Kitabı oku: «Die Brüder Karamasow», sayfa 6

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4. Eine kleingläubige Dame

Die Gutsbesitzerin hatte aufmerksam verfolgt, wie der Starez mit den einfachen Frauen gesprochen und sie gesegnet hatte; sie vergoß stille Tränen und trocknete sie mit ihrem Taschentuch. Sie war eine mitfühlende Dame von Welt mit vielen aufrichtig guten Neigungen. Als der Starez zuletzt auch an sie herantrat, begrüßte sie ihn voll Begeisterung: »Der Anblick der ganzen rührenden Szene hat mich so tief, so tief ergriffen ...« Sie konnte vor Erregung nicht weitersprechen. »Oh, ich verstehe, daß das Volk Sie liebt. Ich selbst liebe das Volk, wie sollte man auch das Volk, unser prächtiges, in seiner Größe so schlichtes russisches Volk nicht lieben!«

»Wie steht es um die Gesundheit Ihrer Tochter? Sie wünschten mich wieder zu sprechen?«

»Oh, ich habe inständig darum gebeten und gefleht: Ich war bereit, auf die Knie zu fallen und notfalls drei Tage lang vor Ihrem Fenster liegenzubleiben, bis Sie mich vorlassen würden. Wir sind gekommen, großer Heilspender, um Ihnen begeistert Dank zu sagen. Sie haben meine Lisa geheilt, völlig geheilt nur dadurch, daß Sie am Donnerstag über sie beteten und Ihre Hände auf sie legten. Wir sind gekommen, um diese Hände zu küssen und unseren Gefühlen und unserer Verehrung Ausdruck zu geben!«

»Wieso habe ich sie geheilt? Sie liegt ja immer noch im Rollstuhl?«

»Aber das nächtliche Fieber hat aufgehört, schon seit zwei Tagen, seit Donnerstag«, erwiderte die Dame in nervöser Hast. »Ja, noch mehr: ihre Beine haben sich gekräftigt. Heute früh stand sie gesund auf, nachdem sie die ganze Nacht geschlafen hatte. Sehen Sie nur ihre rote Gesichtsfarbe und ihre glänzenden Augen! Sonst weinte sie immer, jetzt aber lacht sie und ist vergnügt. Heute verlangte sie hartnäckig, auf die Füße gestellt zu werden, und stand eine ganze Minute allein da, ohne Stütze. Sie will mit mir wetten, daß sie in vierzehn Tagen eine Quadrille tanzen kann. Ich ließ unseren Doktor Herzenstube kommen; er zuckte die Achseln und sagte: ›Ich bin erstaunt, das verstehe ich nicht!‹ Und da wollen Sie, wir sollen Sie nicht weiter stören? Wir mußten einfach hereilen und Ihnen danken. So bedanke dich doch, Lisa, bedanke dich!«

Lisas liebes, lachendes Gesicht wurde auf einmal ernst; sie richtete sich nach besten Kräften im Rollstuhl auf, schaute den Starez an und faltete vor ihm die Hände. Sie konnte sich jedoch nicht beherrschen und brach unvermittelt in Lachen aus.

»Ich lache nur über ihn, über ihn!« sagte sie und deutete auf Aljoscha. Sie ärgerte sich wie ein Kind über sich selbst, weil sie sich nicht hatte beherrschen können. Wer Aljoscha beobachtete, der einen Schritt hinter dem Starez stand, konnte auf seinem Gesicht eine hektische Röte bemerken, die urplötzlich seine Wangen übergoß. Seine Augen leuchteten auf, und er senkte den Kopf.

»Sie hat einen Auftrag an Sie, Alexej Fjodorowitsch. Wie steht es mit Ihrer Gesundheit?« wandte die Mama sich plötzlich an Aljoscha und streckte ihm ihre kleine Hand mit dem eleganten Handschuh hin. Der Starez drehte sich um und sah Aljoscha aufmerksam an. Dieser näherte sich Lisa und reichte ihr mit seltsam ungeschicktem Lächeln die Hand. Lisa machte eine wichtige Miene.

»Katerina Iwanowna schickt Ihnen das durch mich«, sagte sie und übergab ihm ein kleines Briefchen. »Sie läßt Sie sehr bitten, so schnell wie möglich zu ihr zu kommen und ihre Erwartung nicht zu enttäuschen.«

»Sie läßt mich bitten, zu ihr zu kommen? Mich, zu ihr ... Warum denn?« murmelte Aljoscha aufs höchste erstaunt. Sein Gesicht drückte auf einmal starke Beunruhigung aus.

»Oh, das ist alles wegen Dmitri Fjodorowitsch. Wegen all der letzten Ereignisse«, erklärte eilfertig die Mama. »Katerina Iwanowna ist zu einem festen Entschluß gelangt. Und daher muß sie unbedingt Sie sehen. Warum? Das weiß ich allerdings nicht; aber sie ließ bitten, Sie möchten so schnell wie möglich kommen. Und das werden Sie doch auch tun? Bestimmt werden Sie das tun, das gebietet schon die Christenpflicht.«

»Ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen«, sagte Aljoscha, noch immer verständnislos.

»Oh, sie ist ein so hohes, unerreichbares Wesen! Schon in Anbetracht ihrer Leiden ... Stellen Sie sich nur vor, was sie schon ertragen hat und was sie jetzt erträgt! Und stellen Sie sich vor, was sie noch erwartet! Das ist alles schrecklich, schrecklich!«

»Nun gut, ich werde kommen«, sagte Aljoscha, nachdem er das kurze, rätselhafte Billett überflogen hatte; es enthielt nur die dringende Bitte zu kommen, aber keine Erklärungen.

»Ach, das wäre liebenswürdig von Ihnen, großartig!« rief Lisa, auf einmal ganz lebhaft. »Ich sagte noch zu Mama: ›Er wird bestimmt nicht kommen; er denkt nur an sein Seelenheil.‹ Was sind Sie für ein lieber Mensch! Ich habe schon immer gewußt daß Sie ein lieber Mensch sind, es ist mir angenehm, es Ihnen jetzt zu sagen.«

»Lisa!« rief die Mama vorwurfsvoll, lächelte aber gleich wieder. »Sie haben auch uns ganz vergessen, Alexej Fjodorowitsch! Sie wollen uns gar nicht mehr besuchen – und dabei hat Lisa mir zweimal gesagt, daß sie sich nur in Ihrer Gegenwart wohl fühlt.«

Aljoscha hob den Blick, errötete plötzlich und lächelte wieder, ohne zu wissen, warum. Der Starez beobachtete ihn aber nicht mehr. Er sprach mit dem fremden Mönch, der neben Lisas Rollstuhl auf sein Erscheinen gewartet hatte. Es war offenbar ein sehr einfacher Mönch, das heißt aus einfachem Stande, mit einer beschränkten, unerschütterlichen Weltanschauung, aber auf seine Weise gläubig und hartnäckig. Er sagte, er sei aus dem hohen Norden gekommen, aus Obdorsk, aus dem armen, von nur neun Mönchen bewohnten Kloster »Zum Heiligen Silvester«. Der Starez erteilte ihm den Segen und lud ihn, wenn es ihm gefällig sei, zu sich in seine Zelle.

»Wie machen Sie es nur möglich, solche Taten zu vollbringen?« fragte plötzlich der Mönch, wobei er nachdrucksvoll und feierlich auf Lisa wies. Er spielte auf ihre »Heilung« an.

»Es ist noch zu früh, davon zu reden. Eine leichte Besserung ist noch keine Heilung; sie kann auch andere Ursachen haben. Wenn aber wirklich etwas geschehen wäre, so nicht durch menschliche Kraft, sondern durch Gottes Ratschluß. Alles kommt von Gott. Besuchen Sie mich, Vater«, fügte er hinzu. »Doch kann ich nicht zu jeder Zeit Besuche empfangen; ich bin krank und weiß, daß meine Tage gezählt sind.«

»Nein, nein, Gott wird Sie nicht von uns nehmen! Sie werden noch lange, lange leben!« rief die Mama. »Was fehlt Ihnen denn auch? Sie sehen so gesund aus, so heiter und glücklich.«

»Ich fühle mich heute viel wohler. Aber ich weiß, das dauert nicht lange. Ich kenne jetzt meine Krankheit. Durch nichts aber konnten Sie mich so erfreuen wie durch die Bemerkung, ich käme Ihnen so glücklich vor. Die Menschen sind zum Glücklichsein geschaffen, und wer ganz glücklich ist, der darf sagen: Ich habe Gottes Gebot erfüllt. Alle Gerechten, alle Heiligen, alle heiligen Märtyrer waren glücklich.«

»Wie Sie das sagen! Was für kühne, erhabene Worte!« rief die Mama. »Es dringt einem mitten ins Herz, wenn Sie reden. Und doch, das Glück – wo ist das Glück? Wer kann von sich sagen, er sei ganz glücklich? Da Sie uns gütigst erlaubt haben, Sie heute noch einmal zu sehen, so hören Sie denn alles, was ich Ihnen das vorige Mal verschwiegen habe, weil ich nicht den Mut hatte, es Ihnen zu sagen: alles, worunter ich leide, schon lange, lange leide! Ich leide, verzeihen Sie mir, ich leide ...« Ungestüm faltete sie ihre Hände vor ihm.

»Worin besteht Ihr Leiden?«

»Mein Leiden besteht im Unglauben ... «

»Im Unglauben an Gott?«

»O nein, so etwas wage ich gar nicht zu denken! Aber das zukünftige Leben, das ist mir ein Rätsel! Und niemand kann es mir lösen, dieses Rätsel! Hören Sie, Sie Heilsspender, Sie Kenner der menschlichen Seele! Ich kann natürlich nicht verlangen, daß Sie mir völlig glauben, aber ich versichere Ihnen hoch und teuer, daß ich nicht leichtfertig zu Ihnen rede, daß mich vielmehr der Gedanke an ein Leben nach dem Tode aufregt bis zu tatsächlichem Leiden, ja bis zu Schrecken und Angst ... Ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll. Ich hatte mein Leben lang nicht den Mut. Und jetzt, jetzt wage ich es, mich an Sie zu wenden ... O Gott, wofür werden Sie mich halten!« Sie schlug die Hände zusammen.

»Sorgen Sie sich nicht um meine Meinung«, antwortete der Starez. »Ich glaube durchaus an die Aufrichtigkeit Ihres Kummers.«

»Oh, wie dankbar bin ich Ihnen! Sehen Sie, ich schließe oft die Augen und denke: Wie kommt es, daß alle Menschen glauben? Es wird vielfach gesagt, das habe seinen Ursprung in der Furcht vor schrecklichen Naturerscheinungen, weiter gar nichts. Und nun denke ich: Wenn ich mein ganzes Leben geglaubt habe und dann sterbe, und dann ist da nichts, und auf dem Grabe wächst die Klette, wie ich bei einem Dichter las? Das wäre doch entsetzlich! Wodurch kann ich den Glauben wiedererlangen? Übrigens habe ich nur geglaubt, als ich noch klein war, mechanisch, ohne etwas dabei zu denken. Aber wie und wodurch läßt sich das beweisen? Ich bin gekommen, um vor Ihnen niederzufallen und Sie um Auskunft zu bitten. Denn wenn ich jetzt die Gelegenheit verstreichen lasse, wird mir mein Leben lang niemand mehr meine Frage beantworten. Wie läßt es sich beweisen, wie kann man zur Überzeugung gelangen? Oh, das ist mein Unglück! Ich stehe da und sehe, daß allen oder fast allen rings um mich her die ganze Sache gleichgültig ist und daß niemand sich darum Sorge macht – nur ich kann das nicht ertragen. Das richtet mich zugrunde, völlig zugrunde!«

»Ohne Zweifel richtet das einen Menschen zugrunde. Beweisen läßt sich hier allerdings nichts; doch zur Überzeugung zu gelangen, das ist möglich.«

»Wie das? Wodurch?«

»Durch die Erfahrung der tätigen Liebe. Bemühen Sie sich, Ihre Nächsten tätig und unermüdlich zu lieben! Je größere Fortschritte Sie in der Liebe machen, desto mehr werden Sie sich überzeugen von dem Dasein Gottes und von der Unsterblichkeit Ihrer Seele. Und wenn Sie in Ihrer Nächstenliebe bei völliger Selbstverleugnung angelangt sind, dann werden Sie auch zuversichtlich glauben, und kein Zweifel wird mehr in Ihre Seele Eingang finden. Das ist erprobt, das ist sicher.«

»Tätige Liebe? Das ist auch wieder eine Frage, und zwar eine schwere, schwere Frage! Sehen Sie, ich liebe die Menschheit so sehr, daß ich – werden Sie mir das glauben? – manchmal daran denke, alles, was ich besitze, von mir zu werfen, Lisa zu verlassen und Barmherzige Schwester zu werden. Ich schließe die Augen, denke und träume; in solchen Augenblicken fühle ich eine unwiderstehliche Kraft in mir. Keine Wunde, kein eiterndes Geschwür könnte mich schrecken. Ich würde sie verbinden und mit meinen eigenen Händen waschen, ich würde die Wärterin dieser Leidenden sein, ich wäre bereit, diese Geschwüre zu küssen.«

»Es ist schon viel und gut, wenn Ihr Geist davon träumt und nicht von etwas anderem. Nein, nein, Sie, werden wirklich eine gute Tat tun, bevor Sie sich dessen versehen.«

»Aber könnte ich so ein Leben lange führen?« fuhr die Dame erregt, beinahe außer sich fort. »Das ist die Hauptfrage, das ist die Frage, die mich am meisten quält. Ich schließe die Augen und frage mich: Würdest du es lange auf diesem Weg aushalten? Und wenn der Kranke, dessen Geschwüre du wäschst, dies nicht sogleich durch Dankbarkeit vergilt, sondern dich im Gegenteil anschreit, ohne deine Menschenfreundlichkeit zu bemerken und zu würdigen; wenn er in grobem Ton dies und das verlangt und sich sogar bei den Vorgesetzten beschwert. Wie es bei Schwerkranken häufig vorkommt? Was dann? Wird deine Liebe fortdauern oder nicht? Und denken Sie, ich habe mir mit Zittern und Zagen bereits die Antwort auf diese Frage gegeben: Wenn irgend etwas meine tätige Liebe zur Menschheit sofort auslöschen kann, so ist es einzig und allein der Undank. Ich bin eben eine Lohnarbeiterin: ich fordere augenblicklich Bezahlung, Lob und Vergeltung meiner Liebe durch Gegenliebe. Anders kann ich niemanden lieben!«

Es war ein Anfall aufrichtigster Selbstanklage, und sie blickte, als sie geendet hatte, den Starez mit herausfordernder Entschlossenheit an.

»Genau dasselbe hat mir schon vor langer Zeit ein Arzt erzählt«, erwiderte der Starez. »Er war ein schon bejahrter Mann und unstreitig klug. Er sprach ebenso offen wie Sie, zwar scherzend, aber dabei traurig. ›Ich liebe die Menschheit‹, sagte er, ›aber ich wundere mich über mich selbst: je mehr ich die Menschen liebe, desto weniger liebe ich den einzelnen Menschen, das Individuum. Wenn ich mich so meinen Träumereien hingab‹, sagte er, ›hatte ich manchmal die seltsamsten Absichten, der Menschheit zu dienen. Ich würde mich vielleicht für die Menschen kreuzigen lassen, wenn das einmal irgendwie nötig wäre – und dabei bin ich außerstande, auch nur zwei Tage mit jemand dasselbe Zimmer zu teilen. Ich weiß das aus Erfahrung. Kaum kommt er mir nahe, verletzt seine Persönlichkeit schon meine Eigenliebe und beeinträchtigt meine Freiheit. Ein einziger Tag genügt schon, mich den besten Menschen hassen zu lehren: den einen, weil er mittags zu langsam ißt, den anderen, weil er Schnupfen hat und sich fortwährend schneuzt. Sobald die Menschen mit mir in Berührung kommen, werde ich ein Menschenfeind‹, sagte er. ›Und dabei wurde meine Liebe zur Menschheit bisher desto flammender, je mehr ich die einzelnen Menschen haßte.‹«

»Was aber soll man tun? Was soll man in solchen Fällen tun? Muß man da nicht verzweifeln?«

»Nein, es genügt schon, daß Sie sich darum sorgen. Tun Sie, was Sie können, und es wird Ihnen angerechnet werden. Sie haben schon viel dadurch getan, daß Sie sich selbst so tief und aufrichtig erkennen lernten! Sollten Sie aber jetzt nur deshalb so offen mit mir gesprochen haben, um wie jetzt ein Lob für Ihre Wahrheitsliebe zu empfangen, dann werden Sie es allerdings in den Großtaten der tätigen Liebe zu nichts bringen; dann wird das alles nur Träumerei für sie bleiben und Ihr ganzes Leben wird vorüberhuschen wie eine Vision. Dann werden Sie natürlich auch das künftige Leben vergessen und sich schließlich selbst auf irgendeine Weise beruhigen.«

»Sie haben mich zerschmettert! Erst jetzt, während Sie sprachen, erkannte ich, daß ich tatsächlich nur gehofft habe, Sie würden mich loben für meine Offenheit, mit der ich erzählte, daß ich Undank nicht ertragen kann. Sie haben mir gesagt, wie es in mir aussieht! Sie haben mich ertappt und mir mein innerstes Wesen erklärt!«

»Ist das die Wahrheit? Nun, nach einem solchen Bekenntnis glaube ich, daß Sie aufrichtig und von Herzen gut sind. Wenn Sie das Glück nicht erlangen sollten, so bleiben Sie dessen eingedenk, daß Sie auf gutem Wege sind, und hüten Sie sich, von ihm abzuweichen. Vor allem hüten Sie sich vor der Lüge, besonders vor sich selbst. Geben Sie acht auf Ihre Lüge, behalten Sie sie zu jeder Stunde, zu jeder Minute im Auge. Meiden Sie auch den Ekel vor anderen wie vor sich selbst. Was Ihnen an Ihrem Innern häßlich erscheint, wird allein schon dadurch, daß Sie es bemerkten, geläutert. Meiden Sie ferner die Furcht, obgleich sie nur eine Folge der Lüge ist. Erschrecken Sie, wenn Sie nach Liebe streben, nie über Ihren eigenen Kleinmut; erschrecken Sie nicht einmal allzusehr über die schlechten Handlungen, die Sie dabei begehen. Ich bedaure, daß ich Ihnen nichts Tröstlicheres sagen kann, denn die tätige Liebe ist im Vergleich zu der nur geträumten ein hartes, schreckliches Ding. Die träumerische Liebe dürstet nach einer Großtat, rasch ausgeführt und von allen gesehen. Es kommt so weit, daß man sogar sein Leben hingibt, nur wenn die Sache schnell erledigt wird und so, daß alle es sehen und loben – wie auf der Bühne. Die tätige Liebe dagegen ist Arbeit und Geduld; sie ist für manche Menschen gewissermaßen eine richtige Wissenschaft. Ich kann es Ihnen im voraus sagen: Sobald Sie mit Schrecken wahrnehmen, daß Sie all Ihrem Bemühen zum Trotz dem Ziel nicht nur nicht näher kamen, sondern sich scheinbar von ihm entfernten – in diesem selben Augenblick, das prophezeie ich Ihnen, werden Sie plötzlich das Ziel erreichen und deutlich Gottes wundertätige Kraft erkennen! Gott hat Sie die ganze Zeit geliebt, die ganze Zeit insgeheim geleitet. Verzeihen Sie, daß ich mich Ihnen nicht länger widmen kann; man erwartet mich. Auf Wiedersehen!«

Die Dame weinte. »Bitte, segnen Sie Lisa, segnen Sie Lisa!« rief sie und sprang auf.

»Die dürfte man eigentlich gar nicht liebhaben«, sagte der Starez scherzend. »Ich sah, wie sie die ganze Zeit dummes Zeug trieb. Warum haben Sie sich fortwährend über Alexej lustig gemacht?«

Lisa hatte wirklich die ganze Zeit mit irgendwelchen Streichen ausgefüllt. Sie hatte schon das vorige Mal bemerkt, daß Aljoscha vor ihr verlegen wurde und sich nicht traute, sie anzusehen; das amüsierte sie gewaltig. Sie wartete aufmerksam und fing seinen Blick auf; Aljoscha hielt es nicht aus und sah ab und zu unwillkürlich, von einer unwiderstehlichen Macht gezwungen, zu ihr hin, worauf sie ihm dann sofort triumphierend ins Gesicht lachte. So wurde Aljoscha immer verlegener und ärgerte sich noch mehr. Zuletzt wandte er sich ganz von ihr ab und verbarg sich hinter dem Starez. Kurze Zeit später machte er, abermals unwiderstehlich angezogen, eine kleine Wendung, als wollte er sehen, ob sie ihn noch anschaute. Da bemerkte er, wie Lisa sich fast ganz aus dem Rollstuhl herausbeugte, ihn von der Seite ansah und gespannt wartete, ob er zu ihr hinblicken würde. Und kaum hatte sie seinen Blick aufgefangen, lachte sie derart auf, daß sich sogar der Starez nicht enthalten konnte zu sagen: »Warum bringen Sie ihn so schamlos in Verwirrung?«

Lisa errötete ganz plötzlich, ihre Augen blitzten, ihr Gesicht wurde ernst, und sie sagte im Ton einer heftigen, unwilligen Klage nervös und hastig: »Warum hat er denn alles vergessen? Er hat mich als kleines Kind auf dem Arm getragen und mit mir zusammen gespielt. Später kam er zu uns, um mich lesen zu lehren; wissen Sie das? Vor zwei Jahren sagte er beim Abschied, er würde nie vergessen, daß wir lebenslänglich Freunde sind, lebenslänglich! Und jetzt auf einmal fürchtet er sich vor mir – will ich ihn etwa auffressen, wie? Warum will er nicht näher zu mir kommen, warum redet er nicht mit mir? Warum besucht er uns nicht? Ja, wenn Sie ihn nicht wegließen; aber wir wissen, er geht überall hin. Es schickt sich für mich nicht, ihn rufen zu lassen; er müßte zuerst daran denken, wenn er es nicht vergessen hat. Aber nein, er sorgt jetzt nur für sein Seelenheil! Sagen Sie mal, warum haben Sie ihm die lange Kutte angezogen? Er fällt ja hin, wenn er laufen will ...«

Auf einmal konnte sie sich nicht mehr beherrschen, bedeckte das Gesicht mit der Hand und brach in ein langes, unaufhaltsames, nervöses, lautloses Lachen aus, das ihren ganzen Körper erschütterte. Der Starez hatte sie lächelnd angehört und erteilte ihr nun zärtlich seinen Segen. Als sie sich aber anschickte, seine Hand zu küssen, preßte sie diese auf einmal an ihre Augen und fing an zu weinen. »Seien Sie mir nicht böse, ich bin ein dummes Ding, das nichts taugt. Aljoscha hat vielleicht ganz recht, wenn er zu so einer lächerlichen Person nicht kommen will.«

»Ich werde ihn bestimmt zu Ihnen schicken«, sagte der Starez.

5. Amen, es soll also geschehen!

Der Starez war etwa fünfundzwanzig Minuten der Zelle ferngeblieben. Es war schon halb eins, aber Dmitri Fjodorowitsch, um dessentwillen sich alle versammelt hatten, war immer noch nicht zur Stelle; man schien ihn fast vergessen zu haben. Als der Starez wieder in die Zelle trat, fand er seine Gäste in einem lebhaften Gespräch, an dem sich vor allem Iwan Fjodorowitsch und die beiden Priestermönche beteiligten. Auch Miussow, der sehr erregt schien, mischte sich ein, aber er hatte wieder kein rechtes Glück; er befand sich offenbar im Hintertreffen, und da die anderen ihm kaum antworteten, steigerte sich noch die Gereiztheit in ihm. Er hatte auch früher schon mit Iwan Fjodorowitsch an Kenntnis rivalisiert und eine gewisse Geringschätzung, die dieser ihm entgegenbrachte, nicht gleichgültig ertragen können. ›Bisher stand ich in allem, was den europäischen Fortschritt anlangt, in der ersten Linie der Vorkämpfer, doch diese neue Generation ignoriert uns völlig!‹ dachte er. Fjodor Pawlowitsch, der von sich aus versprochen hatte, still auf seinem Stuhl sitzenzubleiben, hatte tatsächlich eine Zeitlang geschwiegen; er hatte aber seinen Nachbarn Pjotr Alexandrowitsch mit leisem, spöttischem Lächeln beobachtet und sich sichtlich an dessen Reizbarkeit erfreut. Er hatte ihm schon lange dies und jenes heimzahlen wollen und fand jetzt die Gelegenheit dazu. Schließlich konnte er sich nicht mehr beherrschen, neigte sich zu seinem Nachbarn und begann erneut halblaut zu sticheln: »Warum sind Sie vorhin nach der Küsserei nicht gegangen? Warum sind Sie in einer so unpassenden Gesellschaft geblieben? Weit Sie sich erniedrigt und beleidigt fühlten? Um zur Revanche Ihren Verstand leuchten zu lassen? Sie werden nicht gehen, bevor Sie das getan haben.«

»Fangen Sie schon wieder an? Ich werde sofort gehen.«

»Als letzter, als allerletzter werden Sie sich fortbegeben«, stichelte Fjodor Pawlowitsch noch einmal. Das war in demselben Augenblick, als der Starez zurückkehrte.

Die Diskussion verstummte für einen Moment; der Starez nahm seinen Platz wieder ein und sah alle der Reihe nach an, als ermuntere er sie, sich nicht stören zu lassen. Aljoscha, der jeden Ausdruck seines Gesichts kannte, sah, daß er müde war und sich Gewalt antat. In der letzten Zeit waren bei ihm Ohnmachtsanfälle aus Erschöpfung vorgekommen. Eine Art Ohnmachtsblässe lag auch jetzt auf seinem Gesicht, und seine Lippen waren weiß. Er wollte jedoch die Versammelten offenbar nicht wegschicken, er schien noch eine besondere Absicht zu haben aber welche? Aljoscha beobachtete ihn unverwandt.

»Wir sprechen über einen höchst interessanten Aufsatz dieses Herrn«, sagte der Priestermönch Jossif, der Bibliothekar, zu dem Starez und deutete auf Iwan Fjodorowitsch. »Er bringt darin viel Neues, aber es scheint, daß seine Idee ihre zwei Seiten hat. Er hat in einem Zeitschriftenaufsatz über kirchlich-weltliche Gerichtsbarkeit und die Ausdehnung dieses Rechts einem Geistlichen geantwortet, der über diese Frage ein großes Buch verfaßt hat.«

»Leider habe ich Ihren Aufsatz nicht gelesen, aber ich habe davon gehört«, antwortete der Starez, wobei er Iwan Fjodorowitsch aufmerksam ansah.

»Er steht auf einem interessanten Standpunkt«, fuhr der Vater Bibliothekar fort. »Er verwirft nämlich, wie es scheint, in der Frage der kirchlich-weltlichen Gerichtsbarkeit völlig die Trennung der Kirche vom Staat.«

»Das ist interessant, in welchem Sinne meinen Sie das?« fragte der Starez.

Iwan Fjodorowitsch antwortete ihm: nicht belehrend, von oben herab, wie Aljoscha es tags zuvor noch befürchtet hatte, sondern bescheiden und ruhig, mit sichtlicher Zuvorkommenheit und anscheinend ganz ohne Hintergedanken.

»Ich gehe von der These aus, daß die Vermischung zweier Elemente wie Kirche und Staat zwar unzulässig, doch sicher für alle Zeiten unabänderlich ist und daß man so nie einen normalen oder auch nur einigermaßen erträglichen Zustand herstellen kann, weil alledem eine Unwahrheit zugrunde liegt. Ein Kompromiß zwischen Staat und Kirche, beispielsweise in Fragen der Gerichtsbarkeit, ist meines Erachtens schon an sich unmöglich. Der Geistliche, gegen den ich polemisiere, behauptet, die Kirche nehme im Staat einen fest bestimmten Platz ein. Ich erwidere ihm, die Kirche müsse vielmehr selbst den Staat in sich einschließen, statt nur ein Eckchen in ihm einzunehmen. Und wenn das jetzt unmöglich wäre, so müsse es doch von Anfang an als direktes und wichtigstes Ziel jeder Weiterentwicklung der christlichen Gesellschaft hingestellt werden.«

»Durchaus richtig«, sagte Vater Paissi, der schweigsame, gelehrte Priestermönch, entschieden und nervös.

»Das ist ja der reinste Ultramontanismus!«Ultramontanismus – eine Ansicht der katholischen Kirche, daß dem Papst die gesamte geistliche und weltliche Macht gebührt, analog den Bischöfen in ihrem Sprengel. So hat nach dieser, nie verworfenen Lehre, beispielsweise der Fuldaer Bischof eigentlich den hessischen Ministerpräsidenten zu ernennen! rief Miussow und schlug vor Aufregung die Beine abwechselnd übereinander.

Ultramontanismus – eine Ansicht der katholischen Kirche, daß dem Papst die gesamte geistliche und weltliche Macht gebührt, analog den Bischöfen in ihrem Sprengel. So hat nach dieser, nie verworfenen Lehre, beispielsweise der Fuldaer Bischof eigentlich den hessischen Ministerpräsidenten zu ernennen!

»Wir haben ja gar keine Berge bei uns!« rief Vater Jossif, dann fuhr er, zum Starez gewandt, fort: »Er antwortet unter anderem auf folgende ›fundamentale und essentielle‹ Thesen des Gegners – eines Geistlichen, wohlbemerkt! Erstens: keine gesellschaftliche Vereinigung kann und darf sich die Macht anmaßen, über die bürgerlichen und politischen Rechte ihrer Mitglieder zu verfügen. Zweitens: die kriminalgerichtliche und zivilgerichtliche Macht darf nicht der Kirche gehören; sie ist unvereinbar mit ihrem Wesen als göttliche Einrichtung und Vereinigung von Menschen zu religiösen Zwecken. Und drittens endlich: die Kirche ist kein Reich von dieser Welt ... «

»Ein Spiel mit Worten, das eines Geistlichen unwürdig ist!« unterbrach Vater Paissi, der sich nicht mehr beherrschen konnte, den Sprecher erneut. »Ich kenne das Buch, gegen das Sie polemisieren«, wandte er sich an Iwan Fjodorowitsch. »Ich war erstaunt über die Behauptung eines Geistlichen, die Kirche sei kein Reich von dieser Welt. Wenn sie kein Reich von dieser Welt ist, so darf sie überhaupt nicht existieren auf Erden. Im heiligen Evangelium haben die Worte ›nicht von dieser Welt‹ einen anderen Sinn, und mit solchen Worten zu spielen ist unzulässig. Unser Herr Jesus Christus ist zu dem Zweck in die Welt gekommen, die Kirche auf Erden zu begründen. Das Himmelreich ist nicht von dieser Welt, das ist klar; aber eingehen ins Himmelreich kann man nur durch die Kirche, die auf der Erde gegründet ist. In diesem Sinne sind weltliche Spiele mit Worten daher unzulässig und unwürdig. Die Kirche ist in der Tat ein Reich, und zwar ein Reich, das bestimmt ist, zu herrschen und sich zuletzt über die ganze Erde auszudehnen. Das unterliegt überhaupt keinem Zweifel, darüber gibt es eine Verheißung ...«

Er verstummte plötzlich, als hielte er sich mit Gewalt zurück, und Iwan Fjodorowitsch, der ihm respektvoll und aufmerksam zugehört hatte, fuhr, zum Starez gewandt, mit größter Ruhe und Schlichtheit fort: »Der in meinem Aufsatz ausgeführte Gedanke ist folgender: In seiner frühesten Zeit, das heißt in den ersten drei Jahrhunderten, erschien das Christentum auf der Erde nur in Gestalt der Kirche und war nur Kirche. Als nun der heidnische römische Staat christlich zu werden wünschte, nahm er beim Übergang zum Christentum notwendigerweise die Kirche in sich auf, obgleich er in sehr vielen Einrichtungen ein heidnischer Staat blieb. Es mußte im Grunde auch so sein. Es war noch viel heidnische Kultur und Weisheit im römischen Staat zurückgeblieben, ja, heidnisch waren sogar die Grundlagen und Ziele des Staates. Die christliche Kirche aber konnte bei ihrem Eintritt in den Staat von ihren Grundlagen, von dem Stein, auf dem sie stand, nichts aufgeben. Sie konnte nur ihre eigenen Ziele verfolgen, die ihr der Herr gesetzt und gewiesen hatte, und die waren unter anderen, die ganze Welt, und folglich auch den ganzen alten heidnischen Staat, zur Kirche zu machen. Nicht die Kirche muß sich also künftig wie ›jede gesellschaftliche Vereinigung‹ oder wie eine ›Vereinigung von Menschen zu religiösen Zwecken‹ (um mit dem Autor, dem ich widerspreche, zu reden) einen Platz im Staat suchen, vielmehr muß in der Folgezeit jeder irdische Staat zur Kirche werden und nichts als Kirche sein; auf Ziele, die nicht mit den kirchlichen vereinbar sind, muß er verzichten. Das alles erniedrigt ihn durchaus nicht; es nimmt ihm weder seine Ehre noch seinen Ruhm als großer Staat, noch den Ruhm seiner Herrscher; es weist ihm nur statt des unrechten heidnischen Weges den richtigen und wahren Weg, den einzigen Weg zu den ewigen Zielen. Der Verfasser des Buches hätte also richtig geurteilt, wenn er die von ihm dargelegten Grundlagen als vorübergehenden, für unsere sündige, unreife Zeit noch unentbehrlichen Kompromiß betrachtet hätte. Wenn er sich aber erkühnt zu behaupten, die Grundlagen, die er dargelegt hat und die Vater Jossif uns teilweise aufzählte, seien unerschütterlich, elementar und ewig, so wendet er sich direkt gegen die Kirche und ihre heilige, ewige, unerschütterliche Bestimmung. Das ist mein ganzer Aufsatz, und das ist sein gesamter Inhalt.«

»Mit anderen Worten«, sagte wieder Vater Paissi, jede Silbe betonend, »die Kirche soll sich nach Theorien, die in unserem neunzehnten Jahrhundert entstanden sind, in den Staat umwandeln, gleichsam aus einer niederen Gestalt in eine höhere, um dann im Staat aufzugehen; sie soll der Wissenschaft, dem Zeitgeist und der Kultur einfach weichen. Will sie das nicht und sträubt sie sich, wird ihr zur Strafe eine Art Ecke inmitten des Staates angewiesen, auch das natürlich nur unter Aufsicht, wie es gegenwärtig überall in den westeuropäischen Ländern der Fall ist. Nach der russischen Vorstellung und Zuversicht soll sich jedoch nicht die Kirche in den Staat umwandeln wie aus der niederen in eine höhere Form, vielmehr soll der Staat zuletzt vollkommen in der Kirche aufgeben. Amen, das heißt: es soll also geschehen!«

»Nun, ich muß gestehen, Sie haben mich wieder ein wenig ermutigt«, sagte Miussow lächelnd und legte die Beine wieder anders. »Soweit ich verstehe, handelt es sich um die Verwirklichung eines fernen Ideals, bei der Wiederkunft Christi. Halten Sie es damit, wie Sie wollen. Ein schöner utopischer Traum vom Ende der Kriege, Diplomaten, Banken und so weiter. Das hat sogar einige Ähnlichkeit mit dem Sozialismus. Ich glaubte schon, das wäre alles ernst gemeint, und die Kirche sollte zum Beispiel gleich jetzt über kriminelle Verbrechen richten und ihre Angeklagten zu Durchpeitschung und Zuchthaus, vielleicht gar zum Tode verurteilen.«

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