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Kitabı oku: «Jenny», sayfa 5

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* * *

Komm her, mein Sohn, rief ihm der Vater entgegen, setze Dich zu uns und erzähle, wo Du so lange geblieben bist.

Eduard gab den Bescheid, er hätte Fräulein Horn noch besucht. Jenny erkundigte sich nach ihrem Ergehen, er sagte, daß die Genesung nur langsam vorwärts schreite, und daß die Kranke viel Schmerzen ertragen müsse. Da könntest Du Geduld und Ruhe lernen, Jenny, schloß er seine Rede.

Es scheint, als ob Clara überhaupt eine gute Lehrerin ist, antwortete jene schnippisch, denn es ist nicht zu leugnen, daß sie Dir auch manche Begriffe beigebracht hat, die Dir früher nicht geläufig waren. Ich sagte es noch gestern zur Mutter, das ewige Politisiren hast Du Dir ziemlich abgewöhnt, dafür bist Du aber so zerstreut und träumerisch geworden, daß Du gar nicht hörst, wenn man mit Dir spricht. Entweder macht Dir Deine Patientin solche Sorgen oder Du langweilst Dich bei uns zu Hause.

Eduard hörte das gelassen an, und seine Mutter meinte: Etwas selten bist Du wirklich in der letzten Zeit zu Hause geworden, und verändert finde ich Dich auch, mein Sohn! Kannst Du uns sagen, woher das kommt, so wirst Du mich beruhigen.

Was Ihr für närrische Frauen seid! rief der Vater lächelnd. Ist denn das Leben nicht täglich neu, die Natur nicht täglich verändert, und Eduard sollte unwandelbar die gleiche Stimmung haben? Könnt Ihr wissen, was in seinem Berufe sich für neue Verhältnisse seinem Geiste aufdrängen, und wie klein und beschränkt ihm Eure Interessen gegen die seinigen oft erscheinen mögen? Da kommt Ihr mit Euren Haus-und Familiengeschichten und wundert Euch, wenn man nicht mit Antheil danach hört, und nennt das kalt, nennt es zerstreut. Eduard hat, wenn er einst selber Hausherr sein wird, die Kunst zu lernen, mit dem Ohr zuzuhören, ohne daß das Gehörte bis in den Kopf dringt, das lernt sich aber mit den Jahren.

Wollte Gott! sagte die Mutter, augenblicklich zugreifend, wo ihr eine Handhabe für ihr Lieblingsthema dargeboten ward; wollte Gott, Eduard wäre erst so weit. Ungebunden, wie er jetzt ist, läßt er sich in Dinge ein, die ihn nicht kümmern; er nimmt, wie man so sagt, kein Blatt vor den Mund, er äußert politische Ansichten und Hoffnungen, die unnöthig die Augen der Regierung auf ihn gerichtet erhalten, und wenn man ihn warnt, heißt es ein für allemal: Was thut’s! ich bin ja unabhängig, ich bin ungebunden!

Das heißt, erläuterte der Vater, Du möchtest unserm Sohne mit dem süßen Rosenband der Ehe zugleich eine tüchtige Kette anlegen, eine möglichst kurze, damit er nicht zu große Sprünge machen könne. Die Mutter macht’s wie Julia in Shakespeare, »so liebevoll mißgönnt sie ihm die Freiheit.«

Freundlich nahm der Sohn die Hand der Mutter und sagte: Und doch waren heute meine Gedanken mehr mit häuslichen Verhältnissen, als mit allgemeinen Interessen beschäftigt. Ich hatte Gelegenheit, einen Blick in das innere Leben einer Familie zu werfen, in der ein vortreffliches Herz unter dem Druck der widerwärtigsten Verhältnisse blutet, und ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, als ich hier eintrat, und mir so wohl und behaglich wurde in unserm Hause, wie glücklich jene Arme in einem Kreise, wie der unsere, sein würde!

Und wer ist die Arme mit dem schönen Herzen? fragte Jenny schnell.

Ein Mädchen, das solche indiscrete Fragen niemals machen würde, antwortete Eduard sehr bestimmt. Dann meinte er: In den Jahren, die ich hier prakticire, ist es mir aufgefallen, wie die glücklichen Ehen, die Sorgfalt der Eltern für ihre Kinder bei den Juden gewöhnlicher sind, als in den Christenfamilien. Auch steht die Zahl der Scheidungen, wie mir ein Jurist sagte, bei den beiden Confessionen in gar keinem Verhältniß, da eine Scheidung der Ehe unter Juden zu den großen Seltenheiten zählt.

Das ist allerdings merkwürdig, meinte Jenny, denn bei den Juden ist die Heirath doch oft nur eine Familienverabredung, von der Braut und Bräutigam zuletzt erfahren.

Das ist nicht nur bei den Juden, sondern überhaupt sehr oft der Fall, entgegnete der Vater, und die Welt sieht in der Wirklichkeit nicht ganz so romantisch aus, wie in Deinem siebzehnjährigen Köpfchen. Was aber das Glück der Ehen bei den Juden betrifft, so verdanken sie das, sowie manches andere Gute, dem Drucke, unter dem sie Jahrhunderte gelebt haben. Der Mann, dem die freie Bewegung in’s Leben hinein überall verwehrt war, der nichts sein eigen nennen durfte, nicht Haus, nicht Hof, dem man das mühsam erworbene Gut unter immer neuen Vorwänden gewaltsam zu entreißen wußte — dem blieb nichts, als sein Weib und seine Kinder. Sie waren das Einzige, das ihm nicht leicht zu rauben war, sie blieben sein, auch getrennt von ihm, sein durch den Glauben, und nur, indem sie sich von diesem trennten, konnten sie aufhören, sein zu bleiben. Wie natürlich also, wenn dem Juden Weib und Kind seine Welt wurden, und wenn bis heute das Beispiel glücklicher Häuslichkeit segensreich fortwirkt unter ihnen, obgleich die äußern Verhältnisse sich jetzt geändert haben.

Ach! armer Vater, was hast Du denn für eine kleine Welt! sagte Jenny pathetisch, die gerade in der muthwilligsten Laune war. Hast Niemand, als die Mutter und die liebe kleine Jenny! Eine Welt von zwei Welttheilen, während der ärmste Christ fünf Welten hat!

Und Eduard? fragte der Vater.

O! richtig, der Welttheil Eduard sieht jetzt leider so kläglich aus, als ob bald eine neue Sündfluth hereinbrechen sollte. Oder vielmehr, er sieht aus, als ob er statt des Herzens einen Vulkan hätte, der nächstens losbricht und bald den Untergang des Welttheiles voraussehen läßt. O Vater! Vater! rief sie, und warf sich an dessen Brust, als Eduard sie verwundert und nicht eben freundlich ansah, schütze mich, der Vulkan Eduard fängt an Feuer und Flammen zu sprühen.

Der Vater nahm das anmuthige Kind in seine Arme, und beide Eltern gaben sich dem Behagen dieses engen Beisammenseins mit vollem Herzen hin. Nur Eduard blieb zerstreut und einsilbig, und entfernte sich, unter einem flüchtigen Vorwande, früher, als er’s sonst zu thun pflegte.

Joseph’s Brummen wird ansteckend, bemerkte Jenny scherzend, als er fort war; die Mutter aber schüttelte ängstlich den Kopf und sagte seufzend: Vater! was geht mit Eduard vor? Mich macht es unruhig um seinetwillen.

Mich nicht, antwortete der alte Meier. Eduard ist ein Mann; was es auch sei, laßt ihn gewähren, er wird den rechten Weg zu finden wissen.

* * *

Als Eduard die Eltern verlassen hatte, und in seine besondere Wohnung kam, fand er keine Ruhe in seinem Zimmer. Die engen Räume drückten ihn, er öffnete ein Fenster, und obgleich der Schnee in großen Flocken hineindrang, wurde ihm wohler und freier, als die Luft seine heiße Stirne wieder kühlte.

Das Haus seiner Eltern lag nahe am Hafen, ein Garten führte terrassenartig zum Flusse hinunter, der gerade hier in das Meer mündete. Eine Unruhe, wie er sie nie empfunden, trieb ihn hinaus und, in den Mantel gehüllt, eilte er durch die beschneiten Gänge des Gartens. Hin und wieder fielen noch einzelne, übrig gebliebene Blätter mit den Schneeflocken zur Erde: der Sturm jagte die Wolken vor sich hin und hemmte Eduard im Vorwärtsschreiten. Er war ganz allein auf dem Wege, und nun erst merkte er, daß er das Zimmer verlassen hatte, nicht achtend des Sturmes, der ihn umbrauste, nicht der tiefen Dunkelheit um ihn her, denn stürmischer noch und dunkler sah es in seiner Seele aus.

Wie hatte er sich absichtlich so über seine Gefühle täuschen, wie diese Liebe verkennen mögen? Jetzt, da er mit klarem Blicke zurückdachte, fühlte er fast mit einer Art Beschämung, daß er in Clara von den ersten Augenblicken, da er zu ihr gerufen wurde, nicht nur die Leidende, die Kranke, sondern immer das schöne Weib gesehen hatte. Ihre Liebenswürdigkeit, ihr ruhiger Verstand waren ihm von Tag zu Tag anziehender geworden, und er konnte es sich nicht verbergen, daß Clara für ihn das Ideal eines Mädchens sei.

So hatte er sich seine Geliebte gedacht, so seine künftige Frau gewünscht, und sollte er sich nicht auf dem Gipfel des Glückes wähnen, da Clara ihn liebte? Er konnte nicht daran zweifeln. Jeder Blick, jedes Wort des schönen Mädchens verriethen ihm, ihr selbst unbewußt, eine Neigung, die bei diesem tiefen Gemüthe stark und dauernd werden mußte. Alle seine Pulse schlugen warm bei der Ueberzeugung, Gegenliebe gefunden zu haben, wo sein Herz sie so sehnlich begehrte. Er hatte einen Augenblick hindurch ein Gefühl jenes Glückes, das den Menschen für jahrelanges Entbehren schadlos hält; dann aber zuckte sein Herz kalt und krampfhaft zusammen unter der rauhen Berührung der Wirklichkeit. Er hatte sich es ausgemalt, wie Clara, seine Liebe erwidernd, mit ihm vor seinen Eltern erscheinen würde, um diesen Bund segnen zu lassen — aber war das möglich?

Thor! rief er aus, kindischer Thor! wohin hast Du Dich verirrt! Und er stand still und sah hinab in die schäumenden Wellen, die so unruhig wogten, wie sein gequältes Herz. Da brach der Mond durch die dunkeln Wolken, und glänzte einen Augenblick in dem Wellengekräusel wieder, das sich vor den milden Strahlen zu beruhigen und zu ordnen schien; und der Mond dünkte ihm ein klares, lichtes, unerforschliches Auge zu sein, das auf das wilde Meer seines Lebens besänftigend herniederschaute. Das Herz that ihm unbeschreiblich weh, die Thränen traten ihm in die Augen. Gott! Gott! rief es in ihm, warum mußte ich in Verhältnissen geboren werden, die mir bei jedem Schritte hemmend entgegentreten? Warum muß ich von Allem, was meine Seele am glühendsten begehrt, geschieden sein? Warum mir dies Leben des Kämpfens und Entbehrens?

Vor ihm lagen die Schiffe in lautloser Stille, die Wachen gingen, um sich zu erwärmen, mit großen Schritten auf dem Deck umher; hier und dort schimmerte ein Licht aus den kleinen Fenstern der Kajüten. Er fühlte die Nähe von Menschen, er sah, daß auch sie ein schweres, saures Tagewerk zu erfüllen bestimmt waren, und doch beneidete er ihr Geschick und ihren ruhigen Schlummer. Mochte der Schiffer noch so lange von der Heimath getrennt sein, einst kehrt er doch zurück in ein Land, dessen Bürger, dessen eingeborner Sohn er ist, das ihn schützt in allen seinen Rechten; und die Gattin, die er unter allen Mädchen frei erwählte, sinkt an seine Brust, ohne daß der Glaube, wie ein drohendes Gespenst, zwischen sie tritt und mit kalter Hand die warmen Herzen trennt. Was bot das Leben ihm? Kränkungen waren ihm geworden, seit er zum ersten Bewußtsein erwacht war; weder Mühe noch Fleiß war ihm vergolten worden, wie er es gewünscht hatte und zu hoffen berechtigt war. Nun hatte sein herz sich dem hemmenden Einflusse allmälig entzogen, es war neu belebt und erblüht in dem erwärmenden Hauch einer edlen Liebe, er hatte die Gefährtin gefunden, an deren Seite er den Lebensgang zu gehen begehrte — und wieder trat das alte Schreckbild zwischen ihn und sein Glück. — Aber war dies Schreckbild nicht zu bannen? Warum sollte er nicht, wie tausend Andere, einem Glauben entsagen, dessen Form allein ihn von der übrigen Menschheit trennte? Was band ihn an Moses und seine Gesetze? Es sträubte sich bei diesen ebenso viel gegen seine Vernunft, als bei den Lehren Jesu. Warum nicht einen Aberglauben gegen den andern vertauschen, und mit der Geliebten vereint zu dem allmächtigen Wesen beten und rein vor seinen Augen wandeln? — Aber war es denn allein der Glaube, den er zu verleugnen hatte? War es nicht auch das Volk, in dem er geboren war, von dem er sich losreißen mußte? Das uralte Volk, das in tausendjährigen Kämpfen seine Selbstständigkeit zu wahren und damit seine innere Mächtigkeit zu bekunden gewußt hat? — Kann man sich losreißen von seinem Volke? fragte er sich, darf ich um meiner Selbstbefriedigung willen mich von meinem Volke trennen, weil es ungerecht mißachtet, weil es unterdrückt wird? — Nimmermehr! — Unzählige meiner Stammesgenossen haben ausgeharrt in Treue, haben Verbannung und Tod erlitten um ihres Glaubens und ihres Volkes willen, und ich wäre feig genug, auf meines Herzens Wünsche nicht verzichten zu können, während die Meinen leben und mich lieben, während es mir gegeben und geboten ist, so viel ich vermag, für die unterdrückte Nation zu wirken, der ich angehöre; sie frei zu machen aus Sklavenfesseln, die Jahrhunderte auf ihr lasten. Wie mag ich mein Glück, das Glück des Einzelnen, so hoch schätzen, während mein ganzes Volk nicht glücklich ist! Ehe ich meineidig werde an den Meinen und an meiner Ehre, mag dies Herz brechen in Sehnsucht nach der Geliebten, nach meiner süßen, schönen Clara! Und wieder und immer wieder wollte der männliche Entschluß wankend werden, bei dem Gedanken an die Geliebte. Eduard malte es sich aus, wie auch Clara’s Seele leiden werde unter der Trennung, die er über sie und sich verhängen müsse — wie sie ihm zürnen werde, weil er so großes Weh über sie bringe — und doch vermochte er noch weniger den Gedanken zu ertragen, sich und ihr durch die Taufe alle diese Schmerzen zu ersparen und sich mit ihr zu verbinden. Er war entschlossen und resignirt, aber tief traurig, als er langsam den Rückweg nach seiner Wohnung antrat. Reiflich überlegte er, wie er sein künftiges Betragen gegen Clara einrichten werde, wie kein Blick, kein Wort das Gefühl seiner Brust enthüllen solle, und das bleiche Licht eines Wintertages sah bereits durch seine Fenster, ohne daß Eduard daran gedacht hätte, sich zur Ruhe zu legen. Der Morgen fand ihn todtmüde in einem Lehnstuhl sitzen, erfreut über die körperliche Abspannung, die ihn das geistige Leid weniger zerreißend empfinden ließ.

* * *

Ein Jeder hat es gewiß erfahren, wie in einem Kreise befreundeter Menschen sich allmälig eine Epoche vorbereitet, in der unvorhergesehene Ereignisse eine gänzliche Umgestaltung der Verhältnisse hervorrufen. Es ist, als ob ein Jeder sich mit einem Male bewußt geworden sei, was er wolle und müsse; und wo noch vor kurzer Zeit nur Keime vorhanden waren, steht schnell emporgewachsen eine reife Ernte da. Aber dem Erscheinen solcher Zeitpunkte gehen in den Familien, wie in der Natur bei der Ernte, heiße, schwere Tage voraus, in denen die Luft drückend und unheilschwer über uns liegt und sich in gewaltsamen Gewitterstürmen abkühlt. Wir fühlen den herannahenden Orkan, eine Unruhe überfällt uns, wir zagen vor dem entscheidenden Momente, und sehnen ihn doch ungeduldig herbei, um in der erfrischten Atmosphäre frisch und frei aufathmen zu können.

Ein solcher Zeitpunkt war für den Kreis von Menschen herangerückt, in dessen Mitte diese Erzählung uns führt. Jeder der Betheiligten fühlte, daß ein entscheidender Schritt geschehen müsse, und Keiner hatte den Muth, ihn zu thun. Eduard hielt es sich als eine Nothwendigkeit vor, Clara zu verlassen, ehe das Scheiden ihm und ihr noch schwerer werde, und konnte es doch nicht über sich gewinnen, ihre Behandlung fremden Händen zu übergeben, die leicht weniger geschickt und sorgsam sein konnten, als die seinen. Wenigstens täuschte er sich über seine Unentschlossenheit mit dieser scheinbaren Pflichterfüllung. — Jenny begriff es nicht in liebender Ungeduld, warum Reinhard zögere, ihr ein Geständniß zu machen, dessen es kaum noch bedurfte, während dieser selbst ernst mit sich zu Rathe ging und, je mehr er sich und Jenny prüfte, um so ängstlicher über den Erfolg einer Verbindung mit der Geliebten wurde.

In dieser peinlichen Unruhe vergingen einige Wochen. Clara’s Genesung war so weit vorgeschritten, daß Eduard nur noch bisweilen ihr väterliches Haus besuchte, um sich nach dem Zustande seiner Kranken zu erkundigen, und vor Allem, um sie zu sehen, um mit ihr über Alles zu sprechen, was seine Seele in Anspruch nahm. Vor ihr hatte er sich gewöhnt, alle Regungen seines Herzens, alle Gedanken seines Geistes zu enthüllen. Er hatte sie eingeweiht in das Glück und in das Leid, das er um seiner Abstammung willen erduldet, und während er sich die Genugthuung gönnte, der Geliebten von sich und seinem früheren Leben zu erzählen, hatte er gehofft, es Clara dadurch zugleich deutlich zu machen, wie sie getrennt wären durch das Vorurtheil der Menschen, und wie er niemals daran denken könne, sie sein Weib zu nennen. Anders aber, als er es berechnet hatte, wirkten diese Schilderungen auf das liebende Herz des Mädchens. Sie wünschte und fühlte in sich die Macht, ihn zu entschädigen für Alles, was fremde Unduldsamkeit an ihm verbrochen hatte; sie wollte ihm zeigen, daß sie wenigstens die Vorurtheile der Menge nicht theile. Darum sprach sie offen von ihrer Achtung und Verehrung für ihn, darum hatte sie tausend jener kleinen Aufmerksamkeiten ihm gegenüber, in denen weibliche Liebe so erfinderisch ist, und die, allen Andern unbemerkbar, sicher den Weg in das Herz Dessen finden, dem sie gelten. Sie war tief ergriffen von seiner ihr bisher fremden und doch so freien Weltanschauung; die Wahrheit seiner Worte prägte sich ihr so deutlich und unbestreitbar ein, daß auch in dieser Beziehung der Geliebte ihr zum Ideal wurde. Ein Tag, an dem sie ihn nicht gesehen, nicht gehört hatte, was er treibe, was ihn beschäftige, schien ihr ein verlorner zu sein; und als nun Eduard endlich seine letzte, ärztliche Visite machte, als Clara mit Thränen in den Augen vor ihm stand, mit Thränen, die, wie ihre Mutter meinte, einer übertriebenen Dankbarkeit flossen, fand sie endlich so viel Muth in sich, leise die Hoffnung auszusprechen, der hilfreiche Arzt, dem sie zu Dank verpflichtet sei, werde auch künftig sich dem Hause ihrer Eltern nicht ganz entziehen. Die Commerzienräthin konnte es also füglich auch nicht wohl vermeiden, eine ähnliche Einladung an ihn ergehen zu lassen, und trotz aller gefaßten Entschlüsse, trotz seiner Grundsätze, freute sich Eduard dieses mit Widerstreben gethanen Vorschlags. Aber wer will ihn der Schwäche zeihen, der selbst geliebt hat? Erinnert euch, wie eure Vorsätze zu Grunde gingen, wenn in der Trennungsstunde die Geliebte bittend vor euch stand! Fragt euch, ob die Sehnsucht nach der Gegenwart der Geliebten nicht stärker war, als jeder Entschluß, den die Vernunft euch vorgezeichnet hatte!

Nachdem Eduard eine förmliche Einladung zu einem Mittagbrod im Hause der Commerzienräthin erhalten hatte, bei dem er mit vielen der angesehensten Männer der Stadt zusammengekommen war, die ihn kannten und hochschätzten, nachdem die stolze Wirthin es einmal über sich gewonnen hatte, einen Juden als Gast an ihrer Tafel zu dulden, fand es Clara nicht schwer, eine zweite Einladung für ihn zu erwirken, besonders da Ferdinand, nach heftigen Zerwürfnissen mit seinem Vater, seine sogenannte große Tour angetreten hatte, und so lange in London in dem Hause seines Onkels bleiben sollte, als William auf dem Continent verweilen würde. Statt also in ihren Absichten durch Ferdinand gehindert zu werden, fand sie dieselben durch das Zureden ihres Vetters wesentlich gefördert; und ihre Eltern ließen sich bereit finden, den Wünschen ihrer Tochter und William’s nachzugeben, da nach Clara’s Herstellung das Heirathsprojekt für diese wieder aufgenommen wurde, und die Commerzienräthin auf’s Neue die zärtlich nachgebende Mutter spielte, um desto leichter das vorgesteckte Ziel zu erreichen. Dazu kam, daß der bisherige alte Hausarzt der Horn’schen Familie gerade jetzt, nachdem er sein Jubiläum feierlich begangen hatte, seine Praxis niederlegte, und der Commerzienräthin selbst den Vorschlag machte, Eduard zu ihrem Arzte zu erwählen, wodurch er gewissermaßen von Rechtswegen in die Zahl der Hausfreunde mit aufgenommen wurde. Seine fleißigen Besuche schrieb Madame Horn der Ehre zu, die ihm durch seine Wahl widerfahren sei und die er zu schätzen wisse; und daß Clara’s Interesse für den Doctor andere Motive, als Erkenntlichkeit haben könne, war ein Gedanke, der ihr niemals einfiel, weil sie die Liebe ihrer Tochter zu einem Juden für eine Naturverirrung angesehen haben würde, die sie einem Mädchen aus ihrer Familie unmöglich zutrauen konnte.

Das Jahr näherte sich seinem Ende, als Eduard fast ein täglicher, und selbst von den Eltern gern gesehener Gast des Horn’schen Hauses geworden war. Der Commerzienrath, der durch seine Geschäfte fortwährend mit den jüdischen Bankiers in Berührung kam, und den alten Meier persönlich achtete, war natürlich weniger hartnäckig in seinem Widerwillen gegen die Juden; und Eduard hatte, schon während er Clara behandelte, sich das volle Zutrauen ihres Vaters gewonnen. Hughes schloß sich immer mehr an Eduard an, und diesem war das um so lieber, als er durch ihn in fortwährender Berührung mit Clara blieb, deren unzertrennlicher Begleiter der Cousin seit Ferdinands Abwesenheit geworden war.

Für Clara begann nun eine Zeit der reinsten Freude. Eduard überließ sich mit jugendlicher Lebendigkeit der Wonne, die ihm das Beisammensein mit der Geliebten gewährte, ohne an die Zukunft zu denken, weil die Gegenwart ihn hinnahm. Hughes, dem Clara mit der schwesterlichsten Traulichkeit begegnete, gerade weil ihr Herz mit Eduard allein beschäftigt war, Hughes fühlte eine wachsende Neigung für sie, der er sich sorglos hingab, da er wußte, daß sie die Wünsche beider Familien für sich habe. Er gehörte zu jenen ruhigen, trefflichen Menschen, die bei wahrem Gefühle doch keiner Leidenschaft fähig sind. Er gewann Clara lieb, er liebte sie sogar innig, aber das störte ihn weder in den Beschäftigungen und Zerstreuungen des Tages, noch raubte es ihm eine Stunde des Schlummers während der Nacht. Unermüdlich aufmerksam auf Alles, was Clara erfreuen konnte, stets besorgt, ihr Unangenehmes zu ersparen, war er ganz zufrieden mit dem Wohlwollen, das sie ihm bewies, und des Doctors Einfluß auf seine Cousine beunruhigte ihn nicht, da er mit offenem Vertrauen an Beiden hing. Eduard hinwiederum entgingen die Gefühle nicht, die William für Clara hegte, aber so fest glaubte er an ihres Herzens Wahrhaftigkeit, daß nie ein Gedanke von Eifersucht in ihm rege wurde. Wenn dann aber plötzlich die Frage in ihm hervortrat, was die Zukunft ihm bringen werde, was das Ende von allen diesen Verhältnissen sein könne? dann zog sich eine düstre Wolke auf seiner Stirn zusammen. Er sagte sich, daß er schlecht, daß er unredlich handle, er rief es sich zurück, wie fest der Entschluß, Clara zu meiden, einst in ihm gewesen sei, und fand nicht Frieden, nicht Ruhe, bis er in Clara’s Nähe Alles wieder vergaß, außer seiner Liebe für sie.

Da er den ganzen Tag beschäftigt und Abends häufig im Hornschen Hause war, anderer Einladungen nicht zu gedenken, an denen es dem beliebten Arzte nicht fehlte, mußte er natürlich in seinem elterlichen Hause seltener werden, obgleich er das Mittagsmahl regelmäßig mit den Seinen einnahm, und oft ängstlich nach Muße strebte, um sie den Eltern zu widmen. Die nächste Folge davon war, daß Jenny aus Mißmuth, wie sie sagte, sich an Joseph zu gewöhnen begann, und Zutrauen zu ihm faßte. Denn Reinhard hielt sich in scheuer Entfernung, er mißtraute sich und der Geliebten. Eduard war, um Jenny’s Worte zu brauchen, der Fahne untreu geworden, und auf dem Punkte, zu desertiren. Erlau malte die Giovanolla und folgte ihr von früh bis spät. Steinheim endlich hatte zum zehnten Male eine jener literarischen Arbeiten vorgenommen, deren er immer ein halb Dutzend unter den Händen hatte, die ihn ein paar Wochen lang beschäftigten und ihm unsterblichen Ruhm verschaffen sollten, die aber niemals fertig wurden, weil er weder Ruhe noch Fleiß genug dazu besaß, und somit war die Meiersche Familie jetzt mehr allein, als es sonst der Fall zu sein pflegte.

Dieser Zustand wurde der lebhaften Jenny unerträglich. Gepeinigt durch Reinhard’s Benehmen, das sie sich nicht zu deuten vermochte, gelangweilt durch die ungewohnte Einsamkeit und Stille des Hauses, tauchte einst plötzlich in ihr der Entschluß auf, Reinhard’s Zweifeln, die ihrer Meinung nach nur aus dem verschiedenen Glauben entspringen konnten, ein Ende zu machen, und zugleich dem Geliebten einen überzeugenden Beweis ihrer Liebe zu geben, indem sie sich von der Religion ihrer Väter, ihrer Eltern trennte und zum Christenthum überträte, dessen Lehren ihr durch Reinhard lieb geworden waren.

Dieser Vorsatz, einmal gefaßt, kam ihr nicht mehr aus dem Sinn. Therese, der sie ihn zuerst als das tiefste Geheimniß mittheilte, ohne jedoch die wahren Motive anzugeben, zerfloß in Thränen der Freude bei dem Gedanken, daß ihr Jenny künftig auch durch den gleichen Glauben angehören wolle. Sie malte mit rührender Inbrunst den Segen, der Jenny in dem Besuch der Kirche, in dem Genusse des heiligen Abendmahls zu Theil werden müsse; sie schilderte ihr die Ruhe, den Himmelsfrieden, den sie nach demselben empfunden, und Jenny, deren ganze Seele gerade jetzt in der furchtbarsten Unruhe befangen war, fühlte sich dadurch in ihrer Ansicht bestärkt, und fing an, auch die Eltern allmälig auf ihre Wünsche vorzubereiten. Diese nahmen es anfänglich leicht. Sie hielten es für eine jener enthusiastischen Aufwallungen, die sie an ihrer Tochter gewohnt waren, und mit denen sie sich ebenso gut für das Christenthum und einen allgemeinen Kreuzzug, als für das Judenthum und die Begründung eines neuen jüdischen Reiches begeistern konnte. Nur Joseph faßte es anders auf. Er kannte die geheimen Triebfedern, die hier im Spiele waren, und ein doppeltes Interesse flößte ihm den Wunsch ein, die Ausführung oder das Ausbilden dieses Gedankens bei Jenny zu verhindern.

Eines Tages, als man vom Mittagstische aufgestanden war, Eduard sich entfernt, und die Eltern eine kleine Spazierfahrt unternommen hatten, die Jenny mitzumachen abgelehnt, blieb sie mit Joseph allein in dem Eßzimmer zurück und das Gespräch wandte sich bald auf das Christenthum und Jenny’s beabsichtigten Uebertritt, da Joseph sowohl als Jenny gleich lebhaft bei dem Thema betheiligt waren.

Was ist es denn eigentlich, fragte Joseph, was Dich so urplötzlich zu dem Entschlusse gebracht hat?

Urplötzlich kannst Du ihn nicht nennen, antwortete sie. Ich habe bis jetzt überhaupt nicht über mich selbst nachgedacht; ich habe wie ein Kind in den Tag hineingelebt. Nun ich älter werde und ernster über mich nachdenke, fühle ich, daß die Halbheit, in der ich erzogen bin, mich nicht befriedigt, daß ich nicht glücklich bin, und ich will das ändern.

Joseph lächelte unwillkürlich. Und Du hoffst, das Christenthum werde Dich glücklicher machen? Täusche Dich doch nicht! Der Glaube, der Friede, der nicht in uns ist, den bringt kein Wechsel der Religion in unser Herz, den kann Dir weder Christus noch Moses geben.

Das kannst Du nicht wissen, weil Du selbst nicht Christ bist! erwiderte sie.

Und woher weißt Du es denn?

Durch Therese, durch Reinhard. O! wenn Du wüßtest, wie selig Therese nach dem Genusse des Abendmahls war, wie fest Reinhard daran glaubt, daß selbst Leiden, die Gott uns auferlegt, zu unserm Heile dienen, wie sicher er darauf rechnet, nach dem Tode mit seinen geliebten Verstorbenen wieder vereinigt zu werden! Joseph, glaube mir, mit der Ueberzeugung muß man glücklich sein!

Joseph schwieg eine Weile, denn Jenny’s Worte, aus denen ihre angeborne Lebhaftigkeit mit der Liebe für Reinhard zugleich hervortönte, machten einen schmerzlichen Eindruck auf ihn. Er beneidete Reinhard, daß er Jenny’s Liebe gewonnen, und war einen Augenblick nahe daran, ganz von dieser Unterhaltung abzubrechen und mit keinem Zweifel ein Herz zu beunruhigen, das für ihn, wie er fühlte, hoffnungslos verloren sei. Indeß war Jenny ihm zu theuer, als daß er sie ohne Besorgniß auf einem Pfade sehen konnte, dessen Ziel ihm für ihre Ruhe durchaus gefährlich schien, und er hielt es für recht und nöthig, bei einem so wichtigen Schritte, an dessen Ausführung er, wie er die Verhältnisse kannte, nicht mehr zweifelte, die Stimme der Warnung ernstlich geltend zu machen.

Verkenne mich nicht, sagte er, wenn ich an die Möglichkeit Deiner ernstlichen Bekehrung zweifle. Du sagst mir, mit Theresens und Reinhard’s Ueberzeugung müsse man glücklich sein. Hast Du diese Ueberzeugung?

Nein, antwortete Jenny.

Aber Du glaubst auch, daß Gott über uns lebt, daß er unser Schicksal lenkt, daß uns nichts begegnen könne, ohne seinen Willen, daß er allweise und allgütig ist, daß er uns liebt?

Gewiß, das glaube ich.

Du glaubst, daß wir eine unsterbliche Seele haben? denn das scheint eine von den Ueberzeugungen zu sein, die Du am tröstlichsten findest.

Joseph, fiel Jenny rasch ein, sieh! wenn ich an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben vermöchte, wenn mir das bewiesen werden könnte, so daß ich es einsehen, es begreifen könnte, dann wäre ich schon glücklich. Es ist so furchtbar, Dasjenige auf das bloße Wort eines Andern glauben zu müssen, was uns zur unwandelbaren, felsenfesten Ueberzeugung werden muß, wenn wir nicht beständig in Todesangst erzittern sollen bei dem Gedanken, daß einer unserer Lieben uns entrissen werden könne. Aber bewiesen muß es mir werden, daß ich es erfassen kann mit der Vernunft. Daß Ihr mir sagt: Glaube, wir sind unsterblich, das genügt mir nicht, das vermag ich nicht.

Du vermagst nicht zu glauben, und willst Christin werden? zu einer Religion übertreten, die, ganz auf Offenbarungen fußend, voll von Mysterien, nur durch den Glauben besteht, in Allem, was nicht Moral oder Philosophie ist? Was ist Dir der Sohn Gottes, der Mensch gewordene Gott ohne den Glauben? Wie kann Dich die Anwesenheit Christi im Abendmahle erheben, wenn Du nicht zu glauben vermagst? Oder meinst Du, man könne Dir die Gegenwart Christi im Sakramente beweisen? es gäbe eine Erklärung für die Kindschaft Jesu? Kannst Du den heiligen Geist, die Dreieinigkeit begreifen? Man wird Dir ein Bild dafür geben, aber wer gibt Dir die Fähigkeit zu glauben, dieses Bild sei Wahrheit?

O Gott! nicht weiter, rief Jenny weinend aus, nicht weiter, Joseph! mache mich nicht haltlos.

Doch! mein Kind! denn wie mein Kind, oder wie eine Schwester liebe ich Dich, sagte Joseph mit bebender Stimme, sich selber überwindend, doch! — Du mußt mit Dir selbst einig werden. Du weißt, das viele Sprechen ist nicht meine Sache; um Dich aber aufzuklären über Dich selbst, müssen wir aufrichtig mit einander sein. Den Glauben an Gott, die Lehren, recht zu thun und dem Nächsten zu dienen, enthält das alte Testament, und Du findest sie veredelt und einer höhern geistigen Entwickelung entsprechend im neuen Testamente wieder; und Mahomet und Zoroaster lehrten sie — denn sie sind begründet in der Seele, die uns Gott gegeben. Darüber hinaus ist alles Menschensatzung. Und Du, großgezogen in den Vorstellungen des jetzigen Judenthums, wirst nie aufhören, an Alles den Maßstab der Vernunft anzulegen. Du hast gesehen, daß Deine Familie, gut und brav, den Gesetzen der Moral gefolgt ist, und doch die Gesetze, die das Judenthum charakterisiren, als bloßes Ceremonialgesetz verwirft. Du bist erzogen in der Schule des Gedankens, wenn ich so sagen darf, und Dir ist die Möglichkeit des Glaubens ohne Prüfung dadurch genommen. Du wirst hoffentlich ein Mensch werden nach dem Herzen Gottes, aber Du wirst niemals Christin sein noch Jüdin. Wie wir Juden jetzt in religiöser Beziehung denken, gibt es keine positive Religion mehr, die für uns möglich ist, und wir theilen mit Tausenden von Christen die Hoffnung, daß eine neue Religion sich aus den Wirren hervorarbeiten werde, deren Lehren nur Nächstenliebe und Wahrheit, deren Mittelpunkt Gott sein muß, ohne daß sie einer mystischen Einhüllung bedürfen wird.