum denn so zart verblümt, Großmama? Die Partei selbst nennt das Ding ziemlich unverfroren beim Namen«, warf Flora geflissentlich leicht und nachlässig hin. »Meine Jungfer hat heute Morgen beim Öffnen der Läden wieder einmal einen Drohbrief auf meinem Fenstersims gefunden; sie sah sich gezwungen, ihn mit der Feuerzange anzufassen und mir zur Einsicht hinzuhalten – so unappetitlich war der Wisch; er liegt in ihrer Stube, für den Fall, dass Du ihn zu Deinen Akten legen willst, Moritz. Neues enthält er selbstverständlich nicht – immer dieselben Phrasen! Wissen möchte ich aber doch, weshalb diese Menschen gerade mich so ganz besonders mit ihrem Klassenhasse beehren.«
Käthe konnte den Gedanken nicht unterdrücken, dass es sich hier wohl weniger um den Hass gegen die bevorzugte Klasse, als gegen die Persönlichkeit selbst handle. Sie begriff, dass diese herrische Erscheinung in fürstlich reichen Gewändern, mit den verächtlichen Linien um den Mund und der männlich schroffen Redeweise von Fernstehenden leicht für alle vom Hause ausgehenden Maßregeln verantwortlich gemacht wurde.
»Die gehässigen Angriffe sind doppelt lächerlich durch den Umstand, dass gerade ich mich für die soziale Frage lebhaft interessiere«, fuhr Flora unter kurzem Auflachen fort; »ich habe schon manchen zu Gunsten der Arbeiterklasse wirkenden Artikel in die Welt hinausgeschickt.«
»Mit dem Schreiben allein macht man das heute nicht mehr«, sagte Doktor Bruck vom Fenster herüber. »Die besten Federn haben sich stumpf daran geschrieben und die Wogen der Bewegung gehen immer höher und schwemmen die Theorien vom Papier.«
Aller Augen richteten sich auf ihn. »Ei, und was soll man tun?« fragte Flora spitz.
»Sich die Leute und ihre Forderungen selbst ansehen. Was nützt es, wenn Du aus dem Heer von Denkschriften und Broschüren über dieses Problem ›das Für und Wider‹ an Deinem Schreibtische mühsam zusammensuchst –«
»O, bitte« – in ihren Augen entzündete sich plötzlich ein grelles Feuer.
»Und Totes zu dem vielen Toten wirfst?« fuhr er unbeirrt fort. »Deine Artikel werden diesen Leuten schwerlich zu Gesicht kommen, und wenn auch – was helfen sie ihnen? Worte bauen ihnen keine Heimstätte. Gerade den Frauen in den Familien der Arbeitgeber fällt ein bedeutender Teil der Lösung zu, ihrem milden Einfluss auf das härtere Männergemüt, ihrer sanften hilfreichen Vermittelung, ihrer Klugheit. Aber die wenigsten geben sich die Mühe, darüber nachzudenken oder, was ich in erster Linie von ihnen verlange, ihr Herz zu befragen. Sie nehmen die Mittel zur Bestreitung ihrer heutzutage fast schrankenlosen Bedürfnisse aus den Händen der Männer, ohne zu erwägen, dass vor ihrer Tür alle Elemente zu einem furchtbaren Konflikt stetig emporwachsen.«