Kitabı oku: «Der einfache Weg»
Der einfache Weg
Der einfache Weg
Buchbeschreibung:
Ein kleines, verschlafenes Dorf irgendwo im Nirgendwo, eine Beerdigung und ein rätselhafter alter Mann. Eigentlich wollte Andreas Rauch nur seiner Großtante die letzte Ehre erweisen, doch bei ihrer Beerdigung kommt er mit Albrecht Jonter, einem Urgestein des Dorfes, in dem sie lebte, ins Gespräch. Und die Geschichte, die dieser zu erzählen hat, will so gar nicht ins Dorfidyll passen. Sechzig Jahre sind seither vergangen und niemals hat sie den Alten losgelassen. Und auch Rauch beschäftigt sich immer mehr mit den rätselhaften Vorfällen, die seinerzeit das Dorf in Aufruhr versetzten, und der Frage, ob der einfache Weg tatsächlich der richtige ist.
Über den Autor:
Finn Lorenzen ist Literaturwissenschaftler und Autor. Er wurde 1989 in Kappeln in Schleswig-Holstein geboren und wuchs in Süderbrarup auf. An der Universität Bremen studierte er Germanistik und Kulturwissenschaft, sowie Transnationale Literaturwissenschaft. Seinen spielerischen, verträumten Umgang mit der deutschen Sprache hat er durch Lyrikveröffentlichungen in diversen Anthologien bereits angedeutet, ehe er seine Aufmerksamkeit der Welt der Prosa zuwandte. „Der einfache Weg“ ist dabei sein erstes großes Projekt dieser Art. Heute lebt er zusammen mit seiner Frau in Neuss.
Impressum
© 2021 Baltrum Verlag GbR
BV 2151 – Der einfache Weg
Umschlaggestaltung: Baltrum Verlag GbR
Illustration: Baltrum Verlag GbR
Lektorat, Korrektorat: Baltrum Verlag GbR
Herausgeber: Baltrum Verlag GbR
Verlag: Baltrum Verlag GbR, Weststraße 5, 67454 Haßloch
Internet: www.baltrum-verlag.de
E-Mail an info@baltrum-verlag.de
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Der einfache Weg
Von Finn Lorenzen
Baltrum Verlag
Weststraße 5
67454 Haßloch
Der einfache Weg
Die Welt der Erinnerungen ist voller Wunder, über die ich manchmal nur staunen kann. Es ist faszinierend zu beobachten, wie sehr bestimmte Begebenheiten einem im Gedächtnis bleiben. Noch faszinierender ist es sogar, wenn man sich selbst nach den Gründen fragt, weshalb dieses und jenes Ereignis einem auch nach Jahren noch in aller Deutlichkeit vor dem inneren Auge erscheint, und am Ende dabei keinerlei Antwort bekommt.
In letzter Zeit erinnere ich mich häufig an eine besondere Begegnung, die mich in der Folge immer wieder zum Schmunzeln, aber auch zum Nachdenken gebracht hat. Sie ist eine jener wundersamen Erinnerungen, die wahrscheinlich noch lange bei mir bleiben wird, ohne vielleicht jemals völlig vergessen zu werden.
Im letzten Herbst bekam ich eines Abends einen unerwarteten Anruf. Meine Großtante Anni war völlig überraschend verstorben. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass sie krank gewesen war. Nach allem, was ich weiß, soll es schnell gegangen sein, doch mehr hat man mir nie erzählt. Meine Eltern hatten mir diese Botschaft aus der Kabine eines Kreuzfahrtschiffes übermittelt, zusammen mit der Bitte, ihren Platz einzunehmen, wenn die Familie in aller Form Abschied nahm. Nachdem wir aufgelegt hatten und ich über die ganze Sache nachgedacht hatte, wurde mir erschreckend bewusst, wie wenig ich Anni gekannt hatte, wie wenig ich über sie wusste und wie wenig mich mit ihr verbunden hatte. Für mich war sie nahezu fremd, wie eine selten auftretende Figur aus dem Hörensagen. Dennoch entschloss ich mich, dem Wunsch meiner Eltern nachzukommen, die Stadt für diesen Anlass zu verlassen und aufs Land zu fahren.
Ich war lange unterwegs. Das Navi lotste mich über schier endlose Landstraßen, durch neblige und kahler werdende Herbstwälder und über mit abgeernteten Feldern bekleidete Hügel. Nach Stunden fuhr ich in ein kleines Dorf und meine Reise nahm ein Ende. Alte Bauernhäuser standen zu beiden Seiten der Straße hinter ihren Hofplätzen und umgeben von ebenso alten Stallungen und Schuppen. Im Grau des frühen Nachmittags wirkte die Gemeinde verlassen, wie ein Relikt aus längst vergangener Zeit. Vor vielen Jahren bin ich das letzte Mal dort gewesen, doch nicht ein Detail dieses trauernden Idylls kam mir noch bekannt vor. Es war einfach zu lange her.
Die Beerdigung selbst empfand ich, ohne sie abwerten zu wollen, als eher schmucklos. In der kleinen Dorfkapelle fanden sich mit gesenkten Köpfen Nachbarn und Verwandte ein. Die Haare der meisten Gäste waren lockig und grau, vereinzelt hoben sich matt leuchtende, weiße Schöpfe von den schwarzen Mänteln ab. Ich fand Platz auf einer der hinteren Holzbänke und lauschte den andächtigen Worten des feisten Pfarrers und dem Orgelspiel, das der Trauergemeinde bei jedem Einsatz ein kaum hörbares Seufzen entlockte. Als ich weiter vorn den Sarg erkennen konnte, umgeben von Blumenwerk und letzten Grüßen, fragte ich mich, ob ich die Person, die darin lag, heute wiedererkennen würde und wusste doch insgeheim die Antwort.
Nach der Zeremonie zogen die Trauernden vom Friedhof in einer Schlange wortlos hintereinander die Straße herunter zum Dorfkrug, einem niedrigen Altbau, der schon vor hundert Jahren dort gestanden haben mochte. Zwar konnte man vereinzelte Bemühungen erkennen, das Haus zu renovieren, doch weder die moosigen roten Ziegel an der Seitenwand noch der halb neue Putz an der Front konnten die alte Seele des Dorfes verbergen, die dieser Ort in lautlosen Zügen atmete. Als ich vor der Eingangstür stehen blieb und mir vorzustellen versuchte, welche Geschichten dieses Gebäude wohl schon gesehen und gehört hatte, wie viele Hochzeiten und Geburtstage, wie viele Schützenfeste und Beerdigungen hier wohl schon gefeiert worden sind, klopfte mir mein Onkel auf die Schulter. Er umarmte mich und sagte mir mit schwacher Stimme, dass es schön sei, mich hier zu sehen. Gemeinsam gingen wir hinein, doch ich wunderte mich darüber, wieso ich ihn in der Kirche nicht gesehen hatte.
Wir folgten dem Strom der Gemeinschaft durch eine urige Schankstube hindurch in einen größeren Saal, in dem emsige Kellnerinnen bereits Kaffeegeschirr auftrugen. Es dauerte nicht lange und ich fand mich an einer langen Tischreihe wieder. Ich schaute mich um und erkannte unter meinen Sitznachbarn tatsächlich niemanden. Selbst mein Onkel, der mir von all den anwesenden Menschen am vertrautesten war, war wie schon zuvor in der Menge verschwunden. Eine Gruppe derber junger Männer saß unweit von mir zusammen und schaufelte sich gleichmütig Stücke trockenen Butterkuchens in den Mund. Sie sahen sich derart ähnlich, dass ich annahm, sie wären Brüder oder Cousins. Wahrscheinlich waren sie um viele Ecken auch mit mir verwand, ohne dass ich davon wusste.
Nach einer Weile dann, und ich weiß, dass es nicht sehr lang gewesen sein kann, erhob ich mich schließlich von meinem Stuhl und wandte mich zum Gehen. Meine Aufgabe war erfüllt und auch wenn ich mich ein wenig schlecht fühlte, so hielt mich nichts mehr in diesem Dorf. Ich verließ den Saal der Trauerfeier, betrat die Schankstube, nahm meinen Mantel vom Garderobenständer nahe der Tür und hatte den Dorfkrug fast schon verlassen, als ich den Regen bemerkte, der in einem unbarmherzigen Schauer herniederging. Wie durch einen dichten, grau flimmernden Vorhang wurde die Umgebung des Hauses verhüllt und die Erde füllte sich mit Wasser. Auf der Oberfläche der Pfützen zeichneten sich die Einschläge unzähliger Tropfen ab und mir war klar, dass ich es niemals trockenen Hauptes bis zum Auto schaffen würde. Also beschloss ich, mich in Geduld zu üben und den Guss abzuwarten.
Am Schanktresen in der Nähe der Tür saß ein älterer Herr, völlig versunken in einen Gedanken, wie es schien. Da ich nicht wusste, wohin ich gehen sollte, setzte ich mich auf den freien Hocker neben ihm und blieb erst einmal dort sitzen. Die Frau hinter der Bar kritzelte etwas auf ihren kleinen Block und hob in kurzen Abständen immer wieder prüfend den Blick.
‘Ihr entgeht nichts’, dachte ich mir im Stillen. Dann legte sie ihren Kugelschreiber weg, drehte sich routiniert um und füllte ein Kornglas mit einer klaren, farblosen Flüssigkeit. Sie stellte es vor dem Alten ab und dieser griff mit zittriger Hand danach. Ich konnte nicht sagen, was sich genau in dem Glas befand, doch ganz gleich was es war, es schien seine Lebensgeister geweckt zu haben. Der Alte erwachte aus seiner Lethargie, schüttelte sich kaum merklich und nachdem er meiner gewahr wurde, sprach er mich an.
»Gehören Sie auch zur Trauergemeinde?«
»Ja.«
Er drehte den Kopf zu mir und schaute mich müde, aber interessiert an. Sein Gesicht erinnerte mich an einen alten Baum, knorrig und Zeuge unzähliger Tage. Die kahle Stirn lag in Falten, die trüben Augen tief in ihren Höhlen und der süßliche Duft von Pfeifentabak, der an seinem gehäkelten Pullover hing, erinnerten mich an ein altes Gefühl von Heimat.
»Ach, dann sind Sie bestimmt der Enkel von Anni.«
»Ich bin der Großneffe.«
»Ach, dann vom Peter der Enkel?«
Peter war Großtante Annis kleiner Bruder gewesen, den ich wirklich nur noch aus Geschichten von früher kannte. Doch auch diese Konstellation stimmte noch nicht und somit klärte ich ihn so einfach es ging über unseren Familienstammbaum auf. Annis bereits vor mehr als zehn Jahren verstorbener Mann hatte eine Schwester, welche wiederum meine Großmutter war. Er folgte mir aufmerksam und schien sich jedes einzelne Gesicht in Erinnerung zu rufen. Als ich meine Ausführungen abgeschlossen hatte, nickten wir beide und schwiegen eine kurze Weile.
»Herzliches Beileid jedenfalls. Sie war ein anständiges Mädel«, begann er dann und schaute in die Ferne, dann drehte er sich wieder zu mir um.
»Ich bin der Nachbar, von dem Hof hier die Dorfstraße runter.« Er deutete mit der Hand in eine Richtung, in die die Straße wohl führen mochte, doch ich kannte die Gegend nicht gut genug, um mir ein Bild machen zu können. Trotzdem nickte ich höflich.
»Auf der rechten Seite. Albrecht Jonter.«
»Andreas Rauch«, antwortete ich und bot ihm meine Hand an. Er fasste sie mit festem Druck.
»Ja, es tut mir leid um sie«, begann er erneut, fast so, als würde er ein Selbstgespräch führen, »aber auch das gehört nun mal zum Leben dazu. Herzliches Beileid.«
»Ich kannte Sie kaum«, sagte ich tonlos. Ich wusste nicht, warum ich es sagte, doch es war bereits ausgesprochen, als ich es bemerkt hatte.
»Das ist schade. Ich kannte sie jetzt eine ganze Weile. Wirklich ein anständiges Mädel.« Während er sprach nickte er, um seine Aussage zu bekräftigen. Darauf wusste ich keine Antwort und wir schwiegen erneut.
Ich schaute mich um, betrachtete die Wimpel verschiedener Kegelvereine an der Wand, Fotos von Veranstaltungen und Feiern, einen angestaubten Schützenpokal auf einem hölzernen Sims. Dieser Krug war so sehr das, was man sich ausmalte, wenn man sich einen Ort der Dorfgeschichte vorstellte. Während ich meinen Blick über all dies schweifen ließ, wurde ich auf einmal auf eine Stimme aufmerksam. Im Hinterzimmer der Bar lief ein Fernseher. Eine streng aussehende Frau in einem makellosen blauen Blazer verlas die aktuellen Nachrichten und kam gerade zu einer Sondermeldung aus dem Fußball:
»Der Hamburger SV hat nach erneuter Pleitenserie seinen Trainer entlassen. Übernehmen wird bis auf weiteres der Jugendtrainer …«
»Als ob das die Lösung ist, so schlecht wie die spielen!« fiel der alte Albrecht der Frau ins Wort und sprach damit genau die Gedanken aus, die auch mir im ersten Moment gekommen waren. Ich hielt es einmal sehr mit dem HSV, aber nach dem Abstieg in die Zweite Bundesliga, mit dem anhaltenden Chaos in der Vereinsführung und dem immer schlechter werdenden Fußball hatte er sich leider meine Sympathien verspielt.
Ich weiß nicht, woher dieser plötzliche Impuls kam, doch auf einmal überfiel mich eine seltsame Diskussionsfreude. »Manchmal geht es eben nicht anders«, begann ich zögernd, fast beiläufig, »wenn der Trainer die Spieler nicht mehr erreichen und sie motivieren kann, ist das durchaus eine Möglichkeit.«
Ich bemerkte, dass Albrecht mich zweifelnd anschaute. Also fuhr ich fort.
»Genauso kann das System, das der Trainer vertritt und spielen lässt, nicht das sein, das in der Situation vielleicht das Richtige wäre. Wenn du in 30 Spielen nur 20 Tore geschossen hast und auf dem Rest dringend gewinnen musst, brauchst du niemanden, der sich auf die Abwehr spezialisiert hat. Wenn der Trainer nicht die passende Philosophie verfolgt oder die Spieler mit seiner Idee schlicht und einfach überfordert sind, kann man auch mal einen Trainer entlassen.«
»Ja, das mag ja sein«, antwortete Albrecht mit dem Nachdruck eines leidgeplagten Fans, »aber man hat schon das Gefühl, dass die da oben immer den einfachen Weg gehen wollen in solchen Situationen! Manchmal liegt das Problem aber tiefer. Der einfache Weg ist nicht immer der beste.« Er hielt inne, so als hätte er sich ganz plötzlich an etwas Wichtiges erinnert. Sein Blick entfernte sich mehr und mehr und mir wurde klar, dass unser Fußballfachgespräch hier sein Ende gefunden hatte. Vor meinen Augen verfiel er in einen seltsamen Zustand des rätselhaften Brütens über Dingen, die ich beim besten Willen nicht erahnen konnte. Mit düsterer Stimme ließ er mich an seinen Gedanken teilhaben.
»Ich habe es damals selbst gelernt. Das ganze Dorf hat es gelernt. Die Geschichte mit Alexander Darber hat es damals allen gezeigt.« Im Angesicht dieser kryptischen Worte, die mit unerschütterlichem Ernst gesprochen wurden, lief mir ein Schauer über den Rücken. Ich wusste nicht, wovon er sprach, doch die Art, wie er in die Ferne schaute, auf Dinge, die längst gewesen waren, machte mich in diesem Moment so neugierig, dass ich für einen kurzen Moment meine höfliche Zurückhaltung vergaß.
»Was meinen Sie?« fragte ich vorsichtig. Der alte Mann kehrte ins Jetzt zurück. Er hatte mich gehört und nachdem er mir mit einem verheißungsvollen Blick geantwortet hatte, hob er seine große knorrige Hand vom Tresen.
»Julchen, sei doch so lieb und gib’ mir noch mal einen kleinen!« Die Frau hinter der Bar nahm wortlos seine Bestellung auf und füllte sein Glas erneut. Während die ersten Trauergäste aus dem Saal zogen, kopfnickend die Wirtin grüßten und sich auf den Weg in den Regen machten, schien es, als sänne der Alte nach den Worten der Zeit.
»Es ist eine Geschichte, die damals das ganze Dorf hier in Aufruhr versetzt hat. Eine schreckliche Geschichte ist das gewesen. Ich möchte sie Ihnen erzählen, aber damit Sie sie besser verstehen, beginne ich an einem Punkt, an dem noch niemand im Dorf geglaubt hat, dass so etwas hier passieren könnte.«
Und dort, im Herzen des Dorfes, begann Albrecht Jonter seine Geschichte zu entfalten.
*
Sehen Sie, dieses Dorf ist immer ein ruhiger und friedlicher Ort gewesen. Manche würden es vielleicht verschlafen nennen, doch die Menschen hier sind gut und fleißig und haben auf den Höfen und in den Geschäften immer viel zu tun gehabt. Hier herrscht ein reges, wenn auch ein anderes Leben als in der Stadt und wie in jeder Gemeinschaft gibt es hier und da auch mal einen Streit unter Nachbarn, eine Rivalität unter jungen Männern oder einen Groll zwischen zwei Familien, aber abgesehen von zwei oder drei denkwürdigen Prügeleien unter den Linden blieben die Leute freundlich zu einander und begegneten sich mit Respekt. Man kannte sich schließlich schon ewig, oft schon von Geburt an und einige Familien müssen schon seit mehr als hundert Jahren hier wohnen.
Unten am Ententeich, wenn Sie die Straße Richtung Westen weitergehen und dann die nächste abbiegen, lebte seinerzeit die Familie Darber. Das ist jetzt schon eine ganze Weile her. Wenn man heute an dem Haus, einem alten, hell verputzten Zweietagenbau, vorbeigeht, sieht es aus, als hätte es sich sein Dasein ganz anders vorgestellt und man bekommt fast Mitleid, wenn man es so verlassen und heruntergekommen in der Mitte des Dorfes stehen sieht. Doch die Darbers konnten es natürlich nicht mitnehmen, als sie gingen, und jetzt steht es da und beobachtet mit leeren Fenstern die Fahrräder und die Traktoren auf der Straße.
Friedrich Darber war ein stämmiger, untersetzter Beamter, dem man eine harte Hand nachsagte, aber auch ein weiches Herz, je nachdem, wen man fragte. Seine Frau, Marianne, war ein herzliches Ding, das es liebte, im Dorf auf Wanderschaft zu gehen und es hasste, zu Hause zu sein und still zu sitzen. Oftmals bot sie den Bauern ihre kräftigen Arme und ihr breites Kreuz an und wenn bei einem einmal Mal Not am Mann war, fragte man, ob jemand zufällig die »Strohblonde«, denn so nannte man sie, gesehen hatte. Nur die hatte den Schwung und die Kraft, den Karren noch aus dem Dreck zu ziehen. Ich habe beide als sehr angenehme und herzliche Menschen in Erinnerung. Jeder kannte, achte und schätzte sie, jeder auf seine eigene Art und Weise. Manchmal erinnere ich mich an Marianne Darbers Apfelkuchen, und noch heute frage ich mich, was das süße Geheimnis dahinter gewesen sein mochte.
Ihr Sohn und einziges Kind schlug dann jedoch völlig aus der Art. Der Junge sah seinen Eltern kaum ähnlich, war von Beginn an ganz feingliedrig und dürr. Wenn man ihn in den großen, derben Händen von Vater und Mutter sah, bekam man fast Angst um ihn. Doch sie zogen ihn sehr zärtlich und liebevoll auf.
Und dieser Sohn war Alexander Darber. Der Alexander Darber, von dem die Geschichte hier handelt und dem man, wie jedem kleinen Kind, nie ein Scharmützel, und sei es auch noch so klein, zutrauen konnte. Wenn man bedenkt, was aus ihm wurde, wird mir ganz unwohl, auch heute noch.
Dabei wuchs er ganz geregelt auf. Er war weder unglücklich noch einsam. Man sah ihn mit den Jungs und den Mädchen im Dorf spielen, den Älteren und den Jüngeren. In so kleinen Gemeinden wie der unseren wiederholen sich die Bilder immer wieder, Generation um Generation. Jungs und Mädchen necken und ärgern sich, tollen in großen bunten Trauben durch die Gärten und über die Wiesen, während Sonne und Wind den lachenden Gesichtern Farbe geben.
Alexander jedoch fiel in dieser Traube stets auf, denn er wirkte immer ein wenig bleich, ein wenig dünn und krank. Ich habe ihn damals an dem einen oder anderen Sommerabend durch die Straßen tollen sehen. Er lief langsamer als die anderen, blieb häufig stehen, keuchte wie ein alter Mann und hatte stets etwas Unverschämtes in seinem Blick, wenn ich mich recht erinnere. Natürlich mögen meine Erinnerungen durch das, was passiert ist, getrübt worden sein, aber ich kann nur von dem erzählen, was ich heute vor mir sehe. Das muss inzwischen sechzig Jahre her sein, wenn nicht mehr.
Alexander mochte acht oder neun gewesen sein, als er sich, wie alle Jungs in diesem Alter einen besten Freund gesucht hatte, einen Komplizen und Vertrauten, ohne den kein Abenteuer unternommen werden durfte. Dieser Freund war ein fleischiger, handfester Kamerad namens Karlchen Schneider und er wohnte auf der anderen Seite des Teichs. Oft sah ich die beiden umherziehen, sich mit Stöckern prügeln und über Gott und die Welt lachen. Einmal erwischte ich die beiden dabei, wie sie in Annis Garten Kirschen gestohlen haben. Ganz geheimnisvoll, mit eingezogenem Kopf und auf Zehenspitzen schlichen sie über das Gras hinüber zum Baum. Einer von beiden kletterte rasch hinauf und verschwand in der Krone, während der andere sich immer wieder nach dem offenen Küchenfenster umsah, wo jederzeit jemand auftauchen konnte. Dann fielen die ersten Früchte aus dem Baum und der Wachposten fing sie mit einem Tuch auf.
Ich schaute mir das Spiel eine Weile an und kam nicht umhin, mir mit den Jungs einen kleinen Spaß zu erlauben. Als der Pflücker wieder aus dem Astwerk geklettert war und sich die beiden Diebe ihres Erfolges zu rühmen begannen, hob ich die Stimme und sie ließen vor Schreck sofort alles fallen, ein ganzes Tuch voller schöner roter Kirschen. Angelockt durch den plötzlichen Lärm stürmte dann Annis Mutter in den Vorgarten und drohte ihnen mit dem großen Suppenlöffel. Die Bengel türmten Hals über Kopf durch die Büsche und trauten sich wahrscheinlich erst zu einem späteren Zeitpunkt wieder hervor, um ihre auf dem Rasen verstreute Beute einzusacken.
Der Sommer in dem Jahr war schon ein besonderer. Die Kinder erfreuten sich an den vielen Sonnentagen, und die Alten erfreuten sich an den zufriedenen Kindern, deren Rufe und Spiele sie an vergangene Tage erinnerte. Es war ein Sommer, der jeder Seele Gutes tat, doch auf seinem Höhepunkt mit diesem Unfall weiter hinten am Bach endete.
Im Wald, gleich wenn man hier durch die Felder geht, spielen die Kinder des Dorfes schon seit vielen Generationen. Aus einem guten Grund, denn er ist friedlich und voller kleiner Wunder, die sich in den Kletterbäumen verbergen oder sich in Form von besonders schönen Blumen und dem weichen Moos zeigen, auf dem sich nach ihren Eltern und Großeltern zuvor nun die Kinder niederließen, um selig in den Tag hinein zu träumen. Wenn man diesen Wald betritt, von dem man sich erzählt, dass früher einmal Räuber darin umhergezogen sind und einen Schatz versteckt haben, hört man neben dem Flüstern der Blätter, dem Gesang der Vögel und dem gelegentlichen Klopfen eines einzelnen Spechts das Rauschen eines kleinen Bachs, der von Osten her in einen kleinen Tümpel fließt. Kinder lieben es, aus herumliegenden Ästen kleine Stege und Brücken über das Wasser zu bauen, oder über die Steine, die die Oberfläche des knietiefen Laufs durchbrechen, von Ufer zu Ufer zu hüpfen.
An jenem Tag jedenfalls, es muss an einem Sonntag im Spätsommer gewesen sein, waren Alexander und Karlchen auf dem Weg dorthin. Ich hörte aus meinem Garten heraus, wie sie die Straße entlang kamen, mit gefundenen Stöckern die Luft durchschlagend und wild spekulierend, wo der legendäre Räuberschatz, von dem man so viel gehört hatte, versteckt sein könnte. Offenbar hatten sie eine sehr genaue Idee davon und konnten es kaum erwarten, sie zu überprüfen. Ihr Frohsinn und ihre Abenteuerlust nahmen jeden, der ihres Weges kam, gefangen und erinnerte sie an die eigenen Räuberjagden früher und das aufgeregte, atemlose Lachen. So auch mich.
Doch im Schein der Abendsonne kehrte nur einer von ihnen zurück. In Alexanders Bewegungen lag etwas Scheues, Linkisches und sein Blick war starr auf den Schatten vor seinen Füßen gerichtet, während er die Dorfstraße entlang schlich. Er war schon ein ganzes Stück gegangen, als ihn die Witwe Gronau ansprach. Sie hängte gerade ihre Wäsche auf, als sie aus dem Augenwinkel Alexander bemerkte und sofort spürte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Der Junge nahm keine Notiz von ihr und setzte zögernd einen Fuß vor den anderen. In ihrer Neugier entschloss sich die Witwe Gronau, dem merkwürdigen Verhalten nachzugehen.
»Alexander«, rief sie, woraufhin dieser in seiner Bewegung erstarrte und zu zittern begann.
»Geht es dir gut? Wo hast du denn das Karlchen gelassen?«
Alexander jedoch reagierte kaum und mochte die Frau nicht anschauen.
»Habt ihr euch gestritten?«
Wenn sie von dieser Begegnung erzählte, beschrieb sie sein Zittern, einen inneren Kampf, seine in Schrecken versteinerten Augen, mit denen er ihrem fragenden Blick immerzu auswich. Als er endlich sprach, sagte er leise: »Karl ist gefallen.«
Die Witwe erschrak.
»Wo ist er denn gefallen?«
»Am Bach im Räuberwald.«
Die Witwe ließ die Wäsche Wäsche sein und stürmte davon, um es den Nachbarn zu erzählen.
»Manchmal beschleicht einen ein fürchterlicher Verdacht. Man sieht etwas, hört etwas und plötzlich durchfährt es einen wie ein unheilvoller Schlag.« Das sagte sie immer, wenn sie von der Begegnung mit Alexander erzählte. Ihr war sofort klar, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Rasch trommelte sie ein paar junge Burschen zusammen, die auf dem Nachbarhof ihrer Arbeit nachgingen. Sie ließen beim Anblick der erschrockenen Witwe alles stehen und liegen, erkannten den Ernst der Lage und machten sich sofort auf, um Karlchen Schneider zu suchen, doch als man ihn im Wald fand, lebte er nicht mehr.
Man trug ihn nach Hause, seine armen Eltern trauerten sehr und das ganze Dorf fühlte mit ihnen. Doch ebenso verzweifelt, wie man mit der Gewissheit kämpfte, dass der kleine Pausback nicht mehr durch die Straßen laufen sollte, befragte man Alexander nach dem, was sich im Wald abgespielt hatte.
»Karl ist gefallen«, sagte er immer und zu jedem, der das Gespräch mit ihm suchte. Sie sollen nach dem Räuberschatz gesucht haben und als sie den Bach erreicht haben, soll Karlchen auf einem der glatten Steine ausgerutscht und gefallen sein. Während er in Bruchstücken von dem Unfall erzählte, blieben seine Augen starr und sein Kopf gesenkt. Karlchens Vater, ein tosender, rotgesichtiger Zeitgenosse, vermutete hinter Alexanders Verhalten etwas ganz anderes und drängte ihn in seinem Zorn und unter Androhung von Schlägen mit der Wahrheit rauszurücken. Doch Alexanders Antwort blieb dieselbe, bis er vor Angst ganz die Sprache verlor und seine Eltern ihn vor weiteren Befragungen schützen mussten.
Mit der Zeit lernte auch Herr Schneider, der noch lange seine Zweifel hatte, das Schicksal zu akzeptieren, und man ließ den Jungen in Ruhe. Es wurde ein schwerer Herbst, ein schwerer Winter, doch das Leben im Dorf ging weiter. So etwas passierte und Alexander wuchs heran.
In einem Dorf wie diesem sehen die Älteren den Kindern beim Wachsen zu. Sie sehen sie jeden Tag, morgens, wenn sie sich auf den Schulweg machen und nachmittags beim Spielen in den Gärten. Man begegnet ihnen beim Spazierengehen auf den Feldwegen und sitzt mit Ihnen am Tisch, wenn die Nachbarn sich zum Kaffeetrinken treffen. Man hat sie jeden Tag um sich und weil das so ist, bemerkt man nicht jeden Schritt, den sie gehen, jeden Zug in die Breite und jeden Schuss in die Höhe. Wir begleiten sie voll warmem Stolz und wehmütigen Erinnerungen an früher, bis dann irgendwann plötzlich der Moment kommt, in dem wir erkennen, wie sehr die Zeit doch rennt. Es kommt einem für einen kurzen Augenblick seltsam vor, wenn man zurückdenkt und sagt: »Mensch, es war doch erst gestern, als du gerade so über den Küchentisch kucken konntest!« Aber dieser Tag war längst vergangen und der Bengel war bereits ein Mann, das Mädchen eine Frau und wir waren verblüfft, dass wir ihren Wandel zwar miterlebt, aber nicht wirklich bemerkt hatten.
Bei Alexander war das anders, denn man sah ihn immer seltener und irgendwann gar nicht mehr. Er war nach dem Vorfall am Bach wie verschwunden. Hin und wieder nahm man ihn wahr, wenn er von der Schule kam. Er war wie ein Schatten, den man aus dem Augenwinkel erahnt. Man glaubt, etwas gesehen zu haben, doch wenn man genau hinschaut, ist alles wie immer und man fühlt sich, als hätte einem die Fantasie einen Streich gespielt.
Wenn man ihm dann aber tatsächlich einmal über den Weg lief, fernab von den anderen Kindern, die ihn nach und nach zu vergessen schienen, wie Kinder es nun einmal mit Dingen tun, die verschwinden, dann erschrak man fast ein wenig, denn er war jedes Mal ein ganzes Stück gewachsen und die Züge in seinem Gesicht waren mit jedem Mal markanter und härter geworden. Das Linkische in seiner Art ist ihm jedoch geblieben.
Im Großen und Ganzen ist über seine Jahre nach dem Unfall nicht viel bekannt. Er lebte sehr zurückgezogen, das war uns aufgefallen. Im Haus der Darbers brannte bis spät in die Nacht das Licht und das Dorf begann sich Gedanken zu machen, sich Fragen zu stellen und zu reden, wie es irgendwann immer passiert, wenn etwas nicht den gewohnten Gang geht.
Der Junge grüßte die Nachbarn nicht mehr, verließ kaum noch das Haus und sogar der Frisör bekam ihn nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich hat Marianne irgendwann angefangen, ihm selbst die Haare zu schneiden. Seine Umwelt wurde ihm wahrscheinlich genauso fremd wie andersherum.
Kinder in einem gewissen Alter sind nicht einfach, das weiß jeder. Sie kommen hier und da auf komische Gedanken und hecken verrückte Dinge aus, von denen sie selbst nicht wissen, warum sie das tun. Das Lieschen von nebenan trieb sich viel herum und schwänzte die Schule, Hans Volkersen stahl eines Nachts den guten Schnaps von seinem Vater und vergrub ihn unter einer Brombeerhecke und Hinnerk, der Sohn vom Bäcker hier, stand lange im Ruf, sich gerne zu prügeln. Alexander hingegen war einfach nur fort.
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