Kitabı oku: «Drei Mädchen am Spinnrad»
Fedor von Zobeltitz
Drei Mädchen am Spinnrad
Ein Roman von glücklichen Leuten
Inhaltsverzeichnis
Ein Roman von glücklichen Leuten
Drei Mädchen am Spinnrad
Impressum
»Drei Mädchen sitzen am Spinnrad des Glücks
Und spinnen, spinnen, spinnen ...«
Drei Mädchen am Spinnrad
In friedvolleren Tagen stand weit draußen vor den Toren ein Komplex von einander völlig gleichen eintönigen Baulichkeiten: da herrschte die Landwehrbezirksinspektion.
Ein offenes Automobil fuhr an einem schönen Märzmorgen mit sichtlichem Zögern die Front dieser großen roten Häuser entlang. Der Chauffeur schien nicht recht zu wissen, wo er halten sollte; er äugte umher, um die Nummern über den Portalen erkennen zu können, brummte etwas Unverständliches vor sich hin und wandte sich endlich fragend nach rückwärts:
»Wo denn nu? Gebäude eins, zwei oder drei?«
Die Damen, die sich im Fond des Wagens gegenübersaßen, schienen sich darüber aber selbst nicht im klaren zu sein. Es war eine Mutter mit ihren drei Töchtern: Frau von Göchhusen mit Fräulein Beate, der ältesten, mit Fräulein Elfriede (gewöhnlich Friede oder Friedelchen genannt) und mit Fräulein Maxe Erdmuthe Tugendreich, der jüngsten im Trio. Im alltäglichen Dasein rief man sie Maxe; wenn die Mutter böse war, aber setzte sie – des herberen Ausdrucks wegen – den Namen Erdmuthe hinzu, und wenn, Elfriede sie ärgern wollte, nannte sie die Schwester immer nur Tugendreich.
»Maxe, welches Gebäude?« fragte Frau von Göchhusen.
»Ja, wenn ich das ahnte,« antwortete Maxe und zog die Schultern hoch.
»Aber, Kleining,« sagte Beate, die neben der Mutter saß und ihr außerordentlich ähnlich sah, »das steht doch wahrscheinlich in deiner Einberufung.«
»J ja – das ist möglich,« rief Maxe. Und während, das Automobil sich kaum noch von der Stelle bewegte, dafür aber um so lebhafter rasselte, durchkramte sie hastig ihr Handtäschchen, packte ihrer Mutter ein kleines, zackig und farbig besäumtes Schnupftuch, ein winziges Portemonnaie, ein Notizbüchelchen und drei Blätter Puderpapier auf den Schoß und förderte hierauf einen häßlichen graugelben Zettel zutage, auf dem allerlei gedruckt und verschiedenes geschrieben stand.
»Gebäude drei,« sagte sie energisch. »Gebäude drei!« rief sie dem Chauffeur zu, der sofort seine bremsende Tätigkeit aufgab. »Das hab' ich mir gleich gedacht.«
»Bestreite ich,« entgegnete Elfriede (es war die mittelste, die Blonde). »Ich behaupte sogar, daß du dir gar nichts gedacht hast. Oder du hast wieder gedichtet, was ich nicht denken nenne.«
»Ich dichte nie in einem Automobil, Friedelchen.«
»Tugendreich, du wirst noch deinen Herrgott erkennen lernen. Paß mal auf, wie sie dich im Dienste herannehmen werden. Da geht die Poesie heidi. Wenn du zur Artillerie kommst, mußt du schon morgens um viere die Haubitzen putzen.«
»Ich werde Franzer,« sagte Maxe.
»Weiß schon, warum,« warf Beate ein.
»Na, warum denn?«
»Das werde ich dir gelegentlich ins Ohr flüstern, wenn Mama nicht dabei ist. Aber du kommst gar nicht zu den Franzern. Du hast nicht das Gardemaß –«
»Und kein Grenadiergefüge,« sagte Elfriede.
»Nicht die Spur, du bist höchstens leichte Kavallerie. Vielleicht bringen wir dich bei den Husaren unter. Aber Reserveoffizier wirst du doch nicht. Du kannst ja nicht mal ein Monokel ins Auge klemmen.
»Kinder, nun hört mit euern Albernheiten auf!« rief die Mutter. »Maxe, laß sie reden. Sie ärgern sich bloß, daß die Militärverwaltung dich bevorzugt hat. Schade – Beate wäre ein stattlicher Kürassier geworden.«
»Bitte, Mamachen – seit ich keine Kartoffeln mehr esse, magre ich sichtlich ab. Vier Pfund Verlust in vierzehn Tagen. Ich werde noch dürr wie eine Hopfenstange.«
»Davor sorge ich mich nicht. Aussteigen, Kinder! Und nun bitte ich mir Ernst aus. Der Dienst beginnt.«
»Richtig,« sagte Beate. »Das hat uns Krempel besonders eingeschärft: von dem Augenblicke ab, da wir den Boden des Militärfiskus betreten, stehn wir auch unter militärischer Disziplin. Sonst fliegen wir ins Loch.«
»Hätten wir Krempel nur mitgenommen,« seufzte Maxe. »Ich graule mich. Wenn sie mich nun für tauglich befinden und gleich dabehalten?«
Frau von Göchhusen lachte. Man war ausgestiegen. Die Mutter bezahlte den Kutscher; die drei Töchter, bestaunten das große rote Haus und den davor auf und ab marschierenden Wachtposten.
»Du mußt das Gewehr schultern,« sagte Elfriede.
Maxe probierte dies mit ihrem Regenschirm. Aber die Mutter verbat sich die Possen.
»Würde, Kinder! Und setzt die Füße auswärts. Beate, du nimmst den rechten Flügel. Ob uns die Schildwache überhaupt durchläßt?«
Sie tat es. Die vier Damen traten zunächst auf einen großen Hof und sahen sich von neuen Baulichkeiten umgeben. In einem Winkel schaufelten ein paar Soldaten den letzten Schnee zusammen. In der Mitte des Hofes stand ein dicker Oberst und ließ einen schwarzen Pudel über seinen Säbel springen.
Frau von Göchhusen war unschlüssig. »Wo denn nun hin?« fragte sie.
»Erkundigen wir uns,« riet Elfriede. »Bei dem dicken, Oberst da drüben. Dicke Menschen sind gewöhnlich gefällig.«
In diesem Augenblick schritt ein Sergeant an ihnen vorüber, und da faßte Frau von Göchhusen einen raschen Entschluß.
»Entschuldigen Sie,« sagte sie, riß Maxe den graugelben Zettel aus der Hand und zeigte ihn dem Sergeanten, » – wo müssen wir damit hin?«
Der Soldat warf einen Blick auf das Papier und entgegnete sofort: »Da müssen Sie hier herauf« – er deutete auf das nächste Portal –, »zwei Treppen und dann links. Da ist die Kontrolle.«
Er grüßte und ging weiter.
Maxe nickte. »Das gefällt mir. Kurz und bündig. Das Verwunderliche imponiert dem Mann nicht weiter. Er gibt einfachen Bescheid auf die einfache Frage. Ich, fühle, daß mich bereits ein starker militärischer Geist durchdringt.«
»Quack,« sagte die Mutter. »Also, gehen wir. Zwei Treppen und dann links.«
Sie betraten das große Haus und hielten sich an die Vorschrift. Ein riesenlanger Korridor durchquerte das zweite Stockwerk. Man wandte sich links, an zahlreichen geschlossenen Türen vorüber, die durch Papptafeln gekennzeichnet waren, und gelangte in einen Vorraum, in dem Bänke an den Wänden standen. Hier wartete eine Anzahl junger Leute. Neugierige Augen starrten die Damen an.
Die vier wurden verlegen. Sie paßten nicht hierher, das war ihnen klar. Dieses Haus gehörte dem stärkeren Geschlecht. Sie empfanden in ihren eleganten Frühjahrstoiletten zwischen den kahlen, abgeschabten Mauern auch ein Gefühl unerträglichen Widerspruchs.
»Es riecht hier so merkwürdig,« wisperte Elfriede und rümpfte das Näschen.
»So maskulin,« setzte Beate hinzu. »Auch nach Pferdestall.«
»Nein, nach Centauren,« sagte Maxe. »Ich wünschte doch, wir hätten Krempel mitgebracht.«
Frau von Göchhusen zuckte mit der rechten Achsel, »Haberei. Wir werden ohne deinen Krempel auch fertig werden.«
»Mein Krempel ist gut, Mama –«
»Na, ja. Unsinn, daß wir gleich zu viert angezogen kommen –«
»Das war Beates Idee. Sie war für eine ›Phalanx‹.«
»Natürlich,« sagte Beate. »Sollten wir dich allein in die Löwenhöhle lassen? Unsre zarte Poetin in das Heim rauher Krieger? Unsre –«
Sie brach ab. Eine Tür hatte sich geöffnet, und ein schnurrbärtiger Unteroffizier trat auf den Korridor. Er hielt eine Liste in der Hand und las mit befehlshaberischer Stimme vor:
»Wilhelm Kawalke –«
»Hier!« rief eine Stimme. Von einer der Bänke erhob sich ein junger Mann und trat vor..
»Ernst Feuereisen,« las der Unteroffizier weiter.
»Hier!«
»August Dingeldei –«
»Hier!«
»Zur Untersuchung!«
Frau von Göchhusen hatte wieder Mut gefaßt. Sie trat, noch immer den graugelben Zettel in der Hand, tapfer an den Unteroffizier heran. »Ich bitte um Verzeihung,« sagte sie höflich, »kann ich nicht einen der Herren Offiziere sprechen? Es handelt sich nämlich um mein Kind.«
Der Unteroffizier nahm den Zettel und überflog ihn. »Ist der junge Mann hier?« fragte er.
»Ja, aber es ist –«
Der Unteroffizier hatte es eilig. Er ließ Frau von Göchhusen nicht erst aussprechen, drückte ihr den Zettel wieder in die Hand und entgegnete: »Da muß er warten, bis er aufgerufen wird ...«
Die drei Mädchen hatten sich inzwischen verschüchtert an das große Fenster am Ende des Flurs zurückgezogen.
»Es ist gräßlich,« sagte Maxe. »Hier wird man rudelweise untersucht.«
Elfriede schüttelte den Kopf. »Ich habe mir die ganze Geschichte pläsierlicher gedacht,« meinte sie. »Vielleicht wäre es doch praktischer gewesen, Mutter hätte einfach, geschrieben, wie sich die Sache verhält.«
»Selbstverständlich,« fügte Beate hinzu. »Aber Maxe betrachtete die Angelegenheit als eine Sensation, die man ausgenießen müßte. Der Genuß ist bloß ziemlich fraglich.«
Nun kehrte Frau von Göchhusen zu ihren Kindern zurück. »Der junge Mann soll warten, bis er aufgerufen wird,« sagte sie. »Also warten wir, es hilft nichts.«
Man wartete, blieb aber in der Nähe des Fensters. Man traute sich nicht mehr auf den Vorraum mit den Bänken, den immer neue Ankömmlinge füllten. Von Zeit zu Zeit öffnete sich eine der Türen rechts, und die Kommandostimme des Unteroffiziers wurde vernehmbar. »Friedrich Puttfarken ... Karl Schulze ... Jakob Pieper ...« Dazwischen erscholl ein dreifaches »Hier«, und die Tür schloß sich wieder.
Dann und wann lockte die Neugier einen der jungen Männer näher. Die vier Damen erregten immerhin Aufsehen. Alle vier waren hübsch. Die Mutter konnte kaum vierzig sein; ihr frisches Gesicht mit dem lebhaften Spiel der dunklen Augen und dem unbekümmerten Ausdruck hatten Beate und Elfriede geerbt. Maxe, der Schwarzkopf, hatte etwas Sinnigeres im Blick. Sie war auch schlank und ephebenhaft, während die Älteste der Fülle der Mutter zuneigte und Elfriede, als »Mittelstück« und immer dem juste milieu ergeben, das rechte Maß hielt. Die Familienähnlichkeit der vier war groß;, nur die Hautfarbe unterschied sie. Beate war kastanienbraun wie die Mama; Maxe schwarz. Elfriede bezeichnete sich selbst als eine unechte Blondine. Ihr Haar hatte einen rötlichen Schimmer, aber die Augenbrauen wölbten sich dunkel unter der Stirn, und auch der schöne flaumige Teint war der einer Brünette.
Das Warten wurde langweilig. Man schaute auf den Hof hinab. Da gab es nicht viel zu sehen. Dann horchte man auf die Namen, die der Unteroffizier von zehn zu zehn Minuten ausrief. »Franz Thiessen ... Arnold Bönhase ... Gregor Kopetzki ...« Immer drei Namen hintereinander. Die Mädchen wiederholten sie und fanden einige sehr drollig. Sie munterten sich gegenseitig auf, erfanden Witzchen und kicherten leise. Aber das lange Stehen ermüdete auch ihren Humor. Ihre hübschen Gesichter erschlafften. Plötzlich begann Elfriede zu gähnen. »Wenn es noch länger dauert, setz' ich mich auf die Fensterbank,« erklärte sie ... »Mir schlafen die Füße ein,« sagte Beate.
Die Mutter marschierte währenddessen mit kleinen Schritten auf und ab und unterhielt sich damit, die Inschriften auf den Papptafeln der verschiedenen Türen zu lesen. Es waren meist die Namen von Ärzten, Offizieren und Feldwebeln: aber einer darunter, der Frau von Göchhusen interessierte. Sie sprach davon zu ihren Kindern.
»Major von Hartwig,« sagte sie. »Ich kannte einen Hartwig, er hieß Woldemar mit Vornamen – man durfte aber nicht Waldemar sagen, da wurde er ärgerlich, denn er hielt auf das ›o‹. Kinder, der wollte mich sogar einmal heiraten, und ich hätte ihn auch ganz gerne genommen, aber erstens: er war nicht viel älter als ich, und zweitens hatte er kein Geld und ich auch nicht.«
»Vielleicht ist das dein Woldemar mit ›o‹,« entgegnete Elfriede.
»Er stand damals bei den Franzern und war ein sehr hübscher Mensch.«
»Die Franzer sind alle hübsch,« erklärte Maxe. »Wollen wir uns nicht bei Herrn von Hartwig anmelden lassen, Mama? Er wird uns aus der Bredouille helfen – es fängt nachgerade an, trist zu werden. Und wenn es dein Woldemar sein sollte ... es ist ja möglich, daß er noch nicht verheiratet ist – und er kann sich immer noch eine gewisse Stattlichkeit in sein Majorsalter gerettet haben –«
»Dann verheiraten wir die Mama mit Woldemar,« beschloß Beate.
»Kindsköpfe,« sagte Frau von Göchhusen lachend. »Damals war er Leutnant – jetzt kann er schon einen Sohn haben, der Leutnant ist ...« Aber die Erinnerung glitt doch so lebhaft durch ihre Seele, daß der Ausdruck ihres Gesichts sinnender wurde ... »Er war baumlang,« fuhr sie fort, »und sehr brünett. Dabei grüne Augen – ganz hellgrün, lichtgrün, wassergrün. Das stand ihm ausgezeichnet. Er hätte eigentlich dunkle Augen haben müssen, aber die Anomalie machte ihn interessant.«
»Liebtet ihr euch sehr?« fragte Maxe.
»Schäfchen, so etwas fragt man nicht ... Ich weiß noch, wie er um mich anhielt. Mein Vater sagte rundweg ›nein‹. Ich habe drei Tage geheult und wollte Gift nehmen.«
»Und dann?«
»Ich nahm keins und habe die Tränen getrocknet ...«
Nun hörte man wieder die Stimme des Unteroffiziers, den dröhnenden Baß, der in dem langen Korridor ein Echo erwecken zu wollen schien: »Gottlieb Hiersekorn!«
»Hier!« ... Die Leute auf den Bänken erhoben sich.
»Friedrich Wendland!«
»Hier!«
»Immer kommen Sie näher!« rief der Unteroffizier, »ich beiße Sie nicht ...« Dann neigte er den Kopf von neuem über die Liste und verlas noch einen Namen, der vielleicht undeutlich geschrieben war oder seiner Zunge ungeläufig schien: »Max von Göch – Göchhausen ... nein, Göchhusen.«
Niemand antwortete.
»Ist Max von Göchhusen nicht da?« fragte der Unteroffizier. »Mir ist doch so, als ob ich vorhin –«
»Hier,« unterbrach ihn eine zarte und piepsige Stimme.
Der Kriegsmann schaute erstaunt den Korridor hinab. Alle jungen Leute schauten den vier Damen entgegen, die sich raschen Schrittes, näherten, diesmal paarweise: die Mama mit Maxe voran, Beate und Elfriede hinterher. Man verstand die Situation noch nicht recht unter den Gestellungspflichtigen. Auch der Unteroffizier war sich unklar, doch schmunzelte er: eine Ahnung des Begreifens dämmerte immerhin in ihm auf.
Nun stand Frau von Göchhusen mit Maxe dicht vor ihm und holte wieder ihren Zettel hervor.
»Der Vatersname ist richtig,« sagte sie, »aber der Vorname ist falsch. Nicht Max, sondern Maxe – mit einem ›e‹ am Schlusse ...« Sie lächelte ... »Mein Sohn ist nämlich eine Tochter – diese hier.«
Sie deutete auf ihre Jüngste, die rot geworden war, aber den Sinn für die Komik der Situation noch nicht verloren hatte.
»Ich glaube nicht, daß ich dienstpflichtig bin,« meinte sie mit einer niedlichen Wölbung der Lippen.
Nun wurde leises und lautes Lachen im Kreise der jungen Männer vernehmbar, auch eine kecke Bemerkung. Aber das litt der Unteroffizier nicht. »Ich bitte mir Ruhe aus,« sagte er ernst. Dann machte er vor Frau von Göchhusen eine kurze Verbeugung. »Also ein Irrtum, gnädige Frau. So etwas passiert. Im vorigen Jahre sollte eine siebzigjährige Witwe eingestellt werden. Es lag ein Schreibversehen vor. Hier wohl auch.«
»Jedenfalls. Der Name Maxe ist wenig gebräuchlich. Und statt Erdmuthe steht Edmund auf dem Zettel.«
Der Unteroffizier nickte. »Richtig – Edmund. Und Tugendreich steht auch noch da. Warum denn Tugendreich?«
»So heißt sie.«
»Ich denke Göchhusen.«
»Tugendreich ist ein Vorname – so ein alter – aus früheren Jahrhunderten.« Der Unteroffizier schwieg einen Augenblick, als wollte er diese neue Seltsamkeit erst geistig verarbeiten. »Na,« sagte er sodann, »jedenfalls müssen wir die Sache protokollieren. Wollen Sie so gut sein, mich zu dem Herrn Major begleiten.«
Er ging voran bis an die Tür, die eine Papptafel mit dem Aufdruck »Major von Hartwig« trug.
»Gedulden Sie sich einen Augenblick,« wandte er sich an Frau von Göchhusen zurück, »ich werde dem Herrn Major die Sache vortragen. Vielleicht sind Sie gar nicht nötig. Haben Sie den Geburtsschein Ihres Fräulein Tochter zur Hand?«
»Alles da,« rief Maxe, öffnete ihr Handtäschchen und gab dem Unteroffizier das Gewünschte. Er verschwand damit hinter der Tür.
»Nun bin ich neugierig, ob es, wirklich Woldemar ist,« sagte Elfriede.
Die Mutter zog die Stirne kraus. »Laß das, Elfriede. Einmal kann man sich so ein Witzchen erlauben, aber nicht öfter. Es schickt sich nicht. Hoffentlich läßt er uns nicht zu lange warten.«
Sie hatte kaum ausgesprochen, als sich schon wieder die Tür öffnete. Ein langer Offizier stand vor den Damen, über das ganze braune Gesicht lachend, die Hände ein wenig erhoben: wie zu herzlicher Begrüßung.
»Na, das muß ich sagen,« begann er, »so sieht man sich wieder! Gnädigste Frau, kennen Sie mich denn noch?«
»Aber natürlich, Herr von Hartwig. Als ich vorhin Ihren Namen an der Türe las, überlegte ich gleich: ist er's oder ist er's nicht? Und nun sehe ich, daß er's ist – und freue mich von Herzen darüber.«
Er zog ihre Hand an die Lippen. »Ich nicht minder ...« Sein Blick glitt rasch über den Braun-, den Blond- und den Schwarzkopf ... »Die Fräulein Töchter? – Und welches ist unser neuer Rekrut?«
»Maxe, tritt vor.«
Maxe tat es mit militärischem Anstand. Sie schlug sogar die Absätze aneinander.
Der Major freute sich. »Ach, wenn wir doch lauter solche Rekruten hätten,« sagte er. »Ich bin sonst eigentlich gegen die Frauenemanzipation, aber ... darf ich um Vorstellung bitten, gnädige Frau?«
»Nicht nötig – die Kinder wissen schon ... Lieber Herr von Hartwig, ich möchte nicht lange stören – sehe auch, daß der Unteroffizier wartet –«
»Er kann gehen. Gehen Sie, Westermann, ich bringe die Sache in Ordnung. Ja, Ordnung muß sein, gnädige Frau, und deshalb muß ich Sie schon bitten, einen Augenblick näherzutreten. Verhör, Protokoll und Unterschrift – anders läßt sich's nicht machen. Meine verehrten Damen, erschrecken Sie nicht über die Kleinheit und Ausstattung meines Zimmers; der Fiskus gibt's uns nicht besser. Herrgott, wenn ich nur vier Stühle habe!...«
Sie fanden sich gerade noch, aber von zweien mußten Stapel blau broschierter Aktenstücke auf die Erde gelegt werden. Für den Major selbst war kein Sitz mehr da, und nun stritten die Mädchen, wer von ihnen stehen bleiben wollte.
»Der Rekrut,« entschied die Mama. »Maxe, stell' dich an die Wand.«
»Kein Gedanke,« protestierte Herr von Hartwig. »Machen Sie mich nicht böse, gnädiges Fräulein. Oder nein: vorläufig haben Sie noch zu gehorchen. Noch sind Sie nicht in den Listen gestrichen. Aber ich will Sie als Freiwilligen behandeln. Nehmen Sie Platz, Freiwilliger.«
Maxe setzte sich. Dieser Major gefiel ihr. Allen drei Mädchen gefiel er. Majore neigen vielfach zur Korpulenz. Es ist das Übergangsstadium zum Kommandeur, bei dem der Ärger die Fettanschoppung wieder vertreibt. Doch, dieser war schlank, und Elfriede, die Malerin war, fand es hübsch, wie von der Taille aufwärts der Oberkörper des Mannes frei und kräftig zu starken Schultern emporwuchs. Auch in bezug auf die Augen hatte die Mama recht: sie wirkten pikant. Sie standen mit ihrem hellen Grünlicht wie zwei offene Fragen in dem Dunkel seines Gesichts.
Herr von Hartwig war hinter seinen breiten, mit Papieren bedeckten Schreibtisch getreten. »Also nun zuerst das Geschäftliche,« sagte er. »Der Geburtsschein erklärt alles ...« Er las absatzweise vor: »›Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute, der Persönlichkeit nach bekannt, der Königliche Legationsrat a. D. Franz Friedrich Erich von Göchhusen – wohnhaft daundda, evangelischer Religion – und zeigte an, daß von der Magda von Göchhusen, geborenen Tarrach ...‹ der Name weckt alte Erinnerungen in mir an Ihr Vaterhaus, gnädige Frau ... ›wohnhaft bei ihm, am dritten März achtzehnhundertundsechsundachtzig, vormittags zwölfeinhalb Uhr, ein Kind weiblichen Geschlechtes geboren worden sei, welches die Vornamen Maxe Erdmuthe Tugendreich erhalten habe. Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben ...‹ Stimmt. Und da ich dies Kind weiblichen Geschlechts in persona vor mir habe, kann ich nach bestem Gewissen beeidigen, daß es, für den königlichen Dienst nicht zu brauchen ist – leider ...« Er schob mit einem Fußtritt ein hohes zusammengeschnürtes Aktenpaket neben sich, ließ sich trotz des Protestes der aufspringenden Damen darauf nieder, warf ein paar Zeilen auf einen Foliobogen und bat Frau von Göchhusen dann um ihre Unterschrift.
»Abgemacht,« sagte er. »So, meine verehrte gnädige Frau – aber so rasch lasse ich Sie nicht wieder fort. Herrgott, wie lange haben wir uns nicht gesehen! Und nun hab' ich Sie gleich vierfach vor mir ...« Keine Söhne, gnädige Frau?«
»Nein. Und Sie, Herr von Hartwig?«
»Auch nicht. Dieweil ich noch immer nicht die Rechte gefunden habe. Nun habe ich's aufgegeben. Ich glaube, ich habe den Zeitpunkt verpaßt.«
»Das sagen alle, denen das Junggesellenleben bequemer dünkt.«
»Ach Gott, gnädige Frau, das Junggesellenleben ...? Es klingt so nach unbeschränkter Freiheit und ist eigentlich das kläglichste Gebundensein. Bursche und Waschfrau sind die rollenden Punkte. Die Abhängigkeit wird zum Gesetz. Man verliert sein Ich und wird doch zum Egoisten. Nein, es ist nichts.«
»Warum sind Sie nicht bei den Franzern geblieben?« fragte Frau von Göchhusen.
»Ich hatte mir den Fuß gebrochen. Eine komplizierte Geschichte mit Sehnenzerreißung und derlei. Kurzum: auch nach der Heilung blieb noch eine Schwäche zurück – ich konnte nicht mehr marschieren, und an das vorschriftsmäßige Beinewerfen beim Parademarsch war gar nicht zu denken. Da hieß es denn: entweder zur Kavallerie oder Abschiednehmen. Für die Reiterei fehlte es mir am Nötigsten, und zum Abschiednehmen hatte ich keine Lust. Schließlich wurde meine gute Konduite zum Vermittler: man steckte mich unter die Bezirksoffiziere – und so sitze ich denn hier draußen in Schöneberg, was ja auch eine ganz hübsche Gegend ist. Und Sie wohnen noch immer in der Regentenstraße?«
»Jawohl. Aber woher wissen Sie –«
»Ich weiß alles. Nein, nicht alles – natürlich nicht. Aber doch viel ... Ja – immerhin ...« Seine hellen Augen wurden etwas unruhig, und ihr klarer Ausdruck verwischte sich – »Nämlich – ich hatte zu meiner Rekonvaleszenz ein Jahr Urlaub und verlebte ihn in Italien – teils in Rom, teils an den Seen –«
»Ah ...« Ein warmer Ton glitt über die Wangen der Frau Magda ... »Und da sind Sie mit meinem – mit Herrn von Göchhusen zusammengetroffen?«
»Jawohl, gnädige Frau. Es war zuvörderst ein Zufall. Aber der Zufall festete sich und gewann Halt. Was soll ich leugnen, daß ich ihm befreundet wurde! Er war immer ein guter Freund.«
»Gewiß, das war er. Das haben mir andere auch gesagt. Aber –«
Sie brach ab und neigte ein wenig den Kopf, während ein leises Zucken durch ihre Schultern ging.
Der Major verstand das stumme Spiel und suchte nach einem anderen Thema der Unterhaltung. Er war sichtlich verlegen geworden; unter dem kurz gestutzten schwarzen Schnurrbart vibrierte die Oberlippe. Dummheit, daß er von Göchhusen angefangen hatte! Wie war er nur darauf gekommen? ... Freilich, sie selbst hatte zuerst den Namen genannt – und ohne Befangenheit ... Dennoch: es war unangenehm ... Er wandte sich lächelnd an die Mädchen.
»Die jungen Damen wohnen natürlich bei der Mama?« fragte er und fühlte sofort die Albernheit der Frage. Er hatte überhaupt nur etwas sagen wollen und wußte kaum, was er sprach.
Doch die Frage fand Anklang. »Jetzt ja,« antwortete Maxe, »aber ein paar Jahr lang waren wir allsamt verstreut. Ich bin in Hannover erzogen worden – auf dem Mädchengymnasium –«
»Alle Hochachtung.«
»Habe sogar mein Abiturium gemacht ...« Sie lachte und hatte ein hübsches Lachen, nicht hell und zwitschernd, eher guttural; aber es klang melodiös. Und dabei krauste sich ein wenig ihre Oberlippe, und im Kinn zeigte sich ein Grübchen wie der Druck eines Nagels.
»Es ist die Möglichkeit,« sagte der Major. »Da hätten wir Sie also ohne weiteres als Freiwilligen einstellen können. Gott sei Dank, daß Sie keinen gelehrten Eindruck machen.«
»Nein, das macht sie nicht,« entgegnete Frau von Göchhusen heiter. »Sie möchte freilich gern weiterstudieren, aber das will ich nicht. Vorderhand wenigstens nicht. Mir kam es nur darauf an, den Kindern eine gewisse Selbständigkeit zu schaffen – für alle Fälle. Beate hat ihr Examen als Bibliothekarin gemacht, und Elfriede war zwei Jahre auf der Kunstschule in Weimar.«
»Also Malerin,« sagte der Major und wandte sich an Beate.
»Das bin ich,« rief Elfriede und tippe mit dem Zeigefinger auf ihre Brust.
»Tausendmal Verzeihung – jetzt weiß ich Bescheid. Beate, Elfriede, Maxe – die Namen gefallen mir alle drei. Nur über das Tugendreich der gnädigsten Jüngsten bin ich mir noch nicht völlig im klaren. Ist das ein Beiname? Er würde ja sicher bezeichnend sein –« »Es ist ein greulicher Name,« fiel Maxe unwillig ein, »ich werde so viel damit geneckt.«
»Ich glaube, er hat auch Ihren Unteroffizier erschreckt,« sagte die Mutter, »oder zum mindesten etwas nachdenklich gestimmt. Es ist ein Göchhusenscher Name. Sie wissen: rheinisches Patriziat und früher katholisch. Sie heißen alle Tugendreich und immer abwechselnd: mal die männlichen und mal die weiblichen Sprossen. Aber sie waren es wohl nicht alle.«
Nun stand Frau von Göchhusen auf. »Es ist Zeit, Herr von Hartwig. Hübsch, daß ich Sie bei Gelegenheit dieser Irrung einmal wiedergesehen habe.«
Der Major verneigte sich. »Die Freude ist auf meiner Seite. Darf ich der gnädigen Frau meine gehorsamste Aufwartung machen?«
»Oh, das wäre sehr nett ...« Der Ton lag auf dem »sehr« ... »Und damit Sie nicht vergebens kommen: zwischen vier und sechs sind wir immer daheim.«
Man verabschiedete sich. »Prachtvolles Haar,« sagte Hartwig, als er Elfriede die Hand reichte. »Verzeihen Sie den Enthusiasmus, gnädiges Fräulein, aber ich habe eine Schwärmerei grade für diese Farbe. Vielleicht bloß, weil sie so selten ist. Es ist nicht rot und nicht blond und nicht einmal rotblond. Es ist ein verlorengegangener Ton, den man sonst nur noch auf Bildern findet. Ingres liebte ihn auf seinen Kostümgruppen.«
»Interessieren Sie sich auch für Malerei?« fragte Elfriede lebhaft.
»Sehr. Ich ruiniere in meiner freien Zeit zuweilen selber saubere Linnenflächen.«
»Geht voran, Kinder,« sagte Frau von Göchhusen, »ich habe noch eine Frage an den Herrn Major... Ja, noch eine Frage,« wiederholte sie, als die Mädchen hinaus waren, »die Sie nicht mißverstehen werden, Herr von Hartwig. Wie lange ist es her, daß Sie mit Herrn von Göchhusen zusammen waren?«
»Im Winter vor zwei Jahren, gnädige Frau.«
»Ich frage nämlich deshalb... Früher schrieb er mir zuweilen – es gab noch allerhand Geschäftliches zu ordnen, und dann wollte er auch immer über die Kinder Bescheid wissen... aber seit ungefähr Jahresfrist bin ich ganz ohne Nachricht, und was das Merkwürdigste ist: mein letzter Brief an ihn – nach Pallanza, an seine alte Adresse – kam als unbestellbar zurück. Ich verstehe das gar nicht.«
»Möglich, daß ein Brief verlorengegangen ist, gnädige Frau. Ich weiß auch nur, daß er gleich nach dem Tode seiner Gattin –«
Ein schwacher Ausruf unterbrach ihn. Da erschrak der Major: er hatte unwissentlich eine neue Dummheit begangen. Die Wangen der Frau von Göchhusen waren kalkig geworden; der fahle Ton ging bis in die Lippen. Die Lippen bewegten sich, aber sie sprachen nicht. Die Brauen stiegen höher, die Augen vergrößerten sich. Dann flüsterte sie etwas, etwas Unverständliches, und wiederholte es noch einmal, diesmal lauter, aber mit einer Stimme, die einen Sprung zu haben schien:
»Tot? ... Wanda – ist – tot?...«
Herr von Hartwig nahm ihre Hand. »Gnädigste Frau, ich bin untröstlich ... ich ahnte ja nicht, daß Sie das noch nicht wußten... Verzeihen Sie –«
Sie hatte sich schon in der Gewalt. Die Nervenspannung löste sich. In ihrem hübschen Gesicht, dessen frische Haut allen Jugendreiz bewahrt hatte, sammelten sich wieder die Farben.
»Ich bin kindisch,« sagte sie. »Im Grunde genommen...« Aber sie führte den Satz nicht zu Ende. Sie fragte kurz: »Wann ist sie gestorben?«
»Im Juni vorigen Jahres. Sie war lange leidend. Göchhusen schrieb mir nur ein paar flüchtige Zeilen, daß sie erlöst sei und daß er zur Erbschaftsregulierung nach Mexiko wolle. Seitdem habe ich auch nichts mehr von ihm gehört.«
Sie nickte. »Ich danke Ihnen. Jetzt bin ich wieder ganz verständig. Es war nur die Augenblickswirkung. Wanda hat mir auch einmal nahegestanden... Also ich darf auf Wiedersehn sagen, lieber Major?«
Er küßte ihre Hand und öffnete die Tür.
Frau von Göchhusen war wieder die alte. Sie liebte keine Szenen und ärgerte sich, daß sie für einen Augenblick ihr seelisches Gleichgewicht verloren hatte. Die Kinder sollten jedenfalls nichts davon merken. Sie lächelte ihnen zu.
»Da bin ich wieder,« sagte sie. »Also, Maxe, du bist frei. Das hätten wir bequemer haben können, wenn wir den Irrtum schriftlich aufgeklärt hätten.«
»Dann hättest du aber deinen Woldemar nicht wiedergesehen.«
»Maxe-Erdmuthe, nun laß diese Späßchen...« Sie schritten den Flurgang und die Treppe hinab... »Der Major verdient allen Respekt.«
»Es störte mich,« sagte Beate, »daß er von Papa anfing.«
»Mein Gott, warum denn? Die Sache liegt ja so weit zurück und braucht doch auch wahrhaftig nicht als Geheimnis behandelt zu werden.«
»Sicher nicht,« gab Elfriede zu. »Beate ist gern ein bißchen altjüngferlich. Mir hat Herr von Hartwig ausgezeichnet gefallen.« »Ja natürlich,« entgegnete Maxe. »Weil er dir eine Schmeichelei gesagt hat. Das Haar mit dem verlorenen Ton. Siehe Teerseife.«
»Mama, ist Tugendreich nicht schändlich? – Teerseife bleicht außerdem das Haar, aber färbt es nicht. Im übrigen: Schmeicheleien fangen mich nicht, liebe Maxe. Mir gefällt der Major, weil er Kunstverständnis hat. Er ist kein Durchschnittsmensch.«