Kitabı oku: «Das Unbehagen im Frieden», sayfa 2
Welche Erkenntnisse lassen sich aus diesem Beispiel ableiten? Führungspersonen, welche meist über eine gewisse Anfälligkeit für Narzissmus verfügen, laufen Gefahr, die Realität verzerrt wahrzunehmen und den Fokus zu sehr auf ihre Machtposition und deren Erhalt zu richten. So lange die Gefolgschaft, seien es Mitarbeiter oder Parteianhänger, davon profitiert, werden negative Attribute verharmlost oder für einen höheren Zweck gerechtfertigt. In einer solchen Kultur, die keine kritischen Stimmen zulässt, sind eine pathologische Entwicklung und daraus erwachsende, negative Konsequenzen nahezu unvermeidlich. Es fehlt ein gesundes, natürliches regulierendes Element.
In diesem Beispiel lassen sich noch eine Reihe weiterer zentraler psychologischer Phänomene identifizieren, die ebenfalls die Hypothese eines Effekts des Wohlstandsübermutes stützen. Das Muster und die Art der Effekte lassen sich ferner in zahlreichen anderen autokratischen Systemen wiederfinden:
• Man will lieber das wahrnehmen, was dem eigenen Denken nicht entgegenläuft, denn es ist angenehmer.
• Man will sich auch nicht geirrt haben.
• Annahme: Es wird schon nicht schlecht ausgehen.
• Es ist schön, einen Helden zu haben, den man bewundern kann.
• Die eigene Gruppe und die Zugehörigkeit dazu fühlt sich wertvoller an mit einer charismatischen Führungsperson.
• Diese Führungsperson jedoch findet mehr Rechtfertigung für ihre Machtposition durch die Kommunikation vermeintlicher Außenfeinde.
Es ist davon auszugehen, dass sich dies auch auf die Angriffs- und Konfliktfreudigkeit eines ganzen menschlichen Kollektivs übertragen lässt. In ökonomisch und politisch sich gut entwickelnden bzw. friedlichen Zeiten steigt der Selbstwert der entsprechenden Kollektivmitglieder (Piff, 2014). Sie sind stolz darauf, was ihr Land erreicht hat; sie werden konservativ, da sie viel zu verlieren haben. Andere Weltsichten, Religionen, Lebensformen, etc. werden dann verstärkt als Frechheit und Angriff auf das eigene Weltbild, die eigene Lebensweise angesehen (siehe Kontrasteffekt; Kahneman, 2010). Je stärker diese Diskrepanz wahrgenommen wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass Konflikte mit anderen Kulturen entstehen. Das außenpolitische Verhalten der USA in den letzten Jahrzehnten lässt sich gut mit dieser Theorie erklären. Zahlreiche Kriege sind erwachsen aus dem Grundverständnis, dass die eigene Kultur anderen Kulturen überlegen ist. Das aktuelle Säbelrasseln mit dem Iran und Nordkorea ist nur ein weiteres Beispiel, dass das Gefühl der eigenen moralischen und kulturellen Überlegenheit internationale Konflikte und Aggression fördern statt dämpfen kann. Dies ist die eine Sichtweise. Die andere ist, dass sich Menschen durch diese Staaten tatsächlich bedroht fühlen. Das ist nachvollziehbar; aber auch das Gefühl der Bedrohung kann bei einem hohen kollektiven Selbstwert stärker sein als bei einem niedrigen kollektiven Selbstwert.
FAZIT: Wirtschaftlich und gesellschaftlich prosperierende Zeiten erhöhen kontinuierlich den individuellen und kollektiven Selbstwert von Personen. Psychologische Studien zeigen, dass gerade ein hoher Selbstwert stärker mit extremen emotionalen Reaktionen wie Aggression verbunden ist als ein niedriger Selbstwert. Personen mit einem hohen Selbstwert fühlen sich überzeugter von der Richtigkeit ihrer eigenen Weltsicht und nehmen deshalb andere Weltsichten als besonders starken Affront wahr. Ein Konflikt ist in solchen Situationen mit erhöhter Wahrscheinlichkeit vorprogrammiert.
Evidenz 2:
Menschen suchen im Risiko einen emotionalen Kick
„Wenn es dem Esel zu wohl wird,
geht er aufs Eis tanzen“
(Sprichwort)
Menschen erleben einen emotionalen Kick, wenn sie erfolgreich riskante Situationen meistern (Zillmann, 1988). Risikoverhalten ist evolutionär in uns angelegt. Es werden verschiedene riskante Handlungsoptionen ausprobiert, um zu lernen, welches der richtige Weg ist. Darüber hinaus gibt erfolgreich überstandenes Risikoverhalten den Menschen einen Neurotransmitter-Kick: So wird zum Beispiel Dopamin ausgeschüttet, genauso wie Adrenalin und Noradrenalin. Jeder Bungee- oder Fallschirmspringer weiß, von welchem Gefühl hier gesprochen wird. Denken Sie an einen Sprung vom 5- oder 10-Meter-Brett im Schwimmbad oder eine andere Situation, in der Sie ein Wagnis eingingen und die Sache gut ausging. So ziemlich jeder Mensch kennt dieses „Kickgefühl“. Die Natur hat uns durch die Evolution so angelegt, dass erfolgreiches riskantes Verhalten emotional belohnt wird.
Viele von uns leben allerdings in Gesellschaften/ sozialen Kontexten, in denen versucht wird, jegliches Risiko auszuschalten (siehe Nullrisiko-Verzerrung; vgl. Kahneman, 2010, Schneider, Streicher, Lermer, Sachs, & Frey, 2017). Dafür sind wir nicht selten bereit, irrational viel zu investieren. Besonders in Situationen mit hoher Unsicherheit streben Menschen danach, Risiken zu eliminieren. Dabei kann es dazu kommen, dass sogar schlechtere Entscheidungen bevorzugt werden, wenn diese ein Risiko vollständig reduzieren (Nullrisiko-Verzerrung). Ein Beispiel (Eller, Streicher & Lermer, 2012): Angenommen, Sie haben ein Unternehmen, und dieses wird durch zwei Insolvenzrisiken bedroht:
Risiko A:
15 Prozent Wahrscheinlichkeit für Insolvenz
Risiko B:
5 Prozent Wahrscheinlichkeit für Insolvenz
Aufgrund mangelnder Ressourcen können Sie sich nur für eine Intervention entscheiden:
Intervention A:
Reduzierung des Risikos A auf 5 Prozent
Intervention B:
Reduzierung des Risikos B auf 0 Prozent
Eine Reihe von Studien hat gezeigt, dass zahlreiche Menschen dazu tendieren, das Nullrisiko zu präferieren (Intervention B), denn damit ist zumindest eines von zwei Risiken sicher eliminiert (Schneider et al., 2017). Dabei wird aber übersehen, dass diese Entscheidung nachteilig ist. Denn Intervention A reduziert das Risiko um 10 Prozentpunkte, während es bei Intervention B nur 5 Prozentpunkte sind.
Wie lässt sich dieses Beispiel nun auf unseren Alltag übertragen? Ein klassisches Beispiel, so könnte man meinen, wäre der Vollkasko-Deutsche. Allerdings, so zeigen aktuelle Studien, scheint es sich hierbei mehr um ein Vorurteil zu handeln, dass Deutsche sich gerne überversichern. Tatsächlich gibt der Durchschnittsbürger der Bundesrepublik mehr für Versicherungen aus als der europäische Durchschnitt, allerdings heute wohl immer öfter für weniger wesentliche Inhalte, wie etwa für das Smartphone anstelle der Haftpflichtversicherung (Dämon, 2014). Eine Überversicherung aber ist ein gutes Beispiel für die Folgen der Nullrisiko-Verzerrung. Allerdings zeigt dies zwei wesentliche Aspekte. Erstens: Unsere Entscheidungen für/gegen Versicherungen sind nicht immer rational, sprich sinnvoll. Zweitens: Es besteht ein grundsätzliches Bedürfnis, den stetig wachsenden Bereich der Unsicherheit zu reduzieren. Wir suchen nach dem Gefühl von Kontrolle und Sicherheit (siehe Taylor & Brown, 1988).
Diese starke gesellschaftliche und menschliche Bestrebung, das Gefühl von Sicherheit herzustellen, führt aus unserer Sicht aber auch dazu, dass der Gegenspieler – das gefühlte Risiko – immer wieder auf schwer vorhersehbare Art und Weise durchbricht. Im Sinne eines tief verankerten menschlichen Grundbedürfnisses muss neben gefühlter Sicherheit eben auch immer wieder das Bedürfnis nach gefühltem Risiko und impliziertem Fortschritt befriedigt werden. Ohne das Gefühl, ein Risiko eingegangen zu sein, haben wir häufig auch das Gefühl, nicht wirklich etwas erreicht zu haben. No risk – no fun! No risk – no gain! So würde es der Investmentbanker und Aktienspekulant sicherlich beschreiben.
In der psychologischen Forschung finden sich verschiedene Theorien, die für diese Annahme sprechen. Hierzu zählt die Theorie der Risikohomöostase, oder auch Risikokompensationstheorie von Wilde (1988). Dieser liegt die Annahme zugrunde, dass jeder Mensch ein subjektives Risikolevel hat, das er bereit ist, einzugehen. Studien konnten zeigen, dass, sobald es zu einem Sicherheitszugewinn kommt – wie etwa durch neue Protektoren beim Skifahren – Menschen dazu tendieren, den Zugewinn zu kompensieren, zum Beispiel durch einen riskanteren Fahrstil (Wilde, 1988; Lermer, Raue & Frey, 2016). Dabei wird unterstellt, dass je sicherer sich die jeweilige Person fühlt, desto riskanter auch ihr Verhalten sein wird: Belege hierzu finden sich in einigen Studien, wie auch in der unter dem Namen Münchener Taxi-Studie bekannt gewordenen Untersuchung. Hier konnte gezeigt werden, dass nach der Einführung des ABS-Systems in einigen Münchener Taxis der Fahrstil derjenigen Fahrer aggressiver wurde, die um die Umrüstung wussten (Biehl, Aschenbrenner & Wurm, 1987; Frey et al., 2016).
Die Annahmen der Risikohomöostase-Theorie lassen sich sehr gut auf aktuelle Entwicklungen beziehen. Denn dieses Modell des Risikoausgleichs bietet einleuchtende Erklärungen für den Effekt des Wohlstandsübermutes; mit anderen Worten: „Wenn ich mich sicher fühle, kann ich auch mehr Risiko eingehen“ – oder – „Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis tanzen“. Ferner legen Forschungsergebnisse nahe, dass es zu diesem Effekt auch kommen kann, wenn andere die Sicherheit erhöhen. Zum Beispiel zeigten sich interessante Ergebnisse hinsichtlich des Überholens von Fahrradfahrern: In einer Studie konnte etwa belegt werden, dass Fahrradfahrer, die einen Helm tragen, von Autofahrern mit geringerem Abstand überholt werden als Fahrradfahrer ohne Helm (Walker, 2007). Dieser Effekt scheint also auch andere betreffend aufzutreten, sprich: „Wenn andere für mehr Sicherheit sorgen, bleibt mehr Spielraum für mich.“
Das Modell der Risikohomöostase lässt sich auch auf die gesamtgesellschaftliche Makroebene anwenden. Einen Konflikt mit anderen Nationen und Kulturen einzugehen, bedeutet eben auch das Risiko, dass dabei etwas schief gehen kann. Wenn man aber dann doch zum Ziel kommt und zum Beispiel die Strafzölle durchgedrückt hat oder die Provokation anderer Nationen nicht zum worst case, sondern zum Einlenken geführt hat, ist man stolz darauf, mit dem Risiko gut umgegangen zu sein. Die amerikanische Außenpolitik der Trump-Administration ist zum Zeitpunkt dieser Bucherscheinung ein sehr gutes Beispiel für diesen angenommenen psychologischen Prozess.
Auf europäischer Ebene ist der Brexit wahrscheinlich das beste Beispiel für ein derartiges hochriskantes gesellschaftliches Großexperiment. Nahezu alle Ökonomen und Gesellschaftswissenschaftler sind davon überzeugt, dass eine positive ökonomische Entwicklung in einer globalisiert-digitalisierten Welt nicht durch Abschottung, sondern Öffnung des eigenen Kollektivs zu erreichen ist. Nichtsdestotrotz hatten mehr als 50 Prozent der wählenden Briten das Gefühl, dass ihnen dieses Experiment eine positive gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung bringen wird – auch wenn es jeglichen wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie den exponentiellen Gesetzen einer globalisiert-digitalisierten Welt klar widerspricht. Menschen haben bei solchen Experimenten ein intuitives Gefühl, dass ihnen dies eine aufregende Zeit bringen wird. Die meisten hoffen, dass der Nervenkitzel den Einsatz und das Risiko wert sein wird – nicht mehr und nicht weniger dürfte risikopsychologisch am Brexit und den aktuellen Verhandlungen dazu dran sein.
FAZIT: Unsere Entscheidungen sind nicht immer rational logisch. Ferner gewichten wir den Nutzen situativ unterschiedlich. Mal ist das Ergebnis für uns zentral, mal ist es einfach die Lust am Spiel mit dem Feuer – je nachdem, wie sicher wir uns fühlen. Die Theorie der Risikohomöostase bietet ein passendes, psychologisches Modell zur Beschreibung eben dieser Verhaltensweise. Dass wir regelmäßig unser Risikolevel anpassen, zeigt bereits das Fahrverhalten eines jeden Autofahrers, wenn sich das Wetter ändert: Bei Schnee oder starkem Regen verlangsamen wir die Geschwindigkeit. Verschwindet das Unwetter, steigt auch die Geschwindigkeit wieder.
Evidenz 3:
Neurokognitive Gewöhnungsprozesse dämpfen die Wahrnehmung von Risiko, Leid und Zerstörung
Sehen wir etwas Neues, fällt uns das besonders auf. Beispielsweise zieht die neue klaffende Lücke zwischen den Häusern aufgrund der Baustelle auf Ihrem Heimweg Ihre Blicke wahrscheinlich geradezu an. Mit der Zeit aber gewöhnt man sich an diesen Anblick: Die Lücke ist nichts Neues mehr und wird dementsprechend immer weniger beachtet. Ähnlich verhält es sich auch mit anderen Reizwahrnehmungen. Selbst bei taktilen Reizen kann es bereits nach wenigen Wiederholungen zu einer gelernten Verhaltensunterdrückung kommen. Als klassisches Beispiel wird hierfür nicht selten die Untersuchung des Neurowissenschaftlers und Nobelpreisträgers Eric Kandel vorgestellt: Kandel zeigte, dass nach wiederholter Berührung der Atemröhre einer Meeresnacktschnecke der Kiemenrückzugsreflex immer schwächer wird und bereits nach 10-15 Wiederholungen ganz ausbleibt. Diesen Prozess zeigen auch Studien zur Aktivität menschlicher Neurone bei neuen vs. vertrauten Reizen. Die Informationsweiterleitung zwischen den Neuronen (Sinneszelle an Motorzelle) ist nicht mehr so stark, wenn wir Menschen uns an etwas gewöhnt haben (man spricht auch von synaptischer Depression: Es gelangen weniger Transmitter von der Präsynapse der Sinneszelle an die Rezeptoren der postsynaptischen Membran der motorischen Nervenzelle, die für die Bewegung zuständig ist). Das gilt auch für Dinge, die für uns einen gewissen Wert haben. Jeder Mensch hat diese Erfahrung bereits gemacht. Ein Beispiel, das viele betreffen mag, ist der Prozess nach dem Kauf eines neuen Autos. Am Anfang sind wir noch stolz auf unser neues Auto. Es riecht so gut, es sieht so toll aus. Lauter neue technische Finessen, die wir jeden Tag aufs Neue ausprobieren können. Aber wie verhält es sich nach ein paar Monaten? Schleichend hat man sich an das neue Design und den schönen, wohlriechenden neuen Innenraum gewöhnt. Dann ist es uns auch mehr und mehr egal, ob sich unsere Fahrgäste vor dem Einsteigen die Schuhe abputzen. In die Waschanlage fahren wir auch immer seltener. Wir haben uns an den neuen Stimulus (neues Auto) nach einer gewissen Zeit gewöhnt. Unsere Nervenzellen (Neuronen) feuern einfach nicht mehr so stark, wenn man an das (mittlerweile nicht mehr) neue Auto denkt, es sieht oder darin fährt.
Könnte ein ähnlicher neurokognitiver Gewöhnungsprozess auch beim Unbehagen im Frieden beteiligt sein? Das würde bedeuten, dass wir uns so sehr an Frieden und die Freiheit von Leid und Schmerz gewöhnt haben, dass sie uns deshalb nicht mehr auffallen. Wir sind dieser Ansicht und finden Belege dafür in verschiedenen sozialwissenschaftlichen und gruppenpsychologischen Forschungen.
Das, wofür über die Jahrhunderte Abermillionen Menschen gestorben sind, in unzähligen Kriegen und anderen Katastrophen – Frieden, Freiheit, Wohlstand, Humanismus – wissen wir nach einiger Zeit nicht mehr zu schätzen. Dass dies im Laufe der Geschichte jedoch auch zeitweise vollkommen anders war, zeigt eindrücklich der Geist der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts, die Zeit der Goldenen Zwanziger. Heute jedoch scheinen wir uns einfach daran gewöhnt zu haben, dass nichts passiert und dass die meisten unserer Grundbedürfnisse befriedigt sind. Und genau das ist das Problem: dass nichts passiert.
Wieso aber könnte die Gewöhnung an Frieden und Wohlstand zu einer höheren Risikobereitschaft führen? Eine Erklärung hierfür findet sich in der Theorie der gelernten Sorglosigkeit von Frey und Schulz-Hardt (1997). Sie erklärt riskantes Verhalten durch Gewöhnungseffekte (Frey et al., 2016). Im Konkreten: Die Theorie beschreibt, wie es zu unangemessenem Verhalten im Sinne steigender Risikobereitschaft kommen kann. Nämlich einfach dadurch, dass wiederholt die Erfahrung gemacht wird, dass befürchtete Konsequenzen riskanten Verhaltens ausbleiben. Im Zentrum dieser Theorie steht die Monopolhypothese: „Alles ist gut und wird auch von selbst gut bleiben“. Das Ausbleiben negativer Konsequenzen kann dazu führen, dass sich die Annahme verfestigt, man hätte alles im Griff. „Damit ist also nichts gravierend Negatives zu befürchten.“ Ein einfaches Beispiel hierzu: Stellen Sie sich vor, Sie fahren jeden Tag mit dem Fahrrad zu Ihrer Arbeit. Die Fahrt fühlt sich sicher an und dann und wann lenken Sie mit nur einer Hand, oder fahren gar ganz freihändig – was vielleicht auch bequemer ist mit der Tasche unter Ihrem Arm. Das scheint wunderbar zu klappen. Nun spricht also auch scheinbar nichts dagegen, eines Tages auch mal ein Eis auf dem Heimweg, freihändig radelnd zu genießen; auch das Handy am Ohr während der freihändigen Fahrt wird vorstellbar. Durch die Gewöhnung wird das Risiko eines Unfalls (weil Sie nicht mehr entsprechend reagieren können) unterschätzt und es kommt zu gelernter Sorglosigkeit. In solchen Situationen tendieren wir dazu, unser Verhalten an das verzerrte Sicherheitsgefühl anzupassen statt an das tatsächliche Risiko in der Situation (Lermer, Streicher, & Frey, 2015). Studienergebnisse legen hierzu Folgendes nahe: Je länger die Erfahrung gemacht wird, dass negative Folgen auf „erfolgreich gemeistertes“ gefährliches Verhalten ausbleiben, desto mehr steigt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass dieses Verhalten auch in der Zukunft gezeigt wird (Otten & van der Pligt, 1992). Die gelernte Sorglosigkeit wird dabei von einem wichtigen Effekt begünstigt: Risiken, denen Menschen regelmäßig begegnen, werden als ungefährlicher eingeschätzt, als jene, denen sie nur gelegentlich ausgesetzt sind (Denscombe, 1993; Frey et al., 2016). Ein Beispiel hierzu findet sich in einer Studie zur Einschätzung des Ansteckungsrisikos mit dem HI-Virus: Hierbei wird die Ansteckungswahrscheinlichkeit mit dem Virus bei einmaligem Geschlechtsverkehr mit einer unbekannten Person größtenteils überschätzt. Bei mehrmaligen sexuellen Kontakten dagegen wird sie eher unterschätzt (Linville et al., 1993).
Der Umgang mit Risiken scheint daher in bedeutender Weise davon abzuhängen, wie Gefahren wahrgenommen werden. Doch die menschliche Wahrnehmung ist relational und findet in Kontrasten statt. Wir sehen etwas, weil es sich von seiner Umwelt unterscheidet. Ebenso nehmen wir vieles auch erst bewusst wahr, wenn es sich vom Selbstverständlichen unterscheidet, sowohl spontan als auch über einen längeren Zeitraum hinweg. Spontan fällt uns zum Beispiel etwas auf, weil es aus dem normalen Hintergrundrauschen heraustritt. Wenn etwa der Fahrer des Wagens neben uns wild hupt und gestikuliert, weil er sich über etwas ärgert (zum Beispiel über einen ihm vermeintlich zu langsam die Straße überquerenden Fußgänger). Etwas, das wir vielleicht nicht einmal mitbekommen haben. Wie auch den Fahrer des Wagens nicht, den wir bis dahin nicht beachtet haben. Erst durch sein Verhalten haben wir auf ihn geachtet – vorher war er für uns quasi gar nicht da. Aber jetzt ist etwas passiert, wir wurden aus unserem Dahinplätschern herausgerissen und haben den Moment wacher erlebt. Die Ruhe vorher war sicherlich angenehmer, aber sie wurde nicht bewusst erlebt. Auch längerfristig bedarf es wohl der Unterscheidung, damit die Qualität eines positiven Zustands geschätzt werden kann. Ein Beispiel hierfür, das wohl ein jeder kennt, ist, wenn ein Schmerz verschwindet. Sie kennen sicherlich die Erleichterung darüber, wenn beispielsweise ein Kopfschmerz nachlässt: „Endlich hat das aufgehört!“ Dieses Gefühl ist bewusst und deutlich intensiver als der gleiche Zustand ohne den vorausgehenden Schmerz. Dass dem so ist, hat natürlich auch seine Vorteile. Schließlich würde unser Gehirn zu viele Ressourcen (Rechenkapazität) verschwenden, würden wir uns jeden Moment über das freuen, was gerade nicht ist, in diesem Fall also: nicht schmerzt. Das ist aus evolutionärer Perspektive nicht sinnvoll. Ein Kontrasterleben jedoch schon. Es kann ein Warnhinweis und Motivator sein, gewisse Umstände zu vermeiden, die zum negativen Zustand geführt haben.
In der klinischen und positiven Psychologie ist dieser Kontrasteffekt ebenfalls durchaus bekannt. Positive Zustände werden intensiver erlebt, wenn sie auf negative folgen. Mit der Zeit aber nimmt die Intensität der Emotion ab. Beispiele hierfür finden sich sowohl für positive wie auch für negative Ereignisse (Lotto vs. Unfall).
FAZIT: Nach mehr als 70 Jahren relativen Friedens und Wohlstands gehen wir immer wieder Risiken ein. Der fast auf der ganzen Welt beobachtbare Rechtsruck ist unserer Meinung nach ein Symptom für die Validität dieser Theorie. Wir gehen wieder Experimente ein, weil wir uns an den jetzigen Zustand von Frieden und Wohlstand gewöhnt haben. Darüber hinaus legt die Theorie der gelernten Sorglosigkeit nahe, dass wir ein überhöhtes Vertrauen in das Ausbleiben negativer Konsequenzen haben. Ferner bekräftigen Studienergebnisse die These, dass wir den Wert des Friedens und Wohlstands nicht mehr so hoch zu schätzen wissen. Das ist für uns eine Erklärung (unter weiteren) für das Phänomen, dass viele Menschen das wählen, was sie aufregend finden und die Konsequenzen nicht angemessen in Betracht ziehen.
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