Kitabı oku: «Die Blickfängerin»

Yazı tipi:


Die Autorin

Eva Schörkhuber, 1982 in St. Pölten geboren. exil-literaturpreis 2012, Theodor-Körner-Preis 2013. Studiert(e), arbeitet(e) und lebt(e) in Oran, Marseille und Wien (als freie Autorin, als Dramaturgin, Lehrbeauftragte, Lektorin und Redakteurin beim textfeld südost) und schreibt an ihrer Dissertation. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, zuletzt: Der Stoff, aus dem (in: literatur exil preise 2012), Textadaptionen für die Bühne, zuletzt: Die Schmerzmacherin (Regie: Alex.Riener, Uraufführung 2012 im Theater Drachengasse). Gemeinsam mit Elena Messner Konzeption und Durchführung der Wiener Soundspaziergänge.

Die Textlicht-Reihe

Textlicht ist junge Literatur in einem handlichen Format, für daheim oder unterwegs – die Bücher der Textlicht-Reihe sind hochwertige und unterhaltsame Literatur, die unter die Haut geht und im Kopf bleibt.

Eva Schörkhuber

Die
Blickfängerin

Erzählung


Und all diese Blicke,

sie treiben sich herum in meinen Gedanken.

Ich, ich möchte sie zusammenfügen

zu Gebilden, die Wache stehen

vor den Toren meiner Welt.

Und die Einlass gewähren

und die sich verschließen

mir

anderen

Inhalt

1. Flüchtige Blicke

0. Ich sehe

I. Flüchtiger Blick 18:28:17 (Flügel)

II. Flüchtiger Blick 22:20:07 (Schlaf)

2. Sleeping Heads

0. ich sehe

I. Sleeping Head 18:24:28 (Flucht)

II. Sleeping Head 07:12:19 (Husten)

III. Sleeping Head 07:05:19 (Falten)

3. Talking Heads

0. Ich sehe

I. Talking Head 16:26:12

II. Talking Head 14:12:16 (BLICKE)

1.

0. Ich sehe

Einige werfen mir einen Blick zu, einige, einige von ihnen, sich ihrer und irgendwo auch meiner gewahr. Sie werfen mir manchmal einen Blick zu, sie, die sich auf den Weg machen den Gang entlang, den kleinen, schmalen, sie, die ihrer Wege gehen über den grauen Linolboden, der immer etwas nach Spülmittel riecht. Was ich nicht sehe. Was ich aber weiß. Die Blicke, die sie mir zuwerfen, ich fange sie immer auf. Flüchtige Blicke. Verstohlene. Herausfordernde. Fragende. Über den Plafond wandernde. Streunende. Von einer Neonlichtzeile zur nächsten stolpernde Blicke. Manchmal wissen sie nicht genau, wohin sie ihren Blick werfen sollen. Und doch löst er sich von ihren Gesichtern und fliegt auf, fliegt an die Decke, an der er sich schließlich entlangtastet. Vorsichtig. Am liebsten sind mir, ich muss es gestehen, die flüchtigen Blicke. Sie haben es sehr eilig, sich von den Gesichtern abzusetzen, aufzufliegen. Die Gesichter haben keine Zeit, ihnen eine bestimmte Absicht mit auf ihren Flug – nein, in ihrem Fall ist es ein Sprung, auf ihren Sprung also zu geben. Diese flüchtigen Blicke, sie sind immer etwas unbestimmt. Zweideutig. Von mir lassen sie sich nicht so einfach, so mir nichts dir nichts ausweisen. Ich verdenke es ihnen nicht. Ich lasse mich gerne hinters Licht führen, von ihnen, den flüchtigen Blicken. Ich registriere sie, ich befrage sie, ich versuche, einen, vielleicht sogar den Grund zu finden, warum sie bei mir gelandet sind. Von ein und demselben Gesicht können unterschiedliche Blicke auffliegen. Einmal unbefangen, einmal mit unverhohlenem Misstrauen. Ich mache mir nichts aus Gesichtern. Die Blicke aber, die merke ich mir, die erkenne ich wieder. So kann es sein, dass ich während meiner langen Tage sehe, wie sich ein und derselbe Blick von verschiedenen Gesichtern löst, damit ich ihn auffangen kann. Je nach Schrittgröße und Gehtempo haben die Blicke in etwa sechs, sieben Schritte Zeit, aufzufliegen. Wenn sie, die sich auf den Weg gemacht haben den Gang entlang, den kleinen, schmalen, wenn sie ihren Weg über den grauen Linolboden, der immer etwas nach Spülmittel riecht, zurückgelegt und den Aufzug erreicht haben, sind sie nicht mehr im Bilde. Sie können mir keinen Blick mehr zuwerfen. Und ich kann ihn nicht mehr auffangen, ihren Blick.

Ich muss gestehen, ich sammle die Blicke, die mir von den einigen, von einigen von ihnen zugeworfen werden. Ich spiele die Bänder noch einmal ab, einmal zeitrafferschnell, einmal zeitlupenlangsam, je nachdem, ob ich an eine Stelle komme, an der mir ein Blick zugeworfen worden ist. Finde ich einen Blick wieder, den ich im Laufe meines langen Tages aufgefangen habe, stoppe ich das Band und fotografiere den Bildschirm. So haben sich während meiner langen Tage, über die Monate und Jahre hinweg, viele, viele Blick-Bilder angesammelt, ein Blick-Archiv, das ich angelegt habe und in größter Ordnung halte. Die Blicke, die mir zugeflogen sind, die ich aufgefangen und festgehalten habe, habe ich nach ihren Absichten einerseits, nach Zeitpunkten andererseits sortiert. Andere Gesichtspunkte sind mir unerheblich erschienen. Die Absichten haben sich durch die Jahre hindurch und mit zunehmender Blick-Menge verfeinert, ja im Grunde immer mehr vereinzelt. Während ich zu Beginn meiner Sammlung über zirka zehn absichtsvolle Kategorien verfügt habe – die suchenden Blicke, die fragenden, die misstrauischen, die unbedarften, die neugierigen, die frechen, die provokanten, die ängstlichen, die panischen – verfüge ich jetzt über zirka zweiundzwanzigtausend – die panisch-suchenden Blicke, die misstrauisch-fragenden, die unbedarft-neugierigen, die neugierig-frechen, die provokant-fragenden, die ängstlichen-und-daher-provokanten, die ängstlichen-und-daher-frech-provokanten und so weiter. Es gibt heute eine nicht zu vernachlässigende Anzahl absichtsvoller Kategorien, denen ich bislang lediglich einen Blick zuordnen konnte, die ich also eigens für einen speziellen Blick entworfen habe. Nur die flüchtigen Blicke, sie sind eine große, undurchschaubare und absichtslose Kategorie für sich, die beinahe die Hälfte meiner Blicke umfasst. Bei den Zeitpunkten bin ich so genau wie möglich, und da ich die einzelnen Zeitpunkte bis auf die Sekunde von den Bändern ablesen kann, sind meine Blicke mit vierzehnstelligen Ziffern versehen – sechs für die exakte Uhrzeit und acht für das Datum, wobei mir die Uhrzeit wesentlich mehr Aufschlüsse über das Verhalten der aufgeflogenen, von mir aufgefangenen und festgehaltenen Blicke erlaubt. Es gibt einige Verhaltensweisen, die offenkundig einer bestimmten Logik folgen, einer Logik, die weniger mit der Tageszeit als mit den Zahlen selbst zu tun zu haben scheint. So befindet sich in meinem Blick-Archiv eine ansehnliche Anzahl der ängstlichen-und-daher-frech-provokanten Blicke, die die sechsstellige Ordnungszahl 07:07:07 tragen, während die ängstlich-zurückhaltenden-aber-eigentlich-neugierigen vorwiegend mit der Zahl 07:08:09 versehen sind.

Ich weiß, dass ich die Blicke, die mir im Laufe meiner langen Tage zufliegen, die mir zugeworfen werden von ihnen, von einigen von ihnen, sich ihrer und meiner irgendwo gewahr, dass ich diese Blicke nicht festhalten, nicht sammeln dürfte. Dass ich dabei ein Recht verletze, das ihnen, solange sie unbescholten, solange sie unverdächtig sind, zusteht, das ihnen ohne Weiteres zugestanden wird, sofern sie einfach wie Herrfrau Ixüpsilon aussehen, sie, deren Blicke ich auffange, festhalte und zuordne. In meinen Augen aber ist keiner von ihnen unverdächtig. Ist es doch meine Aufgabe, sie beim Betreten des Ganges, des kleinen, schmalen, zu beobachten, jede ihrer kleinsten Regungen wahrzunehmen, an ihnen abzulesen, ob sie etwas im Schilde führen, und im Verdachtsfall Alarm zu schlagen. Nun hat es die vielen Jahre, in denen ich meine langen Tage hier, vor dem Bildschirm, schon verbracht habe, keinen Verdachtsfall gegeben. Es hat noch keinen Verdachtsfall gegeben, und ich bin jeden weiteren Tag mehr davon überzeugt, dass es bald, sehr bald so weit sein wird. Dass in nächster Zukunft jener Tag kommen wird, an dem ich den roten Knopf, der schräg über meinem Kopf von der Wand herunterleuchtet, betätigen werde, dass der Sicherheitsmann, durch die Betätigung meines Knopfes aus seiner Kammer gerufen, kommen wird, dass das verdächtige Subjekt gestellt, zur Rede gestellt und hinausbefördert werden wird. Im Übrigen habe ich den Sicherheitsmann noch nie gesehen. Er sitzt in seiner Kammer neben dem Aufzug, am Ende des Ganges, des kleinen, schmalen, und wartet auf meinen Knopfdruck. Was ich nicht sehe. Was ich aber weiß. Einmal von furchtbarer Neugier geplagt, wollte ich den Knopf schon betätigen, ohne tatsächlich gegebenen Anlass, ich wollte diesen Fehlalarm auslösen, um endlich, endlich den Sicherheitsmann zu Gesicht zu bekommen, ihn, mit dem ich meine langen Tage hier verbringe, ohne ihn zu sehen. Was mich schrecklich quält. An diesem Tag, an dem ich mich per Knopfdruck von meiner furchtbaren Neugier erlösen wollte, an diesem Tag hat mich ein flüchtiger Blick daran gehindert, davor bewahrt, den roten Knopf auf unlautere Art und Weise zu betätigen. Der Blick, der mir an diesem Tag zugeworfen wurde, ist in einem besonders bemerkenswerten Moment aufgeflogen. Diejenige, die mir an diesem Tag den allerflüchtigsten Blick zugeworfen hat, diejenige hat sich auf ihrem Weg unbedarft, ja arglos gezeigt; als wäre sie meiner nicht gewahr, ist sie über den Gang, den kleinen, schmalen, gesprungen, Rösselsprünge, die der Schwerkraft so schrittweise sprunghaft zu trotzen versuchen. Im allerletzten Moment erst, kurz bevor sie den Aufzug erreicht und sich also aus meinem Bild gestohlen hätte, hat sich zu meiner größten Überraschung von ihrem Gesicht dieser Blick gelöst, ist dieser Blick aufgeflogen und mir, mir zugeflogen. Darüber, über ihn, diesen außerordentlich flüchtigen Blick, habe ich mein Vorhaben, den Knopf ohne tatsächlich gegebenen Anlass zu betätigen, vergessen. Üblicherweise zeigen diejenigen von ihnen, die sich auf den Weg machen den Gang entlang, den kleinen, schmalen, die ihrer Wege gehen über den grauen Linolboden, der immer etwas nach Spülmittel riecht, üblicherweise zeigen diejenigen die auffälligsten, die augenscheinlichsten Regungen, die sich völlig unbeobachtet wähnen, die meiner in keiner Weise gewahr sind. Jenen, die derart arglos ihrer Wege gehen und mir also keine Blicke zuwerfen, ihnen sehe ich dabei zu, wie sie sich den Kopf kratzen, wie sie in der Nase bohren, wie sie ein Taschentuch aus ihrer Manteltasche nesteln, wie sie eine Kaugummiblase fabrizieren und den durchgekauten Kaugummi dann auf den Linolboden spucken, ich sehe ihnen bei ihren kleinen, ihren nebensächlichen Verrichtungen zu und weiß, dass von ihren Gesichtern kein Blick auffliegen wird, den ich festhalten, den ich in mein Archiv aufnehmen kann.

Alle, die in meinem Bilde sind, alle glauben, ihren Weg zu gehen, ihrer Wege zu gehen über den grauen Linolboden, der immer etwas nach Spülmittel riecht. Tatsächlich aber gehen sie, sie alle, nur einen Gang entlang, einen kleinen, schmalen, um zum Aufzug zu gelangen, der sie in eine untere oder eine obere Etage bringt. Ob sie nun auf dem Weg in eine untere oder in eine obere Etage sind, in jedem Fall erwartet sie ein weiterer Gang, den sie auf einem anderen grauen Linolboden, der wahrscheinlich immer etwas nach Spülmittel riecht, fortsetzen werden, der sie früher oder später an eine Tür führen wird, hinter der sich ein telefonierender Empfangsherr oder eine telefonierende Empfangsdame befindet, die sie warten lässt, bis sie ihr Anliegen vorbringen, ihr Anliegen zur Sprache, zu einer Sprache bringen können, die einmal Gehör findet, das andere Mal nicht. Alle, die sich zum ersten Mal auf den Weg machen den Gang entlang, den kleinen, schmalen, sie alle wissen nicht, dass sie nicht ihrer Wege gehen, dass sie vielmehr dabei sind, einen Amtsweg zu beschreiten, der sie an kein Ende führen wird. Früher nicht. Später nicht. Dass sie einige Male diesen Gang, den kleinen, schmalen entlanggehen müssen, um zum ersten Mal vorgelassen zu werden, von dem Empfangsherren oder der Empfangsdame vorgelassen zur Sachbearbeiterin, zum Sachbearbeiter. Dass sie, einmal vorgelassen, aufgefordert werden, wiederzukommen, ein anderes Mal wiederzukommen, in ein anderes Büro, um ihr Anliegen einer anderen Empfangsdame oder einem anderen Empfangsherren vorzutragen. Gleichgültig, wie oft sie diesen Gang schon gemacht, ihn schon entlanggegangen sind, ihn, den kleinen, schmalen, sie alle halten daran fest, ihrer eigenen Wege zu gehen. Sie können nicht anderes, als daran zu glauben. Sie. Alle. Und ich, ich kann nicht anders, als die Blicke aufzufangen, die Blicke der einigen, die Blicke, die einige von ihnen mir zuwerfen, festzuhalten, einzuordnen. Ich kann nicht anders. Ich muss die Gelegenheit, Blicke aufzufangen, sie festzuhalten, immer wieder beim Schopf packen, diese Gelegenheit, die mir gegeben, so glücklich gegeben ist durch diese Stelle, diese Anstellung vor dem Bildschirm. An anderer Stelle würde mir kein einziger Blick zugeworfen werden, kein einziger Blick zufliegen, mir mit dem Knoten im Nacken und dem Stoffsegel am Kopf. Außerhalb meiner Koje, in der es immer dunkel ist, um das Bild auf dem Schirm gut sehen zu können, außerhalb dieser Koje bin ich unsichtbar, für die meisten so gut wie unsichtbar. Auf der Straße treffen mich Blicke stets wie Streifschüsse, zufällig, unbeabsichtigt, und wenn mir tatsächlich einmal einer zukommt, ein Blick, was sehr selten ist, wenn mir tatsächlich einmal einer zukommt, dann wird er mir nicht zugeworfen, dann fliegt er mir nicht zu, sondern: Er pirscht sich heran, dieser Blick, er schleicht unentschlossen um mich herum, um sich dann plötzlich auf mich zu werfen, um sich mir überzustülpen wie ein Schneckenmaul. Er hängt dann, er klebt dann an mir, dieser Blick, und saugt sich fest. Mitleidig. Vorwurfsvoll. Verächtlich. Im Grunde bin ich froh darüber, dass ich für die meisten auf der Straße so gut wie unsichtbar bin. Dass sie mich übersehen, die meisten. Dass sie davon absehen, ihren Blick auf die Pirsch zu schicken, mir ihren Blick überzustülpen. Ich brauche sie nicht, diese Blicke. Ich habe ja die anderen, die anderen Blicke, die mir zugeworfen werden, die mir zufliegen, wenn ich in meiner dunklen Koje sitze vor dem Bildschirm, die Blicke, die ich auffange von den einigen, von einigen von ihnen, die sich auf den Weg machen den Gang entlang, den kleinen, schmalen, die ihrer Wege gehen über den grauen Linolboden, der immer etwas nach Spülmittel riecht. Auch deshalb halte ich diese Blicke fest, auch deshalb sammle ich sie, ordne sie ein, ordne sie zu. So verschaffe ich mir einen, ja meinen Überblick über die Welt, die mir außerhalb meiner Koje so gut wie nichts zu sagen hat. Das, was ich sehe von der Welt, von dieser Welt, das sehe ich durch sie, meine gesammelten, meine archivierten Blicke. Durch sie, die aufgefangenen, die festgehaltenen und eingeordneten Blicke, komme ich zur Welt.

I. Flüchtiger Blick 18:28:17 (Flügel)

Filmstill, vermutlich von einem Überwachungsband, auf jeden Fall von einem Bildschirm abfotografiert: Lichtreflexe und eine Spiegelung – Finger, die sich um ein Kameragehäuse krümmen. Das Filmbild schwarzweiß, etwas körnig. Die Aufnahme in Farbe. Am rechten unteren Rand des Bildschirms das Datum und die Uhrzeit auf die Sekunde genau, neongrün. Auf dem Bildschirm ein Mann mittleren Alters. Im Anzug. Setzt gerade den rechten Fuß eine Schrittlänge vor dem linken auf. In den Händen eine Zeitung, auseinandergefaltet. Den Kopf leicht nach vorn geneigt, der Zeitung zu. Die Stirnfalten nach oben gewölbt. Die Augenbrauen nach oben gezogen. Die Augen nach oben gerichtet.

Eines der schönsten Stücke aus meinem Blick-Archiv, das ich im Laufe der Jahre, die ich vor dem Bildschirm in meiner Koje verbracht und damit zugebracht habe, die Blicke der einigen, einiger von ihnen, aufzufangen und festzuhalten, angelegt, erstellt habe, eines der schönsten Stücke daraus ist der Flüchtige Blick 18:28:17. Er ist eines Tages aufgeflogen aus einem Gesicht, das sich, in eine Zeitung vertieft, auf den Weg gemacht hat den Gang entlang, den kleinen, schmalen, er hat es so eilig gehabt, sich von diesem schlagzeilenverhangenen Gesicht abzusetzen, dass er sich beinahe verhaspelt, beinahe seinen Sprung, seinen Absprung versäumt hätte. Und doch hat er es geschafft, aufzufliegen, so schnell, so eilig, dass nicht im Entferntesten eine bestimmte Absicht auszumachen gewesen ist. Er, einer der flüchtigsten und daher wundervollsten Blicke, die ich aufgefangen habe, er hat mich tagelang beschäftigt. Tagelang habe ich nach guten Gründen gesucht, die ihn veranlasst haben könnten, derart unvermittelt, in derartiger Eile aus dem Zeitung lesenden Gesicht aufzufahren und mir zuzufliegen. Ein schwieriger, ein anspruchsvoller Fall. Nachdem ich mich mehrere Tage lang mit diesem oder jenem Beweggrund getragen, den einen nach dem anderen verworfen habe, habe ich beschlossen, mir die Ausgabe der Zeitung zu besorgen, in die das Gesicht, von dem mein Blick sich abgesetzt hat, vertieft gewesen ist. Vielleicht hat eine der Schlagzeilen meinem Blick als Sprungbrett, als guter Grund für seinen wundervollen Absprung gedient. Ein Leichtes, anhand des Bildschirm-Fotos den Namen der Zeitung festzustellen, eine Tageszeitung mittleren, für hiesige Verhältnisse allerdings größeren Formats. Auf der Titelseite dieses eigenartige Bild. Zelte und Bänke, die von Baggern weggeschaufelt werden. Ich lese, dass ein sogenanntes Protest-Camp geräumt wurde, dass sich einige protestierende Asylwerber in eine Kirche zurückgezogen haben, hungerstreikend. Ich folge dieser Geschichte ins Innere der Zeitung. Innenpolitik. Mit einem Protestmarsch habe das angefangen, einem Protestmarsch von einem Sammel-, einem Auffanglager für Flüchtlinge in die Innenstadt. Dann die Zeltstadt, das Camp in dem Park zwischen Universität und Kirche. Um in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, um eine, um die Öffentlichkeit aufmerksam zu machen. Auf. Auf die geltende, die herrschende Gesetzeslage. Auf die Ungerechtigkeit dieser Gesetzeslage. Das Camp, die Zeltstadt schließlich geräumt. Von der Polizei. An die vierzig Asylwerber nun in der Kirche. Im Hungerstreik. An die vierzig Asylwerber, aus Pakistan, aus Afghanistan, aus dem Maghreb, in Klammer Tunesien, Algerien. An dieser Stelle macht mein Herz einen kleinen Sprung, so klein, dass ich erst beim nächsten Atemzug merke, dass sich etwas in mir geregt, dass etwas in mir in Bewegung geraten ist. Einen Augenblick lang erinnere ich mich. Und schließe sofort wieder die Augen. Es ist nicht der Zeitpunkt, daran zu denken, zurückzudenken, diesem nach zu denken. Ich habe Wichtigeres zu tun, ich habe einen Fall zu lösen, den Beweggründen nachzugehen, die meinen Flüchtigen Blick Nummer 18:28:17 veranlasst haben, sich von dem schlagzeilenverhangenen Gesicht zu lösen, aufzufliegen. Ich bin mir nun ziemlich sicher, dass sich das Gesicht in eben diesen Artikel über die geräumte Zeltstadt und den Einzug in die Kirche vertieft hat, dass mein schönster Flüchtiger Blick aus diesen Zeilen aufgefahren ist zu mir. Am Ende des Artikels finde ich den Satz über die geplante Kundgebung, die sogenannte Solidaritätskundgebung, und ich stelle mir vor, dass gerade diese Ankündigung meinem Blick als Sprungbrett für sein Manöver gedient haben wird.

Selbstverständlich habe ich dem Beweggrund meines Flüchtigen Blickes 18:28:17 nachgehen wollen, aber so weit war ich bis dahin noch nie gegangen bei meinen Nachforschungen. So weit, das heißt aus meiner dunklen Koje hinaus, über die Straße, über die Brücke, die andere Seite des Kanals entlang, auf der Fußgängerseite die Allee hinauf zur Kirche, zur Kundgebung. Während des langen Tages, an dem ich kaum Blicke aufgefangen habe, vielleicht zwei, drei Blicke von ihnen, die sich auf den Weg gemacht haben den Gang entlang, den kleinen, schmalen, die ihrer Wege gegangen sind über den grauen Linolboden, der immer etwas nach Spülmittel riecht, während dieses langen Tages habe ich mich vorbereitet auf meinen Ausflug zur Kirche. Die eine Hälfte des Tages, die frühen Morgen- und Vormittagsstunden, habe ich damit verbracht, mir zu überlegen, welche Ausrüstung ich für dieses Vorhaben benötigen werde. In der zweiten Hälfte des Tages, der Mittagszeit und den Nachmittagsstunden, habe ich mich ausgerüstet, also mit den Dingen versehen, die meinen morgendlichen und vormittäglichen Überlegungen zufolge unabdingbar sind für dieses Unternehmen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich mich vor allem auf die Menschen, mit denen ich zu rechnen habe, vorbereiten muss. Bei einer Kundgebung ist mit einer größeren Anzahl von Menschen zu rechnen, Menschen, die sich versammeln, Menschen, die herumstehen, die schreien, die vielleicht sogar schieben, rempeln, handgreiflich werden. Und diese Menschenmenge hat ein Vorbereiten benötigt, ein Vorsehen, um in ihr, in dieser kundgebenden Menschenmenge nicht unterzugehen. Und nach reiflicher Überlegung ist mir nichts geeigneter erschienen als Schwimmflügel. Sie würden mich vor dem Untergehen einerseits, vor der mich stets zermürbenden Schwerkraft andererseits bewahren. Die Schwimmflügel habe ich in dem Spielzeuggeschäft nebenan besorgt, in der kurzen Mittagspause, die mir zusteht, auch auf die Gefahr hin, dass sich gerade zu dieser Zeit ein verdächtiges Subjekt über den Gang, den kleinen, schmalen, stiehlt. Die orangen Schwimmflügel mit dem dunkelblauen Ventil, die bis zu einem Körpergewicht von 40 Kilogramm tragen, diese habe ich besorgt und in meiner Tasche verstaut. Und meine Fotokamera, die habe ich nach einigem Zögern auch noch eingesteckt. Mein Blick-Archiv … vielleicht ist es an der Zeit, es um neue Ansichten zu erweitern. Außerdem, so habe ich mir gesagt, könnte es sein, dass einige der auf dieser Kundgebung aufgelesenen Blicke meinem Flüchtigen Blick 18:28:17 ähneln und sich also sein Beweggrund empirisch – ich habe tatsächlich gedacht: empirisch – beweisen lässt. Am späten Nachmittag habe ich meine Koje verlassen, ausgerüstet mit den Schwimmflügeln und dem Fotoapparat habe ich mich auf den Weg gemacht, über die Straße, über die Brücke, die andere Seite des Kanals entlang bis zur großen Backsteinkaserne und dann die Allee hinauf zur Kirche. Kurz bevor ich den Sammelplatz erreicht, die kundgebende Menschenmenge zu Gesicht bekommen habe, habe ich meine Schwimmflügel angelegt. Zur Sicherheit. Um nicht unterzugehen. Ich habe sie mir um die Oberarme gelegt, über den Jackenstoff, und habe sie aufgeblasen. So bin ich in den Park gegangen, schwimmbeflügelt und mit dem Stoffsegel am Kopf. Mit den orangen Schwimmflügeln bin ich außerordentlich aufgefallen, den kundgebenden Menschen geradezu ins Auge gesprungen. Woran ich nicht gedacht habe. Woran ich aber hätte denken müssen. Mir sind die Blicke nur so zugeflogen, und ich, durch keinen Bildschirm geschützt, habe meine Kamera gezückt, mich hinter das Sucherglas zurückgezogen. Unter den Blicken, die ich an diesem Spätnachmittag aufgefangen und festgehalten habe, auf dem Weg in und durch den Park, unter ihnen befindet sich kein einziger flüchtiger Blick. Für sie alle habe ich neue Kategorien anlegen müssen in meinem Blick-Archiv, aufmerksam-neugierig, freundlich-interessiert, erstaunt-interessiert-dann-ideenzündend und so weiter. Kein einziger Blick hat Ähnlichkeit mit meinem Flüchtigen Blick 18:28:17, einen empirischen Beweis für einen, vielleicht sogar den Beweggrund meines schönsten Flüchtigen Blicks habe ich also nicht finden können. Aus der kundgebenden Menschenmenge hat sich plötzlich ein Mensch gelöst, ist an mich herangetreten, und ich, erschrocken über diesen Blick, der sich an mich geheftet, sich mir aber nicht übergestülpt hat wie ein Schneckenmaul, ich habe mich sofort hinter den Sucher meiner Fotokamera zurückgezogen, den Blick durch die Linse im Auge behaltend. Dieser Blick, der mich getroffen hat, ist schließlich mit Worten unterlegt worden, ein Blick mit Tonspur sozusagen. Eine großartige Idee sei das, das mit den Schwimmflügeln, so einfach und eindrücklich auf den Punkt gebracht, worum es hier, worum es uns hier ginge. Die vielen, vielen Menschen, die den gefährlichen Weg übers Mittelmeer nach Europa zurücklegen, an der Festung Europa abprallen und untergehen, sowohl physisch, also im buchstäblichen Sinn, als auch metaphysisch, also im übertragenen Sinn, die Schwerfälligkeit, die Trägheit der furchtbaren Asylgesetzgebung, die die Menschen stranden lasse, am Boden bestehender menschenverachtender Verhältnisse festhalte. Ich muss gestehen, ich habe so gut wie gar nichts verstanden von dem, was mir dieser Mensch mit dem auf mich konzentrierten, mich aber nicht verschlingenden Blick offenbar hat sagen wollen. Kaum ein Wort. Nur, dass ihm die Schwimmflügel gefallen, dass sie ihm irgendetwas bedeutet haben. Vertieft in diese Betrachtungen habe ich mich von der Kundgebung entfernt, meine Schwimmflügel abgenommen und die Luft ausgelassen.

In der darauffolgenden Woche habe ich mich viel mit den Blicken der kundgebenden Menschen beschäftigt, so sehr, dass ich es verabsäumt habe, den einen oder anderen Blick aufzufangen von den einigen, von einigen von ihnen, die sich auf den Weg machen den Gang entlang, den kleinen, schmalen, die ihrer Wege gehen über den grauen Linolboden, der immer etwas nach Spülmittel riecht. Ich bereue es nicht, den einen oder anderen Blick, der mir in dieser Zeit zugeworfen worden ist, übersehen zu haben. Dieser intensiven Beschäftigung mit den in der kundgebenden Menge festgehaltenen Blicken verdanke ich, dass ich mein Blick-Archiv um eine äußerst wichtige Komponente habe erweitern können. In dieser Woche habe ich beschlossen, Filme zu machen, um die Abfolge und die Bewegung der Blicke besser studieren zu können. Im Übrigen hat sich diese neue Komponente als äußerst hilfreich erwiesen für mein Studium der Beweggründe meiner Flüchtigen Blicke. Nachdem ich also beschlossen habe, es mit Filmaufnahmen zu versuchen, nachdem ich also festgestellt habe, dass sich mit meinem Fotoapparat auch kurze Filmaufnahmen machen lassen, bin ich wieder zu einer Kundgebung in diesen Park vor der Kirche gegangen. Wieder mit den Schwimmflügeln und der Kamera ausgerüstet habe ich mich von meiner dunklen Koje aus auf den Weg gemacht, über die Straße, über die Brücke, die andere Seite des Kanals entlang bis zur großen Backsteinkaserne, dann die Allee hinauf. Und wie überrascht ich gewesen bin, als ich mich dieses Mal der kundgebenden Menschenmenge genähert habe, dieses Mal bereits mit gezückter Kamera und also bereit, den mir zufliegenden Blicken hinter dem Sucherglas zu begegnen. Vor mir ist dieses Mal eine beflügelte Menge gestanden, eine Menge schwimmbeflügelter Menschen. Ich bin so erschrocken darüber, dass ich sofort kehrtgemacht und mich in die Kirche zurückgezogen habe, aus einem, wie mir heute scheint, filmreifen Instinkt heraus.

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