Kitabı oku: «Reichsgräfin Gisela», sayfa 3

Yazı tipi:

»Ja, Mama!« Diese Antwort klang halberstickt, aber sie erfolgte sofort.

»Merkwürdig – das Geräusch ist mir nie so aufgefallen. Hättest du über ein seidenes Kleid in deiner Garderobe zu verfügen, dann wollte ich darauf schwören, du machtest dir das lächerliche Vergnügen, im alten Waldhaus als Salondame zu paradieren... Was hast du für ein Kleid an?«

»Mein altes braunes Wollkleid, Mama.«

Das Examen war zu Ende, Jutta atmete erleichtert auf, sie klirrte beim Teetrinken mehr als nötig mit der Tasse, im übrigen aber hielt sie sich plötzlich steif und unbeweglich wie ein Wachsbild.

Die Kranke genoß so viel wie nichts. Ein dünnes Schnittchen des feinen Brotes, das Sievert um ihretwillen aus Schloß Arnsberg geholt hatte, zerbröckelte zwischen ihren Fingern, kaum einige Krumen kamen über ihre Lippen sie war offenbar dem letzten Stadium ihrer Krankheit sehr nahe.

»Du könntest mir etwas vorlesen, Jutta, wenn du mit deinem Abendbrot fertig bist«, sagte sie. »Der Sturm heult zu unheimlich!«

»Gern, Mama. Ich will die Sappho von Grillparzer holen. – Theobald hat sie mir gestern mitgebracht.«

Ein nervöses Aufzucken durchflog die Glieder der blinden Frau. »Nein, nein!« rief sie mit abwehrender Heftigkeit. »Weißt du, was diese Sappho ist? Ein unglückliches, verratenes Weib!... Ein Sturm der qualvollsten Seelenschmerzen geht durch dies Buch, schlimmer als der da draußen, und – ich will ihn ja doch vergessen!«

Die junge Dame erhob sich, um ein anderes Buch zu holen; dabei streifte sie unbewußt mit ihrem Kleid die herabhängende Rechte der Kranken – diese Hand erfaßte plötzlich die vorübergleitenden Rockfalten und hielt sie krampfhaft fest, während die Linke prüfend in fieberhafter Hast über den Stoff hinfuhr.

»Jutta, bist du wahnsinnig?« schrie sie auf.

Das junge Mädchen sank sofort neben dem Lehnstuhl nieder. »Ach, Mama, verzeihe mir!« flüsterte sie. Der Schrecken hatte ihre Lippen schneeweiß gefärbt.

»Leichtsinniges, liebloses Geschöpf du«, zürnte die Mutter und stieß die Hände zurück, die ihre Rechte erfaßten. »Hast du auch nicht einen Funken von Scham und Scheu empfunden, als du mein Heiligtum an dich rissest?... Mein Brautkleid, das ich gehütet habe wie einen Augapfel, als einzigen Zeugen einer himmlisch schönen Zeit – dieses Kleid, von dem du weißt, daß es mit mir gehen soll, wenn ich endlich erlöst sein werde von meinem Leiden, schleifst du zur Verhöhnung unserer ganzen armseligen Verhältnisse über die elenden Dielen des Waldhauses und führst damit eine Farce auf, wie sie sich lächerlicher und erbärmlicher nicht denken läßt?«

Jutta erhob sich rasch, mit einer zornigen Gebärde. In diesem Moment verflüchtigte sich auch die letzte Spur der Dornröschenlieblichkeit bei dem jungen Mädchen. Der zürnenden Mutter den Rücken halb zugewendet, war sie Zoll für Zoll die geharnischte Opposition. Ein impertinenter Zug flog um die leichtvibrierenden Nasenflügel, und höhnisch lächelnd richtete sie ihre sprühenden Augen auf ein Damenporträt, das über dem Sofa hing. Es war eine jugendliche Mädchengestalt mit einem Mulattenköpfchen. Vollkommen unregelmäßig in seinen Linien und von entschiedenem bronzefarbenem Teint, fesselte dies kleine magere Gesicht unwiderstehlich durch den pikanten, geistreichen Ausdruck der Züge und durch ein tiefes halbverschleiertes Augenpaar, in dem die Leidenschaft verstohlen glimmte. Die zarten, bräunlichen Schultern umfloß weiße Seidengaze, unter der schwerer Atlas schimmerte, und in den dicken, dunkeln Haarflechten steckte ein Granatblütenstrauß, den eine Brillantnadel festhielt.

Juttas Blicke hingen an der eleganten Toilette des Bildes.

»Du tust, als hätte ich ein Kriminalverbrechen begangen, Mama«, sagte sie kalt. »Ich habe das Kleid nicht an mich gerissen, sondern mir nur erlaubt, es für einige Stunden zu leihen. Die paar Nähte, die ich verändern mußte, sind im Nu wieder aufgetrennt; im übrigen ist es unversehrt... Theobald wollte uns heute abend seinen Bruder vorstellen; es ist wohl sehr natürlich, daß ich dem neuen Verwandten wenigstens einen anständigen Eindruck machen wollte. Mein braunes Wollkleid ist lächerlich unmodern und hat Flicken, die sich nicht gut mehr verbergen lassen – du erlaubst ja nie, daß Theobald mir dergleichen schenkt... Mama, du hast vergessen, daß du auch einmal jung gewesen bist; oder vielmehr, du kannst nicht begreifen, wie ich fühle und leide, denn deine Jugend war ja so ganz anders!... Wenn ich dort dein Bild ansehe und den weißen Atlas mit meiner brillantesten Toilette, eben dem kostbaren braunen Wollkleide, vergleiche, dann frage ich: Warum bin ich ausgestoßen aus dem Paradiese, in dem du, Mama, leben und glänzen durftest?«

Die Blinde stöhnte und schlug die Hände vor das Gesicht. »Ich bin auch jung und von edlem Geschlecht!« fuhr die Tochter unerbittlich fort. »Ich fühle auch den Beruf in mir, oben zu stehen und mit den Großen zu verkehren, und muß elend in einem dunkeln Winkel verkümmern!«

War es Frau von Zweiflingens Absicht gewesen, ihr Kind, frei von Eitelkeit und Weltlust, für eine anspruchslose, bescheidene Lebensstellung zu erziehen, dann hatte sie unklugerweise einen beredten Gegner außer acht gelassen, der unausgesetzt und energisch ihren Bestrebungen entgegenwirkte – es war der Spiegel. Wenn auch die dürftige Talgkerze kaum ein halbes Dämmerlicht im Zimmer verbreitete, so daß nur das weiße Licht des jungen Mädchens, die bleichen Blumensterne in ihrem Haar und hier und da ein Streifen der hellen Seidenrobe aufleuchteten – das deckenhohe Glas warf doch eine Erscheinung zurück, die in ihrem stolzen Gesamtausdruck, in dem verführerischen Reiz ihrer tadellosen Formen durchaus nicht mit der einsamen und harmlos verblühenden Waldanemone verglichen werden durfte.

»Von dem ganzen großen Familienvermögen ist nicht ein Groschen für mich verblieben«, sprach Jutta beharrlich weiter, während die blinde Frau, das Gesicht in den Händen vergraben, bewegungslos schwieg. »Du sagst, Papa habe es durch Unglücksfälle und falsche Freunde verloren – gut, das ist nicht zu ändern; aber dann mußten von deiner und Papas Seite Schritte geschehen, mich wenigstens standesgemäß zu versorgen... Vor einigen Tagen las ich, daß die Töchter verarmter Adelsfamilien meist als Hofdamen untergebracht werden – das hat mich sehr aufgeregt, Mama; ich muß fortwährend darüber nachdenken, weshalb du mir den einzigen Weg zu einem glänzenden Leben verschlossen hast.«

»So – das wäre also dein unumwundenes Glaubensbekenntnis, Jutta!« sagte die Blinde tonlos; ihre Hände sanken langsam in den Schoß. Die leidenschaftlich hervorbrechende Heftigkeit der Frau war plötzlich wie erloschen, wie vernichtet unter einem ungeahnten moralischen Schlag. »Und ich habe gewähnt, das Blut durch die Erziehung bekämpfen zu können! Alle Eigenschaften unserer Kaste, da sind sie ja: die Genußsucht, der Hochmut, der Trieb, es den Höchsten gleich zu tun – und reichen die eigenen Mittel nicht aus, nun so schraubt man den Stolz um so und so viel Grad tiefer und mischt sich wenigstens unter den dienenden Troß, um sich von der Gnadensonne beglänzen zu lassen... Ich wollte dich nicht in jener Sphäre wissen, die du das Paradies, nennst, hörst du?« fuhr sie heftiger fort, indem sie sich mit den Händen auf die Seitenlehnen des Stuhles stützte und so ihre halbgelähmte Gestalt höher aufrichtete; »eher würde ich dich eigenhändig hier im alten Waldhause vermauern!... Das mag dir vorläufig genügen. Später, wenn du gereift und nicht mehr so kindisch unverständig sein wirst, und wenn ich nicht mehr bin, soll Theobald dir meine Gründe sagen!« Sie lehnte sich erschöpft zurück und ließ die Lider über die Augen sinken.

3

Es war mit einemmal still geworden im Zimmer, Jutta wagte kein Wort der Erwiderung mehr. In dem Blick, den sie auf die Kranke heftete, lag doch etwas wie Scheu, Furcht und ein plötzlicher Schrecken über die eigene Kühnheit. Sie ging einigemal auf und ab; die kleinen Füße glitten unhörbar über die ausgetretenen Dielen, als versänken sie im weichsten Teppich – nur das verhängnisvolle Seidenkleid knisterte und rauschte beim Hinstreifen über die Möbel. Draußen aber flog der Sturm im jähen Aufbrausen um die alten Turmmauern. Die letzten Blätterreste der ächzenden Baumwipfel rasselten, im wilden Gemenge mit dem Flockenwirbel, gegen die Fensterscheiben, und droben in luftiger Höhe klatschten und knarrten die verwahrlosten Laden der Dachluken hilflos auf und zu.

In diesen allgemeinen Aufruhr mischte sich plötzlich der Ruf einer menschlichen Stimme.

Zur Sommerzeit lag das Waldhaus nicht so gänzlich vereinsamt, als man hätte denken sollen. Der Fahrweg, den Sievert anfänglich betreten, führte, ungefähr dreißig Schritte entfernt, an der Nordseite des Hauses vorüber. Er lief ziemlich gerade über den hier sehr flachen Bergrücken in der Richtung nach A. und vereinigte sich drunten wieder mit der Landstraße, die in weitem Bogen den Fuß des Berges umschrieb – er verkürzte die Strecke zwischen Neuenfeld und der Stadt um mindestens eine halbe Stunde. Dieser Umstand und die köstliche Waldeskühle machten, daß der Weg nicht allein von den Holzfuhrknechten benutzt wurde. Die Dorfleute gingen hin und wieder und kehrten auch öfter bei Sievert ein, um kleine Bestellungen für ihn in der Stadt zu besorgen. An heißen Tagen aber vermieden auch die Reisenden zu Wagen die staubige Landstraße und vergaßen auch die holprigen Geleise über dem Frieden und der grünen Dämmerung des Waldes. Diese Lebensader, die das Dickicht durchlief, wurde den Bewohnern des Waldhauses freilich nur bemerkbar durch herüberklingendes Lachen und Plaudern von Menschenstimmen, lustiges Peitschenknallen und bei trockenem Wetter durch das Rasseln der Räder – ebenso wußten die wenigsten, die da drüben vorüberzogen, um das Dasein des uralten Jagdschlößchens im Herzen des Waldes, denn ein wildverwachsenes Unterholz, überragt von dicht gescharten Buchenkronen, trennte das Haus von dem Fahrweg. Mit dem Eintritt des Winters jedoch verstummten die Laute eines lebendigeren Verkehrs vollständig. Nur die Dohlen, die, seit Jahrhunderten auf den Türmen nistend, ihre Geschlechtstafel getrost neben die verwitterte drunten in der Halle hängen durften, und die ihr angemaßtes Vorrecht im Walde zäher und hartnäckiger zu behaupten wußten, als die besiegelten Pergamentstreifen des Herrn von Zweiflingen es vermocht hatten – sie kreisten flügelklatschend über dem einsamen Hause, und ihr mißtönendes Geschrei war oft wochenlang die einzige Lebensäußerung, die von draußen her in das stille Turmzimmer drang.

Der vereinzelte Ruf einer Menschenstimme war demnach von überraschender Wirkung für die beiden Frauen. Die Blinde fuhr empor aus ihrem apathischen Hinbrüten, und Jutta öffnete rasch den Flügel des einen unverhüllten Fensters. Mit dem Windstoß, der ihr entgegenfuhr, drang auch deutlicher ein wiederholter Ruf herein, das laute Hallo einer Männerstimme; es klang von der nördlichen Seite des Hauses herüber und galt offenbar Sieverts erleuchteten Fenstern. Eine halbverwehte Antwort des alten Soldaten erfolgte, und nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Fremden kam er aus seiner Stube und schritt nach der Haustür.

Jutta nahm das Licht und ging hinaus in die Halle in dem Augenblick, wo Sievert den schweren Türflügel zurückschlug und, auf die Galerie tretend, eine brennende Laterne in die undurchdringliche Finsternis hinaushielt.

Rasche, feste Schritte kamen über den schmalen Wiesenfleck, der sich vor dem Hause hinstreckte. Am Fuß der Treppe machten sie halt, und gleich darauf trippelten ein Paar leichte Füßchen die Stufen hinauf.

»Meine beiden Kutscher sind auf den Tod erkrankt«, sagte draußen eine tiefe Stimme von sehr angenehmem Klang, wenn sie auch im Unwillen und, wie es schien, infolge körperlicher Anstrengung bebte. »Ich war gezwungen, mit dem Postillon zu fahren, und weil der Mensch während des Sommers meist den Holzfahrweg benutzt hat, so ist er einfältig genug, auch in dieser entsetzlichen Nacht in den engen, bodenlosen Schacht einzubiegen. Der Sturm hat uns wiederholt die Laternenflammen ausgeblasen, und mein Wagen steht da drüben wie eingemauert. Ist nicht jemand da, der bei den Pferden bleiben möchte, bis der Postillon Vorspann geholt hat, und können wir einstweilen hier eintreten?«

Jutta trat rasch in den Bereich der Tür. Sie hielt die Hand schützend vor das flackernde Kerzenlicht; dadurch wurde der Strahl desselben doppelt kräftig auf das Gesicht und die Büste des jungen Mädchens geworfen, und wie sie so dastand, den blumengeschmückten Lockenkopf mit dem Ausdruck lächelnder Spannung vorgeneigt, während der Flammenschein des Kamins hinter ihr aufzuckte und die Bilder und Hirschköpfe als nebelhafte, fremdartige Gestalten von den Wänden herabdämmerten – da mußten wohl die in Sturm und Nacht draußen Stehenden unwillkürlich an eine jener wunderholden Erscheinungen denken, wie sie das Märchen in alten verzauberten Schlössern walten und weben läßt.

Bei Juttas Hervortreten erschien denn auch sofort ein kleines, ungefähr sechsjähriges Mädchen auf der Schwelle und sah mit neugierigem Erstaunen zu der jungen Dame empor; es war so winterlich vermummt, daß nur ein schmales Näschen und ein paar groß und weit aufgeschlagene Augen sichtbar wurden; aber diese Umhüllung erschien in allen Einzelheiten höchst elegant und von kostbarem Stoff. Das Kind trug einen ziemlich umfangreichen Gegenstand auf dem Arme, über den es sorgsam das Mäntelchen hielt... Und jetzt tauchte eine Männergestalt aus dem Dunkel empor – unter der dunkelglänzenden Pelzverbrämung der Mütze leuchtete förmlich die tiefe Blässe eines sehr vornehmen Gesichts. Die Hast, mit der der Herr plötzlich die Stufen heraufsprang, mochte möglicherweise auch dem Gefühl augenblicklicher Überraschung entspringen – dagegen zeigten die Züge bereits wieder eine vollkommene Gelassenheit, als er Jutta gegenüberstand. Er schob das Kind in die Halle und verbeugte sich leicht, mit der ganzen Ungezwungenheit des vollendeten Kavaliers, vor dem jungen Mädchen.

»Drüben im Wagen wartet eine Dame in leicht verzeihlicher Angst und Furcht auf meine Rückkehr«, sagte er mit einem kaum bemerkbaren Lächeln, das aber im Verein mit der überaus wohlklingenden Stimme einen eigentümlichen Zauber gewann. »Haben Sie die Güte, dies Kind einstweilen auf Treu und Glauben in Ihren Schutz zu nehmen, bis ich zurückkommen und mich in aller Form vorstellen kann.«

Statt aller Antwort legte Jutta mit einer anmutigen Bewegung den Arm um die Schultern der Kleinen und führte sie nach dem Wohnzimmer, während der Fremde in Sieverts Begleitung nach dem Fahrweg zurückkehrte.

»Mama, ich bringe einen Gast, ein allerliebstes kleines Mädchen!« rief die junge Dame fröhlich in der Tür – der Eindruck des vorhergegangenen peinlichen Auftrittes schien völlig verlöscht in ihrer Seele. Sie erzählte in raschen Worten das Ereignis im Walde.

»Nun, dann besorge heißen Tee!« sagte Frau von Zweiflingen und richtete sich auf. Ihre abgezehrten Hände streiften ordnend über die Falten des ärmlichen Kleides und betasteten Haar und Haube, ob auch alles in Ordnung sei. Trotz aller inneren Lostrennung von Welt und Leben lag doch noch etwas in ihr, das unbewußt fortlebte und sich in geeigneten Momenten geltend machte: das Festhalten an den äußeren Formen; und wie sie dort saß, den kranken Rücken gewaltsam aufrichtend und die bleichen Hände lässig, aber doch nicht ohne Grazie in dem Schoß gekreuzt, da suchte man freilich nicht das Original jener bestrickenden Mädchenerscheinung über dem Sofa in ihr; allein es ließ sich nicht verkennen, daß diese gebrechliche Gestalt einst in glänzenden Salons ganz an ihrem Platz gewesen sein mußte.

»Komm her und gib mir die Hand, mein Kind!« sagte sie und neigte den Kopf mit dem Ausdruck freundlicher Güte nach der Richtung, wo die kleine Fremde stehen geblieben war.

»Gleich, liebe Frau!« antwortete die Kleine, die bis dahin die hinfällige alte Dame mit einer gewissen Scheu betrachtet hatte; »ich will nur erst Puß vom Arme tun.«

Sie schlug das Mäntelchen zurück – der schneeweiße Kopf einer Angorakatze kam zum Vorschein. Das Tier war bis an die Ohren in eine rotseidene wattierte Decke gewickelt und strebte augenscheinlich nach der goldenen Freiheit. Jutta half die weiche Hülle abwickeln, dann wurde Puß vorsichtig auf den Fußboden niedergelassen. Er reckte und streckte die Glieder, die offenbar unter dem Druck allzu großer Zärtlichkeit und Fürsorge gelitten hatten, machte einen Buckel und stieß ein klägliches Miau aus.

»Pfui, schäme dich, du bettelst, Puß?« schalt das kleine Mädchen vorwurfsvoll, warf aber trotz dieser beschämenden Zurechtweisung des Lieblings einen verlangenden Blick nach dem Milchtopf auf dem Tisch.

»Aha, Puß hat Milchappetit!« lachte Jutta. »Nun, er soll nachher bekommen, aber erst wollen wir dem Kind Kapuze und Mantel abnehmen.«

Sie griff nach der Umhüllung; allein die Kleine trat zurück und schob die Hände weg. »Ich will es selbst tun!« sagte sie mit sehr viel Entschiedenheit im Ton. »Ich leide das auch von Lena nicht – sie tut immer so, als sei ich eine Puppe.«

Damit nahm sie Kapuze und Mantel ab und legte beides auf Juttas Arm. Die Finger der jungen Dame glitten mit sichtbarem Wohlgefallen, aber auch mit einer Art von ehrfurchtsvoller Scheu über die Zobelverbrämung und den köstlichen echten Samt des Mantels – das Geschöpfchen da vor ihr mußte sehr vornehmer Leute Kind sein... Es war ein eigentümliches kleines Wesen. Hoch emporgeschossen, aber sehr schmal in den Schultern und von wahrhaft erschreckender Magerkeit, sah das flache, dünne Körperchen aus, als müsse es schon der Winterstoff des Kleides mittels seiner schweren Falten erdrücken. Das dicke, sehr helle, ja völlig farblose Haar war knabenhaft kurz zugestutzt und an den Schläfen weg einfach hinter das Ohr gestrichen. Diese unkleidsame, nüchterne Frisur verlieh dem fleischlosen Gesichtchen scharf hervortretende Ecken – für den ersten flüchtigen Blick also war die kleine Mädchenerscheinung in ihren Umrissen eine sehr häßliche; allein wer vergäße nicht über einem Paar tiefer, unschuldig blickender Kinderaugen die mangelhaften, eckigen Linien jugendlicher Magerkeit! Und es waren in der Tat sehr schöne, rehbraune Augen, die sich ernst und nachdenklich auf das verfallene Gesicht der alten blinden Frau hefteten, während eine zarte Kinderhand die Finger derselben leise berührte.

»Ah, da bist du ja, meine Kleine!« sagte Frau von Zweiflingen und zog das Händchen näher an sich. »Du hast wohl deinen Puß sehr lieb?«

»O ja, sehr lieb!« bestätigte das Kind. »Die Großmama hat ihn mir geschenkt, und deshalb ist er mir viel lieber als alles, was mir Papa gibt – er bringt mir auch immer nur Puppen, die ich nicht leiden kann.«

»Wie, ein so allerliebstes Spielzeug gefällt dir nicht?«

»Gar nicht – die Puppenaugen sind schrecklich, und das ewige Aus- und Anziehen langweilt mich – ich will nicht sein wie Lena, die mir auch immerfort neue Kleider bringt und mich quält – ich weiß es ganz genau, Lena ist sehr putzsüchtig.«

Frau von Zweiflingen wandte den Kopf mit einem bitteren Lächeln nach der Richtung, wo eben Juttas seidenes Kleid leise knisterte. Sie öffnete die achtlosen Augen weit, als solle und müsse sie in diesem Moment das Gesicht der Tochter sehen, das denn auch unter dem ausdruckslosen Blick der Mutter leicht errötete.

»Nun, da mag dir Puß freilich besser gefallen«, hob die Blinde nach einer kleinen Pause wieder an, »er wechselt seine Toilette niemals.«

Das Kind lächelte und sah dadurch plötzlich unbeschreiblich anziehend aus – die schmalen Wangen rundeten sich, und ein Zug sanfter Lieblichkeit verschonte den kleinen, blassen Mund.

»Oh, er gefällt mir auch besser, weil er sehr vernünftig ist!« sagte sie. »Ich erzähle ihm alle hübschen Geschichten, die ich weiß und mir erdenke, und da liegt er vor mir auf dem Kissen und blinzelt mit den Augen und schnurrt, was er kann – das tut er immer, wenn ihm etwas gefällt... Papa lacht mich immer aus; aber es ist doch wahr – Puß kennt meinen Namen.«

»Ei, das ist ja ein merkwürdiges Tier!... Und wie heißest du denn, meine Kleine?«

»Gisela, wie meine tote Großmutter.«

Es fuhr wie ein gewaltiger Ruck durch die Glieder der Blinden.

»Deine tote Großmutter!« wiederholte sie und bog sich in atemloser Spannung aufhorchend vornüber. »Wer war deine Großmutter?«

»Die Frau Reichsgräfin Völdern«, antwortete das Kind fast feierlich – es hatte offenbar den Namen nie anders als im tiefsten Respekt aussprechen hören.

Frau von Zweiflingen schleuderte jählings die kleine Hand des Kindes, die sie bisher zärtlich in der ihrigen gehalten hatte, weit von sich wie ein giftiges Gewürm.

»Die Gräfin Völdern!« schrie sie auf. »Ha, ha, ha, die Enkelin der Gräfin Völdern unter meinem Dache!... Brennt die Spiritusflamme unter der Teemaschine, Jutta?«

»Ja, Mama«, antwortete das junge Mädchen tief erschrocken – es lag etwas wie Wahnwitz in der Stimme und den Gebärden der alten Frau.

»So lösch sie aus!« befahl sie rauh.

»Aber, Mama –«

»Lösch sie aus, sag' ich dir!« wiederholte die Blinde mit wilder Heftigkeit.

Jutta gehorchte. »Sie brennt nicht mehr«, sagte sie leise.

»Nun trage Salz und Brot hinaus.«

Diesmal folgte die junge Dame dem Geheiß ohne Widerrede.

Die kleine Gisela hatte sich anfänglich verschüchtert in eine Ecke geflüchtet, aber sehr bald wich der bestürzte Ausdruck ihres Gesichtchens dem des Trotzes und des Unwillens. Sie war nicht unartig gewesen, und man hatte sich unterstanden, sie zu strafen. In ihrer kindlichen Unschuld ahnte sie zwar nicht, daß die Befehle der Blinden eine förmliche Kriegserklärung enthielten, sie fühlte nur, daß sie ungebührlich behandelt werde – eine Erfahrung, die sie augenscheinlich zum erstenmal in ihrem jungen Leben machte.

»Du mußt warten, Puß, bis wir nach Arnsberg kommen«, sagte sie und nahm dem Tiere die Milch weg, die Jutta auf den Boden gestellt hatte. Dann griff sie nach Mantel und Kapuze und machte sich reisefertig. Eben war sie im Begriff, die Katze in die Decke zu hüllen, als Jutta wieder eintrat.

»Ich will lieber wieder hinausgehen und Papa bitten, daß ich mit Frau von Herbeck im Wagen bleiben darf!« rief das Kind der Eintretenden entgegen und warf einen trotzigen Blick nach der Blinden; allein diese schien plötzlich gar nicht mehr zu bemerken, was im Zimmer vorging. Noch strammer als zuvor in ihrer Haltung und den Kopf horchend nach der Tür gewendet, die in die Halle führt, saß die Gestalt dort unbeweglich, wie zu Erz erstarrt – desto lebendiger erschien das Gesicht. Vielleicht wäre der Mann, der in diesem Augenblick so fest und sicher durch die Halle schritt und in einem so vornehm gebietenden Ton zu Sievert sprach, doch nicht durch die Tür getreten, hätte er dies Frauenantlitz sehen können, in dessen harten, gespannten Zügen glühender Haß und eine unerbittliche Rachsucht gleichsam lauerten, um urplötzlich hervorzubrechen.

Die Tür wurde geöffnet. Zuerst erschien eine Dame auf der Schwelle, noch trug das volle, hübsche Gesicht die Spuren der Erregung, denn es war völlig blutlos; ebenso zeigte der derangierte Anzug, daß die sehr stattliche Gestalt nicht ungefährdet das Dickicht passiert hatte; allein sie verbeugte sich trotzdem mit einem verbindlichen Lächeln und der ganzen Sicherheit der Weltdame, als hätten ihre Füße nicht einen Moment den ebenen Boden des Salons verlassen.

Jutta begrüßte sie beklommen, mit einem angsterfüllten Blick nach der unheimlich schweigenden Gestalt im Lehnstuhl. Draußen tobte der eisige Schneesturm, aber zwischen den vier engen Turmwänden dünkte es plötzlich dem jungen Mädchen schwül, wie vor der Entladung dräuender Gewitterwolken. Durch die offene Tür sah sie, wie der mitgekommene Herr rasch seinen Mantel abstreifte und ihn Sievert übergab, der mit der Laterne neben ihm stand – nie war ihr das Gesicht des alten Soldaten so feindselig und verbissen erschienen wie jetzt. Trotz ihrer inneren Angst überkam sie ein unbeschreiblicher Ärger – wie konnte der alte Diener in seiner untergeordneten Stellung die Frechheit haben, der gebietenden, vornehmen Männergestalt gegenüber ein so impertinent unhöfliches Gesicht zu zeigen!

Der Herr trat auf die Schwelle. Er ergriff die Hand der kleinen Gisela, die ihm entgegenlief, und ohne zu beachten, daß das Kind einen dringenden Wunsch auf den Lippen hatte, schritt er in das Zimmer, um die verheißene Vorstellung mittels einer nachlässigen, leichten, aber sehr eleganten Bewegung in Szene zu setzen – allein die Blinde hatte sich plötzlich mit einem gewaltsamen Ruck in ihrem Lehnstuhl halb erhoben und streckte ihm abwehrend die Hand entgegen. Dieser durch die Krankheit so furchtbar entstellte Frauenkörper, dem die entfesselte Leidenschaft für Augenblicke den Anschein von Selbständigkeit zurückgab, hatte etwas wahrhaft Gespenstisches.

»Nicht einen Schritt weiter, Baron Fleury!« gebot sie. »Wissen Sie, über wessen Schwelle Sie gegangen sind, und muß ich Ihnen wirklich erst sagen, daß dies Haus keinen Raum für Sie hat?«

Welcher Modulation war diese heisere Stimme immer noch fähig! Die unsägliche Verachtung in den letzten Worten klang förmlich vernichtend. Der Angeredete blieb auch, sichtlich betroffen durch die Erscheinung, einen Augenblick wie angewurzelt stehen, allein dann ließ er die Hand des Kindes los und ging festen Schrittes auf die Kranke zu. Sie war unfähig, länger in der angenommenen Stellung zu verharren, und sank kraftlos zurück; der energische Ausdruck aber blieb sowohl in ihren Zügen als in der gebieterischen Handbewegung, mit der sie nach der Tür zeigte.

»Gehen Sie, gehen Sie!« rief sie heftig. »Sie brauchen ja nur vor die Tür zu treten, um auf höchsteigenem Grund und Boden zu stehen... Die freiherrlich Fleurysche Forstverwaltung würde es jedenfalls als Waldfrevel strafen, wollte ich auch nur über einen Grashalm neben den alten Mauern dieses Hauses verfügen – aber das Dach über meinem Haupte ist noch mein, unbestritten mein, und hier wenigstens habe ich die herzstärkende Genugtuung, Sie hinausweisen zu können!«

Baron Fleury wandte sich mit einer sehr ruhigen Bewegung nach der mitgekommenen Dame um, die sprachlos vor Erstaunen noch an der Tür stand.

»Führen Sie Gisela hinaus, Frau von Herbeck!« sagte er mit vollkommen unbewegter Stimme zu ihr. Diese völlige Gelassenheit erschien wahrhaft imponierend gegenüber der Leidenschaftlichkeit der Blinden. Das war aber auch ein Männerkopf, dem schon die Form es leicht machte, das Gepräge vornehmer Ruhe zu bewahren. Die ziemlich tief über die Augäpfel herabhängenden Lider verschleierten den Blick und machten ihn unergründlich, und die etwas gestreckte, leicht gebogene Nase saß fest, wie gemeißelt in dem Gesicht, das, wenn auch nicht gerade fleischig, doch das Spiel der einzelnen Muskeln nicht scharf hervortreten ließ.

Frau von Herbeck verließ schleunigst das Zimmer. Drüben klaffte Sieverts Tür, ein heller Lichtschein fiel heraus auf die Steinfliesen der Halle; Baron Fleury sah zu seiner Beruhigung, wie die Dame mit dem Kind in die kleine behagliche Stube trat und die Tür hinter sich schloß.

»Wer hat nach mir gefragt, als ich in Nacht und Elend gestoßen worden bin?« fuhr die Kranke in wilder Klage fort, nachdem die Schritte der Hinausgegangenen verhallt waren. »Wissen Sie, was es heißt, Baron Fleury, ein halbes Leben lang mit geschlossenem Mund zu dulden, ein ruhiges Gesicht zu zeigen, während das stolze, heiße Herz tausendfach den Martertod stirbt?... Wissen Sie, was es heißt, wenn eine freche Hand uns ein Kleinod stiehlt, an das sich jede Faser unseres innersten Lebens liebend klammert – wenn das geliebteste Auge sich tödlich kalt von uns abwendet, um glühend und verlangend auf einem tiefverhaßten Gesicht zu ruhen?... Wissen Sie, was es heißt, den ehemals stolzen, festen Geist eines Mannes Schritt für Schritt sinken zu sehen, ihn als Spielball in ehrlosen Händen zu wissen, während er uns für jeden Versuch, ihn zu retten, erbittert mißhandelt wie seinen grimmigsten Feind?... Das alles frage ich freilich vergebens – was weiß Baron Fleury von wahrer Hingebung und Tugend!« unterbrach sie sich selbst mit unsäglicher Bitterkeit und wandte das Gesicht weg von ihm, der bewegungslos neben ihr stand. Er hatte die Arme untergeschlagen und sah wieder auf die Blinde mit der Geduld und Nachsicht, oder auch der Überlegenheit des Stärkeren. Nicht ein Zug seines Gesichtes veränderte sich; die langen Lider lagen tief über den Augen, so daß sich die schwarzen Wimpern wie ein Schatten über die bleichen Wangen breiteten. Eine solche Stirne, wie sie dort unter dem dunkellockigen Haarstreifen leuchtete, so ehern und hoch getragen, hat nur das schuldlose Gewissen oder die vollendete Schurkerei.

»Für eines aber wird Euer Exzellenz das Verständnis nicht fehlen!« fuhr Frau von Zweiflingen mit erhöhter Stimme in unbeschreiblicher Ironie fort. »Wissen Sie, wie es tut, wenn man auf der Sonnenhöhe der Gesellschaft, inmitten von Glanz und Fülle, nach jeder Richtung hin bevorrechtet, gelebt hat und plötzlich zu Armut und Entbehrung verurteilt wird?... Davon weiß das Geschlecht der Fleury ein Lied zu singen... Ha, ha, ha! Frankreich hat stets gemeint, Deutschland müsse nach seiner Pfeife tanzen – deshalb war es ohne Zweifel nur Konsequenz, wenn der geflüchtete Pair von Frankreich, Ihr Herr Vater, schließlich zur Geige griff und Deutschlands Jugend tanzen ließ, um – sein Leben zu fristen!«

Das traf – das war eine wunde Stelle in der erzgepanzerten Brust des Gegners. In die marmorglatte Fläche der Stirne gruben sich zwei tiefe finstere Falten, die verschränkten Arme lösten sich jählings, und wie unwillkürlich hob der Gereizte drohend die Rechte über dem Haupt der Blinden; aber in diesem Augenblick legten sich zwei heiße, weiche Hände beschwörend um seine Linke.

₺70,20
Türler ve etiketler
Yaş sınırı:
0+
Hacim:
500 s.
ISBN:
9783754187548
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

Bu kitabı okuyanlar şunları da okudu