Kitabı oku: «Aufzeichnungen aus dem Kellerloch», sayfa 2

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IV

»Ha-ha-ha! Dann werden Sie ja auch an Zahnschmerzen Genuß finden!« werden Sie lachend ausrufen.

Warum nicht, auch im Zahnschmerz liegt ein Genuß, antworte ich. Einmal habe ich einen ganzen Monat Zahnschmerzen gehabt; ich weiß, daß es das gibt. Hierbei leidet man natürlich nicht stumm – man stöhnt; aber dieses Gestöhn ist kein aufrichtiges, es ist ein hinterhältiges Gestöhn, und um diese Hinterhältigkeit geht es ja. Gerade in diesem Gestöhn drückt sich der Genuß des Leidenden aus; empfände er keinen Genuß – so würde er auch nicht stöhnen. Das ist ein gutes Beispiel, meine Herrschaften, ich will bei ihm länger verweilen. In diesem Stöhnen drückt sich erstens die ganze für unser Bewußtsein erniedrigende Zwecklosigkeit dieses Schmerzes aus; die ganze Naturgesetzmäßigkeit; die man zwar zutiefst verachtet, durch die man aber trotzdem leiden muß, die Natur aber nicht. Man kommt zu der Einsicht, daß man zwar keinen Feind, aber einen zugefügten Schmerz hat; zu der Einsicht, daß man samt allen diversen Wagenheim s restlos Sklave seiner Zähne ist; daß, falls es ein Jemand wünscht, die Zähne nicht mehr schmerzen, wünscht er es aber nicht, so werden sie noch weitere drei Monate schmerzen; und schließlich, wenn man sich noch immer nicht abfinden und noch immer auflehnen will, bleibt einem zu seiner Beruhigung höchstens noch übrig, sich selbst durchzuprügeln oder mit der Faust möglichst schmerzhaft auf seine Mauer einzuschlagen, sonst aber absolut nichts. Nun, gerade mit diesen Kränkungen bis aufs Blut, mit diesem Hohn, unbekannt von wem, beginnt schließlich der Genuß, der sich zuweilen bis zu höchster Wollust steigern kann. Ich bitte Sie, meine Herrschaften, hören Sie sich doch irgendwann einmal in das Gestöhn eines gebildeten Menschen des neunzehnten Jahrhunderts hinein, wenn er an Zahnschmerzen leidet, etwa am zweiten oder dritten Tag seiner Krankheit, wenn er nicht mehr so stöhnt wie am ersten Tag, das heißt, nicht nur einfach, weil seine Zähne schmerzen; nicht wie irgendein gewöhnlicher Bauer, sondern wie ein Mensch, der der Bildung und der europäischen Zivilisation teilhaft geworden ist, wie ein Mensch, der sich ›von Heimatscholle und Volksgeist getrennt hat‹, wie man sich jetzt auszudrücken pflegt. Sein Gestöhn wird übel, boshaft, gemein und hält Tag und Nacht an. Dabei weiß er ja selbst, daß dieses Stöhnen ihm nicht den geringsten Vorteil bringen kann; er weiß am allerbesten, daß er damit ganz umsonst sich selbst und andere peinigt und reizt; er sieht sogar ein, daß das Publikum, vor dem er sich solche Mühe gibt, seine ganze Familie, bereits Widerwillen empfindet, ihm nicht für eine Kopeke glaubt und bei sich denkt, daß er auch anders, schlichter, stöhnen könnte, ohne Rouladen und Triller, daß er nur aus Bosheit und Hinterhältigkeit Mutwillen treibt. Aber in diesen Einsichten und in dieser Schmach liegt ja gerade die Wollust. »Zugegeben, ich falle euch zur Last, ich zerreiße euch das Herz, gönne keinem im Hause Schlaf. So wacht denn auch, fühlt jeden Augenblick mit, daß ich Zahnschmerzen habe. Jetzt bin ich für euch nicht mehr der Held, der ich früher scheinen wollte, sondern einfach ein Ekel, ein Hanswurst. Um so besser. Freut mich, daß ihr mich durchschaut. Mein niederträchtiges Gestöhn widert euch an? Um so besser; gleich werde ich euch eine noch widerlichere Roulade vorstöhnen …« Können Sie es immer noch nicht begreifen, meine Herrschaften? Nein, es scheint doch, daß man recht weit in seiner Entwicklung und in seinem Bewußtsein fortgeschritten sein muß, um alle Feinheiten dieser Wollust empfinden zu können. Sie lachen? Freut mich. Meine Witze sind selbstverständlich abgeschmackt, niveaulos, verworren, voll von tiefstem Selbstmißtrauen. Dies aber rührt daher, daß ich mich selbst nicht achte. Kann denn ein bewußter Mensch sich überhaupt noch irgendwie achten?

V

Nun, wie ist es denn möglich, wie kann ein Mensch sich auch im geringsten achten, der danach trachtet, gerade in dem Gefühl eigener Erniedrigung einen Genuß zu finden? Ich sage das nicht aus irgendeiner Anwandlung süßlicher Reue. Überhaupt habe ich es nie leiden können, dieses: »Verzeihung, Papachen, ich werde nicht mehr …« – weniger, weil ich nicht fähig gewesen wäre, so etwas zu sagen, sondern im Gegenteil, vielleicht, weil ich gerade eilfertig dazu bereit war, viel zu bereit? Absichtlich ließ ich mich beschuldigen in Fällen, in denen ich völlig unschuldig war. Das war ja gerade das schlimme. Dabei verging ich fast vor Rührung, vor Reue, ich vergoß Tränen und, versteht sich, hielt mich selbst zum besten, wobei ich auch nicht im geringsten heuchelte. Sogar das Herz machte irgendwie mit … Hier ließen sich nicht einmal die Naturgesetze beschuldigen, obwohl gerade die Naturgesetze mich fortwährend und das ganze Leben lang am meisten beleidigten. Es ist widerlich, sich daran zu erinnern, und auch damals schon war es widerlich. Denn bereits nach einer Minute erkannte ich mit Widerwillen, daß das alles Lüge, ekelhafte, vorsätzliche Lüge war, ich meine all diese Reue, all diese Rührung, all diese Gelübde, sich zu bessern. Fragen Sie mich aber, warum ich mich selbst so verunstaltete und peinigte? Antwort: weil es gar zu langweilig war, mit den Händen im Schoß still dazusitzen – so begann ich denn, vor mir selbst Haken zu schlagen. Wahrhaftig, so war es. Beobachten Sie sich selbst, meine Herrschaften, und Sie werden begreifen, daß es so ist. Ich habe mir Abenteuer ausgedacht und das Leben selbst zurechtgedichtet, um wenigstens auf irgendeine Weise zu leben. Wie oft ist es geschehen, daß ich mir, sagen wir, beleidigt vorkam, so, ohne jeden Grund, absichtlich; und obwohl ich selbst wußte, daß ich überhaupt keinen Grund hatte, daß ich mir selbst etwas vormachte, brachte ich mich trotzdem so weit, daß ich mich schließlich tatsächlich tief gekränkt fühlte. Irgendwie neigte ich lebenslang dazu, derartige Kunststücke vorzuführen, bis ich schließlich meiner selbst nicht mehr mächtig war. Einmal wollte ich mich um jeden Preis verlieben, zweimal sogar, ich habe gelitten, meine Herrschaften, seien Sie versichert. Im tiefsten Grund der Seele zwar traut man dem Leiden nicht so ganz, dort regt sich der Hohn. Und dennoch leide ich, und zwar auf die wirkliche, übliche Weise; bin eifersüchtig, gerate außer mir … Und alles aus Langeweile, meine Herrschaften, alles aus Langeweile; die Trägheit erdrückt mich, denn die direkte, legitime, unmittelbare Frucht des Bewußtseins – ist Trägheit, d. h. bewußtes Mit-den-Händen-im-Schoß-Dasitzen. Das habe ich schon früher erwähnt. Ich wiederhole, wiederhole nachdrücklich: alle unmittelbaren und alle Tatmenschen sind ja nur tätig, weil sie stumpfsinnig und beschränkt sind. Wie sich das erklären läßt? Folgendermaßen: Infolge ihrer Beschränktheit nehmen sie die augenscheinlichen und zweitrangigen Ursachen für die primären und lassen sich auf diese Weise rascher und leichter als die anderen überzeugen, daß sie einen unanfechtbaren Grund für ihre Tätigkeit gefunden haben; damit geben sie sich zufrieden, und das ist die Hauptsache. Denn, um eine Tätigkeit zu beginnen, muß man restlos beruhigt und aller Zweifel enthoben sein. Nun, wie soll zum Beispiel ich mich beruhigen? Wo sind meine primären Gründe, auf die ich mich stützen kann, wo meine Ursachen? Woher nehme ich sie? Ich übe mich im Denken, folglich zieht bei mir jeder primäre Grund einen anderen nach sich, der noch primärer ist, und so geht es weiter ins Endlose. Darin besteht das Wesen jeglichen Bewußtseins und Denkens. Somit sind wir schon wieder bei den Naturgesetzen. Und was ist also das Resultat? Dasselbe. Sie erinnern sich: vorhin sprach ich von der Rache (Sie haben es bestimmt nicht verstehen können). Da hieß es: der Mensch rächt sich, weil er es für gerecht hält. Folglich fand er einen primären Grund, nämlich: die Gerechtigkeit. Also ist er rundum beruhigt und rächt sich friedlich und erfolgreich in der tiefen Überzeugung, eine ehrliche und gerechte Tat zu vollbringen. Ich dagegen kann hier keine Gerechtigkeit sehen und schon gar keine Tugend. Wollte ich mich also trotzdem noch rächen, so könnte es allenfalls aus Bosheit geschehen. Die Bosheit könnte, versteht sich, alles übertönen, alle meine Zweifel, und somit mit vollem Erfolg den primären Grund abgeben, gerade weil sie kein Grund sein kann. Aber was soll ich tun, da ich nicht einmal böse bin (davon bin ich vorhin ausgegangen). Auch die Bosheit unterliegt bei mir infolge dieser verwünschten Gesetze des Bewußtseins einer chemischen Zersetzung. Bei näherem Betrachten verflüchtigt sich das Objekt, die Gründe verdunsten, ein Schuldiger ist nicht aufzutreiben, die Beleidigung bleibt nicht Beleidigung, sondern wird Fatum, eine Art Zahnschmerz, an dem keiner schuld ist, und so bleibt wiederum nur ein Ausweg, nämlich die Mauer so schmerzhaft wie möglich zu bearbeiten. Und schließlich zuckt man mit den Schultern, denn der primäre Grund bleibt unauffindbar. Versucht man aber, blindlings, ohne abzuwägen, ohne primären Grund für einen Augenblick das Bewußtsein vertreibend, sich vom Gefühl hinreißen zu lassen; läßt man sich von Haß oder Liebe ergreifen, nur, um nicht mit den Händen im Schoß stillzusitzen – übermorgen, das ist die allerletzte Frist, wirst du dich selbst verachten, weil du dich selbst wissentlich betrogen hast. Resultat: Seifenblase und Trägheit. Oh, meine Herrschaften, vielleicht halte ich mich nur deswegen für einen klugen Menschen, weil ich in meinem ganzen Leben weder etwas habe beginnen noch beenden können. Schon gut, schon gut, ich mag ein Schwätzer sein, ein harmloser, lästiger Schwätzer, wie wir es ja alle sind. Aber was soll man denn tun, wenn die einzige und direkte Bestimmung eines jeglichen klugen Menschen in Schwatzen besteht: das heißt darin, mit Vorsatz leeres Stroh zu dreschen.

VI

Oh, wenn ich doch nur aus Faulheit untätig wäre. Herrgott, wie würde ich mich dann achten. Ich würde mich gerade deswegen achten, weil ich dann doch fähig wäre, wenigstens faul zu sein; dann besäße ich wenigstens eine gewissermaßen positive Eigenschaft, von der ich dann auch selbst überzeugt sein könnte. Frage: Wer ist das? Antwort: ein Faulpelz; aber ich bitte Sie, das hört sich doch äußerst angenehm an, das heißt, man ist definitiv bestimmt, das heißt, es gibt etwas, was sich über mich sagen läßt. »Ein Faulpelz!« – aber das ist doch Titel und Bestimmung, das ist doch eine Karriere, meine Herrschaften. Scherz beiseite, so ist es! Dann bin ich rechtmäßiges Mitglied eines renommierten Vereins und achte mich unablässig. Ich kannte einen Herrn, der sein Leben lang stolz darauf war, sich auf Lafitte-Weine zu verstehen. Er hielt das für einen ausgesprochenen Vorzug und zweifelte nie an sich selbst. Er starb nicht nur mit ruhigem, sondern mit einem triumphierenden Gewissen und war damit vollkommen im Recht. Denn hätte auch ich Karriere gemacht, ich wäre ein Faulpelz und Vielfraß geworden, doch beileibe kein gewöhnlicher, sondern einer mit Sinn für das Schöne und Erhabene. Was halten Sie davon? Ich träumte schon lange davon. Dieses ›Schöne und Erhabene‹ hat mir doch vierzig Jahre lang schwer im Magen gelegen; das sage ich jetzt, mit meinen vierzig Jahren, damals aber – oh, damals wäre alles ganz anders geworden! Damals hätte ich sofort eine entsprechende Tätigkeit gefunden – und zwar: auf das Wohl alles Schönen und Erhabenen zu trinken. Ich hätte jede Gelegenheit ergriffen, zuerst eine Träne in mein Glas fallen zu lassen und es dann auf das Wohl des Schönen und Erhabenen zu leeren. Alles auf der Welt würde ich dann in Schönes und Erhabenes verwandelt und noch im ekelhaftesten, unzweifelhaften Schlamm Schönes und Erhabenes gefunden haben. Ich hätte die Gabe erlangt, Tränen zu vergießen wie ein nasser Schwamm. Der Maler Gay zum Beispiel malt ein Bild – sofort trinke ich auf die Gesundheit des Künstlers Gay, der das Bild gemalt hat, denn ich liebe alles Schöne und Erhabene. Ein Schriftsteller schreibt »wie es euch gefällt«; sofort trinke ich auf das Wohl dessen, »der euch gefällt«, denn ich liebe das Schöne und Erhabene. Achtung würde ich deshalb für mich heischen und jeden verfolgen, der mir nicht Achtung zollt. Ich lebe ruhig, ich sterbe feierlich – das ist ja reizend, wirklich reizend! Und was für einen Schmerbauch hätte ich mir zugelegt, welch dreifaches Doppelkinn! Über eine Schnapsnase würde ich verfügen, bei deren Anblick jeder ausrufen müßte: »Das ist aber ein Plus! Das ist mal wirklich was Positives!« Sagen Sie, was Sie wollen, meine Herrschaften, aber solche Äußerungen klingen doch in unserem negativen Zeitalter außerordentlich angenehm.

VII

Doch das sind alles goldene Träume. Oh, sagen Sie bitte, wer hat als erster verkündigt, wer zuerst bekanntgemacht, daß der Mensch nur deswegen Gemeinheiten begehe, weil er seine wahren Interessen nicht kenne; und daß, wollte man ihn aufklären, ihm die Augen für diese wahren, normalen Interessen öffnen, der Mensch sofort aufhören würde, Gemeinheiten zu begehen; er würde gut und edel werden, denn einmal aufgeklärt und seinen eigentlichen Vorteil einsehend, müßte er seinen Vorteil in dem Guten finden, denn bekanntermaßen könne niemand vorsätzlich gegen seinen eigenen Vorteil handeln. Folglich würde der aufgeklärte Mensch gewissermaßen aus Notdurft das Gute tun. O Unschuld! O heilige Unschuld! Wann ist es denn schon vorgekommen im Laufe all dieser verflossenen Jahrtausende, daß der Mensch einzig und allein um des eigenen Vorteils willen gehandelt hätte? Wohin mit den Millionen von Tatsachen, die da bezeugen, daß Menschen vorsätzlich, das heißt bei voller Einsicht in ihren wirklichen Vorteil, diesen dennoch hintansetzten und einen anderen Weg einschlugen, das Wagnis, das Geratewohl, von keinem und durch nichts dazu gezwungen, allein aus Auflehnung gegen den vorgezeichneten Weg, und sich hartnäckig und eigenwillig einen anderen, mühseligen, bahnten, einen absurden, zuweilen im Stockfinstern herumtappend. Das bedeutet doch, daß ihnen diese Hartnäckigkeit und dieser Eigenwille bei weitem lieber waren als jeder Vorteil … Vorteil! Was ist Vorteil? Könnten Sie sich etwa anmaßen, ganz genau anzugeben, worin eigentlich der menschliche Vorteil besteht, wenn es nicht selten vorkommt, daß der menschliche Vorteil nicht nur darin bestehen kann, sondern sogar bestehen muß, sich das Schlechte und nicht das Vorteilhafte zu wünschen? Sollte das aber sein, wird einmal die Möglichkeit eines solchen Falles zugegeben, so ist die ganze Regel über den Haufen geworfen. Und was meinen Sie, kann es einen solchen Fall geben oder nicht? Sie lachen; lachen Sie nur, meine Herrschaften, aber antworten Sie auch: Sind denn die menschlichen Vorteile richtig registriert? Gibt es nicht auch solche, die nicht nur nicht klassifiziert sind, sondern die sich überhaupt nicht klassifizieren lassen? Haben Sie doch, meine Herrschaften, soviel ich weiß, Ihr ganzes Register der menschlichen Vorteile dem statistischen Durchschnitt und den nationalökonomischen Formeln entnommen. Ihre Vorteile sind doch – Wohlergehen, Reichtum, Freiheit, Bequemlichkeit usw. usw., so daß ein Mensch, beispielsweise, der sich unmißverständlich und vorsätzlich gegen dieses Register auflehnt, nach Ihrer Meinung und, nun ja, selbstverständlich auch nach meiner, entweder ein Obskurant oder ein völlig Verrückter sein müßte, nicht wahr? Aber bei alledem ist doch eines verwunderlich: Wie kommt es, daß all diese Statistiker, Weisen und Menschenfreunde beim Errechnen der menschlichen Vorteile fortwährend einen ganz bestimmten Vorteil übersehen? Mit ihm wird gar nicht gerechnet, zumal nicht so, wie mit ihm gerechnet werden müßte, davon aber hängt die ganze Rechnung ab. Es wäre weiter kein besonderer Aufwand, man hätte diesen Vorteil in Augenschein nehmen und einfach auf die Liste setzen können. Das Unglück liegt aber darin, daß dieser eigenartige Vorteil sich überhaupt nicht klassifizieren und in keine Liste aufnehmen läßt. So habe ich zum Beispiel einen Freund … aber meine Herrschaften, er ist ja bestimmt auch Ihr Freund; und überhaupt, wessen Freund, ja wessen Freund ist er denn nicht? Angesichts einer Aufgabe wird dieser Herr Ihnen sofort beredt und deutlich auseinandersetzen, wie er gemäß den Gesetzen der Vernunft und der Wahrheit handeln muß. Nicht genug, er wird mit Feuer und Leidenschaft über die wahren, normalen menschlichen Interessen deklamieren; er wird spöttisch die kurzsichtigen Dummköpfe zurechtweisen, die weder ihre eigenen Vorteile noch die wahre Bedeutung der Tugend erkennen und – schon in der nächsten Viertelstunde, ohne jeden äußeren Anlaß, aber aus irgendeinem inneren, der sich stärker als all seine Interessen erweist, wird er einen Haken schlagen, das heißt, er wird offen gegen alles vorgehen, was er selbst behauptet hat: gegen die Gesetze der Vernunft, gegen den eigenen Vorteil, also, mit einem Wort, gegen alles. Ich möchte vorausschicken, daß mein Freund ein Kollektivum ist und daß es darum nicht gut angeht, ihn allein zu beschuldigen. Das ist es ja gerade, meine Herrschaften, gibt es denn nicht wirklich etwas, das fast jedem Menschen wertvoller ist als seine besten Vorteile? Man könnte wohl sagen (um nicht gegen die Logik zu verstoßen), es gibt da solch einen vorteilhaftesten Vorteil (eben den ausgelassenen, den wir vorhin erwähnten), einen Vorteil, wichtiger und vorteilhafter als alle anderen Vorteile, um dessentwillen der Mensch bereit ist, wenn es darauf ankommt, sämtliche Gesetze umzustoßen, das heißt, wider Vernunft, Ehre, Ruhe, Wohlergehen zu handeln – kurz, gegen all diese ausgezeichneten und nützlichen Werte, allein um diesen ureigenen, vorteilhaftesten Vorteil, der ihm am teuersten ist, zu erlangen.

»Aber es geht doch wieder um Vorteile!« unterbrechen Sie mich.

Erlauben Sie, meine Herrschaften, wir werden uns noch verständigen, mir ist es nicht um ein Wortspiel zu tun, sondern darum, daß dieser Vorteil gerade deswegen bemerkenswert ist, weil er unsere ganzen Klassifikationen zerstört und auch alle Systeme, die von den Menschenfreunden zum Wohl des Menschengeschlechts aufgestellt wurden, immer wieder sprengt. Kurz, er ist ein Hindernis. Aber bevor ich Ihnen diesen Vorteil nennen werde, möchte ich mich persönlich kompromittieren und verkünde darum dreist, daß all diese ausgezeichneten Systeme, diese ganzen Theorien zur Aufklärung der Menschheit über ihre eigentlichen, normalen Interessen, auf daß sie, zwangsläufig diesen Interessen nachgehend, sofort gut und edel werde – zunächst, meiner Meinung nach, nichts als Logistik sind. Jawohl, Logistik. Eine Theorie der Wiedererneuerung des Menschengeschlechts zu vertreten, z. B. durch das System der eigenen Vorteile, das ist meines Erachtens beinahe dasselbe, wie mit Buckle zu behaupten, der Mensch werde durch die Zivilisation sanfter, folglich weniger blutrünstig und weniger kriegslustig. Er kommt zu dieser Schlußfolgerung, glaube ich, gemäß der Logik. Der Mensch hat aber eine solche Vorliebe für Systeme und abstrakte Schlußfolgerungen, daß er bereit ist, die Wahrheit willentlich zu entstellen, sich Augen und Ohren zuzuhalten, nur um seine Logik zu rechtfertigen. Deswegen greife ich auch zu diesem Beispiel, weil es ein viel zu grelles Beispiel ist. Aber sehen Sie sich um: Blut fließt in Strömen, dazu noch auf die fidelste Art und Weise wie Champagner. Da haben Sie unser neunzehntes Jahrhundert, in dem auch Buckle zu Hause ist. Da haben Sie Napoleon, sowohl den Großen als auch den jetzigen. Da haben Sie Nordamerika, die ewige Union. Da haben Sie schließlich die Karikatur Schleswig-Holstein … Und was hat die Zivilisation in uns besänftigt? Die Zivilisation bringt im Menschen nur Differenziertheit der Empfindungen hervor und … nichts weiter. Aber gerade durch die Pflege dieser Differenziertheit wird der Mensch womöglich noch so weit gehen, daß er auch im Blutvergießen einen Genuß finden wird. So etwas ist schon bei ihm vorgekommen. Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß die schlimmsten Blutvergießer fast ausnahmslos höchst zivilisierte Herrschaften waren, denen all diese Attilas und Stenka Rasins nicht das Wasser reichen konnten? Und wenn sie nicht so auffallen wie Attila und Stenka Rasin, so rührt das nur daher, daß sie allzu häufig vorkommen, allzu gewöhnlich sind, allzu vertraut. Jedenfalls wurde der Mensch durch die Zivilisation, wo nicht noch blutrünstiger, so doch gewiß blutrünstig auf üblere, gemeinere Art. Früher hielt er das Blutvergießen für Gerechtigkeit und vertilgte mit ruhigem Gewissen, wen er zu vertilgen hatte; jetzt aber halten wir das Blutvergießen zwar für eine Gemeinheit, können aber von dieser Gemeinheit nicht lassen und treiben es ärger denn je. Was ist schlimmer? – Entscheiden Sie selbst. Man erzählt, Kleopatra (ich bitte das Beispiel aus der römischen Geschichte zu entschuldigen) habe besonders gern mit goldenen Nadeln in die Brüste ihrer Sklavinnen gestochen und sich an ihren Schreien und Krämpfen ergötzt. Sie werden einwenden, daß dies in einem relativ barbarischen Zeitalter gewesen sei; daß wir auch jetzt noch in einem barbarischen Zeitalter leben, denn (wiederum relativ gemeint) auch jetzt steche man noch mit Nadeln, und daß der Mensch auch jetzt noch, obwohl er schon gelernt habe, zuweilen klarer zu erkennen als in barbarischen Zeiten, bei weitem nicht gewöhnt sei, so zu handeln, wie ihm Vernunft und Wissenschaft gebieten. Immerhin sind Sie vollkommen überzeugt, daß er sich unbedingt daran gewöhnen werde, sobald sich gewisse alte dumme Angewohnheiten verlieren und gesunder Verstand nebst Wissenschaft die menschliche Natur vollständig umerzogen und normal ausgerichtet haben würden. Sie sind überzeugt, der Mensch werde dann von selbst, gutwillig seine Fehler unterlassen und zwischen dem eigenen Willen und seinen normalen Interessen sozusagen nicht mehr unterscheiden. Noch mehr: dann, werden Sie sagen, wird die Wissenschaft selbst dem Menschen beibringen (wenn das auch schon Luxus ist, meiner Meinung nach), daß er in Wirklichkeit weder Wille noch Laune besitzt, ja nie besessen hat, und daß er selbst nichts anderes ist als eine Art Klaviertaste oder Drehorgelstift; und darüber hinaus ist die Welt von Naturgesetzen bestimmt; so daß alles, was er auch tun mag, durchaus nicht nach seinem Wunsch und Willen, sondern ganz von alleine, nach Naturgesetzen abläuft. Folglich braucht man nur diese Naturgesetze zu entdecken, und der Mensch wird sogleich für seine Handlungen nicht mehr verantwortlich sein und ein ungemein bekömmliches Leben beginnen. Selbstverständlich wird dann alles menschliche Handeln nach diesen Gesetzen errechnet werden, mathematisch, in einer Art Logarithmentafel, bis 108000, erfaßt und in einen Kalender eingetragen; oder noch besser, es werden verschiedene wohlgemeinte Werke erscheinen, etwa in der Art heutiger enzyklopädischer Lexika, in denen alles so genau ausgerechnet und aufgeführt ist, daß es auf der Welt hinfort weder Handeln noch Abenteuer geben wird. Dann – das sagen immer noch Sie, meine Herrschaften – werden die neuen wirtschaftlichen Verhältnisse eintreten, fix und fertig und ebenfalls mit mathematischer Genauigkeit vorausberechnet, so daß im Handumdrehen alle möglichen Probleme verschwinden werden, nämlich deshalb, weil man alle möglichen Lösungen bereits besitzt. Dann wird man einen Kristallpalast errichten. Dann … Nun, mit einem Wort, dann kommt der Wunschvogel geflogen. Selbstverständlich kann man keinesfalls garantieren (das sage jetzt ich), daß es dann zum Beispiel nicht furchtbar langweilig sein wird (denn was soll man noch tun, wenn alles schon nach der Tabelle berechnet ist), dafür aber wird alles außerordentlich vernünftig zugehen. Selbstverständlich, auf was alles kann man nicht aus Langeweile verfallen! Auch mit goldenen Nadeln wird doch aus Langeweile gestochen, und das wäre nicht einmal das schlimmste. Schlimm ist nur (das sage immer noch ich), daß dann die goldenen Nadeln womöglich erwünscht sein werden. Denn der Mensch ist dumm, phänomenal dumm; das heißt, wenn er auch durchaus nicht dumm ist, so ist er doch undankbar, so undankbar, daß man seinesgleichen nicht finden kann. Es sollte mich nicht im geringsten wundern, wenn, inmitten der künftigen allgemeinen Vernünftigkeit, mir nichts, dir nichts plötzlich irgendein Gentleman auftauchen und ohne Anstand oder, genauer gesagt, mit einer rückschrittlichen und höhnischen Miene, die Hände in die Seiten gestemmt, uns allen vorschlagen würde: Wie wäre es, meine Herrschaften, sollten wir nicht diese ganze Vernünftigkeit mit einem Fußtritt zertrümmern, einzig in der Absicht, all diese Logarithmen zum Teufel zu jagen und allein nach unserem unvernünftigen Willen zu leben! Das wäre noch nicht schlimm, aber leider wird er zweifellos Gesinnungsgenossen finden: der Mensch ist nun einmal so geschaffen. Und das alles aus einem absolut unwesentlichen Grunde, den zu erwähnen überhaupt nicht lohnt: nämlich deshalb, weil der Mensch immer und überall, wer er auch sei, stets so zu handeln vorzieht, wie er will, und durchaus nicht so, wie ihm Vernunft und Vorteil diktieren; wollen aber kann man auch gegen den eigenen Vorteil, zuweilen ist es unbedingt notwendig (das ist nun meine Idee). Sein eigenes uneingeschränktes und freies Wollen, seine eigene, selbst die allerausgefallenste Laune, seine Phantasie, die zuweilen bis zur Verrücktheit verschroben sein mag – das, gerade das ist ja jener übersehene allervorteilhafteste Vorteil, der sich nicht klassifizieren läßt und durch den alle Systeme und Theorien fortwährend zum Teufel gehen. Und wie kommen diese Besserwisser darauf, daß der Mensch auf irgendein normales, irgendein tugendhaftes Wollen angewiesen ist? Woher wollen sie wissen, daß der Mensch auf irgendein unbedingt vernünftig-vorteilhaftes Wollen angewiesen ist? Der Mensch ist einzig und allein auf das selbständige Wollen angewiesen, was diese Selbständigkeit auch kosten und wohin sie auch führen mag. Nun, das Wollen, weiß der Teufel …

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