Kitabı oku: «Zeppelinpost», sayfa 2
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Ungefähr ab dem Sommer des Kriegsjahres 1916 traten die Mädchen in die Leben der Auer Straßenbuben und ersetzten nach und nach Schusser, das Kicken, das Abenteuer-Erleben und die Raufereien. Vor allem Burgl Schmaderer aus der Lilienstraße. Sie war die Wildeste und Ungestümste der Auer Mädchen. Und in meinen Augen die Schönste. Natürlich war sie das nicht nur für mich. Sie war bei allen Buben des Viertels mindestens genauso begehrt. Ich denke, dass sie nicht nur besonders gut aussah, sondern auch erreichbarer als die anderen Mädchen wirkte. Während zum Beispiel die Schusteranni, die Zweithübscheste in der Au, immer schön keusch und brav tat und meistens gleich empört schrie, wenn einer einen dreckigen Witz machte, lachte Burgl mit und sah dabei auch noch schön aus. Sie war hübsch, frech und straßenschlau, aber ungebildet. Also das genaue Gegenteil von mir. Ich war nicht besonders schlau, konnte aber so wirken, als sei ich klug, aber nur weil ich von meinem Vater zur Bildung gezwungen wurde.
Burgl hatte damals immer eine Entourage von fünf, und später mit dem Reißner, sechs Buben um sich. Den Wimmer, den Kellerer, den Rosshaupt, den Grammer und den Selcheralois. Jeder der fünf gab damit an, schon mal »an ihre Duttn« gefasst zu haben oder ihre »Haare untenrum« gesehen zu haben. Besonders der Grammer und der Selcher stritten sich andauernd, wer von den beiden gerade mit ihr ging. Burgl ließ aber unser aller Vorstellungskraft heiß laufen. Sie entwickelte sich zur allabendlichen Besucherin in den Gedanken der Buben des Viertels. Auch in meinen Träumen begann Burgl regelmäßig mit ihren wachsenden Brüsten unter den immer zu kleinen, fadenscheinigen Kleidern vorbeizuschauen. Wahrscheinlich war sie bei mir am öftesten.
Irgendwann begann ich Burgl Schmaderer nicht nur in meinen Träumen heraufzubeschwören, sondern auch im echten Leben den Kontakt zu ihr zu suchen. Im Rahmen meiner Möglichkeiten natürlich. Genauso unauffällig, wie ich mich an die Buben-Cliquen des Viertels herangewanzt hatte, suchte ich jetzt die Nähe der Burgl-Gruppe.
Um die Entourage herum gab es eine weitere. Einen erweiterten Kreis der Verehrer der Verehrer. Da fiel einer mehr nicht auf. Von innen nach außen nahm die Aufmerksamkeit ab, und ich befand mich, wenn überhaupt, in der äußersten Entourage. Ich war das einzige Mitglied dieses letzten Rings um Burgl Schmaderer. So weit weg vom Kern, dass sie mich nicht mehr sehen konnte.
Mir genügte es vorerst aber. Ich konnte alles in Burgls Leben mitbekommen und sogar so tun, als würde ich es selbst miterleben. In meiner Fantasie verschwanden die anderen Entourageringe, und ich war der einzige verbleibende Mensch neben Burgl. Ich bezog jeden Satz, den sie zu einem aus dem innersten Kreis sagte, auf mich. Bei »du bist mir vielleicht einer« fühlte ich mich geneckt und bei »lass deine Bratzen fei bei dir« zog ich unwillkürlich meine Hände zurück. Wenn die Gruppe in Richtung Rosengarten ging, ging ich gedanklich neben Burgl, wenn sie sich aus der Gassenschenke ein Bier holte, trank ich es mit ihr alleine. So kam es mir zumindest vor.
Ich würde nicht sagen, dass Burgl damals zu einer Obsession wurde. Ich könnte nicht einmal sagen, dass ich in sie verliebt gewesen wäre. Aber ich begehrte ihren Körper, verklärte sie und gab ihr Charakterzüge, von denen sie wahrscheinlich nicht einmal wusste, dass sie existierten. Ich litt auch nicht unter der Realität und meiner Nicht-Existenz. Das war ich ja gewöhnt. Meine Wahrnehmung war eine andere. Eine Parallelwirklichkeit, von der nur ich ganz alleine wusste. Nur mir war klar, dass ihre Neckereien gar nicht dem Grammer galten, sondern mir. Ich lebte in einer anderen Dimension, unsichtbar für alle, außer mir selbst.
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Ab 1917, als Folge der Schlacht an der Somme und der Offensive an der Ancre, veränderte sich die Stadt. Soldaten kehrten heim, es gab plötzlich wieder mehr Männer, und trotz Hunger und Rüben normalisierte sich der Alltag wieder etwas. Eines jedoch war neu und fiel im Stadtbild auf: Man sah immer mehr amputierte, gesichtsversehrte und geistig gestörte Kriegsheimkehrer auf den Straßen. Einarmige, Einbeinige, Kriegszitterer, Schreier und Morphinisten waren plötzlich überall. Alle mit der typischen Kriegskrüppellaufbahn: Musterung, Krieg, Schützengraben, Verletzung, Lazarett, Rekonvaleszenz, Heimkehr, Krüppel. Man sah Männer, die bettelten, aber die Sammelbecher kaum halten konnten vor Zittern, Männer, die sich zuerst ganz normal mit jemandem zu unterhalten schienen, aber auf einmal ohne Vorwarnung losschrien, Trambahnschaffner mit nur einem Arm oder Schuhputzer mit nur einem Bein. Das war zwar befremdlich, aber wir Kinder gewöhnten uns schnell daran.
Anders war es bei den Gesichtsversehrten. Männer ohne untere Gesichtshälfte, mit fehlender Schädeldecke unter dem Hut oder deformierten Gesichtern. Aber zum Glück blieben sie meistens versteckt zu Hause oder bekamen Glasaugen und Gesichtsprothesen aus Kupfer, die das Schlimmste verdeckten.
In der Straße mit dem seltsamen Namen Kreuzplätzchen lebte in der Hausnummer 1 eine Familie Reißner. Der Vater Arbeiter, die Mutter Zugehfrau auf der anderen Isarseite und fünf Söhne. Alle hatten sich freiwillig gemeldet und waren im Krieg. 1916 waren bereits vier gefallen und einer vermisst. Wenn man die Reißnerin beim Bäcker oder auf dem Markt sah, machten die meisten aus Scham einen großen Bogen um sie. Bei denen, die selber Söhne an der Front hatten, kam auch noch der Aberglaube hinzu, dass so ein großes Unglück ansteckend sein könnte. Erst als die Reißnerin Anfang des Sommers 1917 die Nachricht erhielt, dass der noch vermisste Sohn in einem Lazarett hinter der Front am Chemin des Dames aufgetaucht war, sprachen die Menschen wieder mit ihr. Manchmal aus Erleichterung, manchmal aus Pflichtgefühl und manchmal auch aus schlechtem Gewissen. Seltener sogar aus echter Freude.
Er sei versehrt, hieß es. Aber besser ein Sohn ohne Arm oder Bein als gar keiner, sagte der Reißnervater. Er tauchte zum Frühschoppen wieder beim Wirt auf und verkündete, dass ihm der eine Rückkehrersohn alle anderen vier ersetze.
Als der Sohn Franz aber im Juli wirklich am Hauptbahnhof ankam, war das ganze Viertel schockiert. Franz fehlte fast das ganze Gesicht. Nase, ein Auge, der Oberkiefer und die eine Gesichtshälfte waren quasi weg. Stattdessen war da nur eine rosig entzündete Haut. So ähnlich wie wenn man von einer Wunde den Schorf abkratzt und die Stelle darunter noch nicht ganz verheilt ist. Man hatte ihn so zusammengeflickt, dass alles wieder halbwegs funktionierte, aber menschlich war daran nicht mehr viel. Er konnte nicht richtig sprechen und schlürfte nur breiige Nahrung. Sein Gesicht war zu vernarbt und voller Wulste, als dass man ihm eine Maske hätte herstellen können. An der Stelle, an der man normalerweise ein Glasauge eingesetzt hätte, war gar kein Loch dafür da. Nur eine klumpige Narbe. Sein Anblick war so gruselig und gleichzeitig mitleiderregend, dass es selbst den frechsten Buben im Viertel die Sprache verschlug. Keiner der Halbwüchsigen, die sonst Einbeinigen aus Spaß die Krücken wegzogen oder Zitterern rohe Eier zuwarfen, die sie vor Zittern nicht fangen konnten und auf ihren Hosen landeten, hatte das Bedürfnis, Franz zu hänseln. Er bekam auch keinen Spitznamen wie all die anderen. Zitteralois, einhaxiger Dauerläufer, Krückenhupfer, Bazfotzn oder Stotterotto. Der Franz wurde nur Franz genannt. Wer dem Franz begegnete, grüßte ihn und behandelte ihn wie eine Respektsperson. Und das, obwohl sich vor dem Krieg niemand jemals um die Reißnerkinder gekümmert hatte. Die Auer taten so, als könne man sein Gejaule und Gestammel verstehen. Der Wagnerbräu ließ eigens für ›unseren Franz‹ eine Art Krug mit Trinkvorrichtung anfertigen, damit er mit den anderen beisammensitzen und sein Bier trinken konnte. Beim Bäcker gab es nur für den Reißnersohn eine Brösel-Mischung, die er mit Milch oder Kaffee zu einem Brei verrühren konnte. Der Metzger stellte eine besonders dicke und nahrhafte Suppe für ihn her und der Obsthändler auf dem Markt hob überreife Birnen für ihn auf, aus denen sich ein Obstmus herstellen ließ. Woran es lag, dass Franz, anders als die meisten anderen Kriegsversehrten, nicht behandelt wurde wie ein Krüppel, kann ich nur vermuten. Ich denke, dass er sich einfach nie wie einer ohne Gesicht verhalten hat. Er hat immer weitergesprochen, obwohl er nicht zu verstehen war, er hat gearbeitet, um seine Eltern zu unterstützen und sich und seinen Freunden gelegentlich etwas gönnen zu können und er hat mit den Mädchen geschäkert, obwohl sie das sicher von sich aus nicht gemacht hätten. Ich wünschte, ich hätte das auch gekonnt.
Im Frühjahr 1918 spielte Franz sogar schon mit den anderen Buben Fußball, und im August saß er mit der ganzen Bande aus dem Viertel in der Grünanlage an die Isar und gehörte dazu. Von meinem Zimmer aus konnte ich manchmal das komische Geräusch hören, das er machte, wenn er lachte.
Franz wurde im Sommer 1918 zu einem echten Teil von Burgls Entourage. Obwohl er ein paar Jahre älter war als die anderen. Manchmal konnte ich die sieben hören, wenn sie die Zeppelinstraße entlangkamen und sich laut unterhielten. Oft schlich ich dann ein wenig später auch auf die Straße und lief ihnen hinterher. Wenn sie dann an die Isar gingen, setzte ich mich ein paar Meter entfernt auf eine Bank oder einfach ins Gras hinter einen Baum und schaute ihnen beim Befreundetsein zu. Ich war immer sehr vorsichtig, weil ich nicht wollte, dass sie mich sahen. Natürlich war ich neidisch. Aber nicht auf den Franz alleine. Ich träumte mich mitten in die Gruppe hinein, und manchmal fühlte es sich in meinem Versteck so an, als gehörte ich dazu.
Einmal hörte ich nur Burgls Stimme von der Straße herauf und wunderte mich, warum nur sie sprach und nicht das übliche laute Gejohle und Gerede der anderen zu hören war. Außerdem war es viel später am Tag als sonst. Fast schon Abend. Ich schaute aus dem Fenster und sah, wie Burgl nur mit Franz die Straße entlang in Richtung Frühlingsanlagen ging. Burgl alleine mit dem Monster, dachte ich. Ich ging hinterher. Man konnte ja nie wissen. Vielleicht brauchte sie ja einen Helden. Sie waren sehr vertraut und liefen nebeneinander her, als wäre Franz ein ganz normaler junger Mann und sie seine Verlobte. Sie gingen unter der Braunauer Eisenbahnbrücke hindurch immer weiter die Isar entlang bis zur Flaucherwildnis. Es wurde dämmrig und sie setzten sich auf eine Kiesbank. Es war sehr warm. Burgl hatte schon auf dem Weg aufgehört, aufgeregt und laut zu reden. Nur manchmal glaubte ich, sie leise ein paar Worte gurren zu hören. Ich schlich mich etwas näher an die beiden heran, um das Gespräch mitzubekommen. Es war inzwischen ganz dunkel geworden. Ich hockte unsichtbar im Gebüsch, Burgl und Franz waren im Mondlicht recht gut zu erkennen. Die beiden saßen einfach nur da und blickten auf den Fluss. Sonst war es still, bis auf die leise vom Flaucher Biergarten herüberklingende Musik. Plötzlich stand Franz auf, drehte sich zu Burgl um, nahm ihre Hand und zog sie hoch. Als sie stand, schaute sie ihm lange in die Augen. Also in das Auge, das er noch hatte. Ich hätte gedacht, dass einer wie Franz, um solche Blicke zu bekommen, jemandem sehr viel Geld bezahlen, sie festhalten oder sogar fesseln müsste, aber offenbar tat Burgl das freiwillig. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gesagt, dass sie es sogar genoss. Dann sah ich, wie Franz Burgl das Kleid aufknöpfte und herunterzog. Sie stand nur im Untergewand mit dem Rücken zu mir. Oberrum war sie nackt. Die bunten Lichter vom Biergarten gaben Burgls Silhouette eine seltsame, aber schöne Lichtkante. Franz schaute sie mit seinem einen Auge an.
Es war schwer, die Gefühle zu erkennen, die sich auf seinem vernarbten Gesicht widerspiegelten. Aber er wirkte auf mich wild und unberechenbar. »Das ist meine Gelegenheit«, dachte ich. Aus dem Gebüsch springen und den Franz mit einem Stock niederstrecken. Dann Burgl wie ein Ritter wieder anziehen und sie galant nach Hause begleiten. Dort würde ich sie dann wieder ausziehen. Aber ich traute mich nicht. Ich sah auch nicht, dass Burgl sich wehrte. Müsste sie nicht schreien und um sich schlagen, wenn sie das alles nicht wollte? Franz legte seine Hände auf Burgls Busen, und ich hörte ihn seine glucksenden Geräusche machen. Sie streichelte seinen Kopf, während er an ihrem Busen herumfummelte und mit seinem vernarbten Mund daran herumzuzelte. Er schien sehr stark zu sabbern, denn ich hörte sein Spuckeschlürfen viel lauter als sonst. Burgl legte ihren Kopf in den Nacken. Gerade so, als würde sie das alles erregen. Sie stöhnte sogar ein bisschen. Mir grauste und es schüttelte mich. Ich sah vor meinem inneren Auge, wie Franz mit seinem entstellten, kaum funktionierenden Mund an Burgls Busen hing und musste einen Würgereiz unterdrücken. Warum grauste es den anderen und besonders Burgl nicht genauso vor dem Franz wie mir? Ich wandte mich ab und schlich mich durch das Gebüsch davon. Gedemütigt, weil Franz begehrenswerter war als ich, aber auch weil ich mich nicht getraut hatte, Burgl zu retten.
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In den letzten zwei Augustwochen blieb ich zu Hause und vermied es, den anderen zu begegnen. Wenn ich die Stimmen der sieben auf der Straße hörte, schlich ich ihnen nicht mehr hinterher, sondern schloss stattdessen das Fenster. Mit Burgl hatte ich nichts mehr zu tun. Franz’ Gesicht an ihrem Busen ging mir nur schwer aus dem Kopf.
Langsam entwickelte ich eine Theorie rund um das Burgl-Franz-Ereignis, die es mir wieder ermöglichte, Burgl zu sehen. Sie hatte das alles nur aus Patriotismus getan. Für Deutschland. Einem Helden von der Somme die Ehre erweisen, sozusagen. Ein bisschen auch aus Schuldgefühlen. Sie als Daheimgebliebene wollte dem armen Soldaten Franz etwas Gutes tun. Dem gesichtsversehrten Kriegshelden. Ein für mich neuer Charakterzug an Burgl, der sie adelte und plötzlich nicht mehr nur körperlich begehrenswert erscheinen ließ, sondern liebbar machte. Ich war von da an nicht mehr nur an Burgls Busen, Mund, Beinen und Hinterteil interessiert, sondern ich begann auch, mich in sie zu verlieben. Oder in meine Vorstellung von ihr. Ich beobachtete sie wieder mehr, sah ihr und ihrer Clique beim Jungsein zu und versuchte, irgendwie in ihre Nähe zu kommen. Ich hatte das Gefühl, dass irgendwann der Moment kommen würde, an dem ich in Burgls Welt treten und zum einzig wirklich wichtigen Mann in ihrem Leben werden würde.
Im September 1918 bekam Franz eine Lehrstelle als Kunstschmied in Sendling, zog in ein Zimmer bei der Familie, der der Betrieb gehörte und war von da an aus dem Viertel verschwunden. Ich habe ihn vor ein paar Jahren mit Frau und drei Kindern am Kreuzplätzchen gesehen. Ein Umzugsunternehmen holte die Möbel der Eltern aus der Wohnung. Franz führte sie zu einem Opel, den er selbst lenkte und fuhr mit ihnen davon. Frau und Kinder in der Taxe hinterher. Die Nachbarin erzählte mir, dass er für sich und seine Familie in Solln ein Haus gebaut hatte und nun mit seinen Eltern, seiner besonders hübschen Frau und seinen drei Kindern dort hinzog. Das Gesicht hatte er scheinbar nachträglich noch operieren lassen, denn er war bei Weitem nicht mehr so abstoßend wie früher. Sogar ein Glasauge hatten sie ihm einsetzen können und eine neue Nase geformt. Als ich ihn grüßte, sah ich in seinem funktionierenden Auge, dass er nicht wusste, wer ich war.
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Im April 1919 muss es dann passiert sein. Freicorps und KPDler waren überall in der Stadt, Straßenkämpfe, Anarchie, Räterepublik und viele der Auer Vorstadt-Großmäuler mittendrin. Eine verwirrende Zeit. Im Frühsommer war es kein Gerücht mehr: Burgl war schwanger. Sie war verzweifelt, ich überglücklich, denn ich fühlte, dass meine Stunde gekommen war.
Die Auer Buben unseres Jahrgangs waren 1918 in einer Art Schwebezustand. Sie waren gerade nicht mehr eingezogen worden, mussten aber jederzeit damit rechnen, im letzten Moment doch noch in den Krieg geschickt zu werden. Also fingen die meisten erst 1919 an, richtig erwachsen zu werden und nach und nach aus dem Viertel und Burgls Dunstkreis zu verschwinden. Sie gingen in Haidhausen, der Altstadt oder sonst wo in die Lehre, zogen ganz weg oder waren arbeitslos und verschwanden irgendwo in den Asylen oder Ledigenwohnheimen. Jedenfalls hatte keiner genug Interesse an einer schwangeren Siebzehnjährigen, um sich weiterhin um Burgl zu scheren. Die Entourage löste sich auf. Man konnte Burgl oft alleine die Zeppelinstraße entlanggehen sehen. Ein ungewohntes Bild. Das ehemalige Objekt der Begierde aller war plötzlich einsam.
Ich machte unter größten Mühen und nur durch den enormen Druck, den mein Vater auf mich ausübte, im letzten Jahrgang das Notabitur nach Kriegslehrplan. Das königliche Vorkriegsabitur oder das spätere aus dem Freistaat hätte ich wahrscheinlich nicht geschafft.
Ab Mai bereitete ich mich auf mein Jurastudium vor (das war meine offizielle Ausrede für mein Rumgesitze in der Stube, das Aus-dem-Fenster-Gestarre und Leerer-Kopf-Spielen). Um mir ein wenig Taschengeld zu verdienen, hatte ich zusätzlich eine Heimarbeitsbeschäftigung. Mein Vater verlangte nach dem Abitur Kostgeld von mir, und ein bisschen Geld brauchte ich auch so noch. Meine Mutter finanzierte mir die Nusshörnchen nicht mehr.
Also saß ich im Mai und im Juni jeden Tag an meinem Schreibtisch und schaute säckeweise Postkarten aus dem ganzen Reich durch. Ich überprüfte und bewertete Teilnahmepostkarten für Preisausschreiben verschiedener Zeitschriften. Meist die Wochenend-Beilagen der großen Tageszeitungen. Von der Vossischen- bis zur Frankfurter Zeitung. Ich bewertete die Lösungen der Rätsel. Die korrekten bekamen einen grünen, die falschen einen roten Strich. Ich arbeitete im Akkord und achtete anfangs nicht auf die Form oder den Inhalt der Karten. Erst später ging mir auf, dass viele der Teilnehmer ihre ganze Hoffnung in das Gewinnen des Preisausschreibens gelegt hatten. Einige Postkarten rochen förmlich nach Steckrüben und der Verzweiflung des ersten Nachkriegsjahres. Antworten auf Preisausschreiben für einen Jahresvorrat an Rasierseife, geschrieben in den Handschriften alter Damen. Gelöste Kreuzworträtsel, ausgefüllt von Bauern aus dem Sauerland, bei denen man einen Maßanzug in einem Herrengeschäft in Berlin gewinnen konnte. Warum nahmen all die Menschen an solchen Preisausschreiben teil? Waren sie so arm, dass sie glaubten, durch den Weiterverkauf von Rasierseife noch etwas Geld verdienen zu können? Oder versuchten sie sich damit abzulenken, um den Kriegstod von Familienangehörigen zu vergessen? Meist waren die Lösungen falsch. Zusammengeraten und improvisiert. Ich strichelte die Karten rot. ›Wieviele Barthaare hat der durchschnittliche Mann?‹ Die häufigste Antwort: ›Eintausend‹. Mehr rote als grüne Karten. ›Wie heißt der Sieger von Tannenberg?‹ Das meisteingeschickte Lösungswort: ›Ludendorf‹. Zwanzig Pfennig Porto verschwendet für die verschwindend kleine Hoffnung auf lebenslang dunkelblaue Schuhcreme von Erdal. Wer brauchte schon dunkelblau? Jemand anderer hätte in den vielen Teilnehmern an jenen Preisausschreiben vielleicht den ersten Anflug von Optimismus in der Nachkriegszeit gesehen. Mich machten die Postkarten und die Geschichten dahinter nur traurig.
Das Rot- und Grünstricheln dauerte nicht länger als drei oder vier Stunden pro Tag. Den Rest der Zeit verbrachte ich mit meinen ›Vorbereitungen‹ für das Jurastudium. Ich saß am Fenster und schaute auf die Straße. In der Hoffnung, Burgl vorbeispazieren zu sehen. Dabei dachte ich mir aus, wie ich die schreckliche Situation, in der sie sich befand, für mich nutzen konnte. Sie war nicht nur unverheiratet schwanger. Sie war auch vom beliebtesten Mädchen der ganzen östlichen Isarseite zu einer einsamen Frau geworden. Manchmal sah ich sie, wie sie nach Aufmerksamkeit gierend um sich schaute und wie ihr jede Regung in einem der Fenster Hoffnung gab, dass dort jemand saß, der ihr Beachtung schenken würde. Sie sprach den einbeinigen Straßenkehrer und den tauben Kohlenhändler genauso an wie das Kindermädchen aus der Erhardtstraße und den Familienvater aus Obergiesing. Immer auf der Suche nach ihrer früheren Wirkung auf die Mitmenschen.
Die hatte sie aber nicht mehr. Ich weiß nicht, ob es an ihrer Schwangerschaft lag. Eher nicht, denn man konnte als Außenstehender noch nichts erkennen. Der Bauch war fast so flach wie noch im Winter. Trotz sommerlicher Kleidung. Wahrscheinlich wirkte sie einfach verzweifelt, und man spürte, dass sie auf der Suche war. Das Gegenteil von Franz Reißners Erfolgsrezept. Der angsteinflößend hässliche Gesichtsversehrte, den alle mochten und respektierten, hatte nie gewirkt, als sei er auf der Jagd nach Liebe und Anerkennung. Das hatte es leicht gemacht, ihn zu mögen.
Ich wagte es noch nicht, mich Burgl zu nähern. Trotzdem malte ich mir aus, wie ich es anstellen musste, zu Burgls Vertrautem und Freund zu werden. Ich wollte ganz und gar für die leidende Burgl da sein. Ihre Schulter zum Anlehnen. Bis irgendwann mein Moment kommen würde, um letztendlich ihr Herz zu gewinnen, sie zu küssen, zu heiraten, das Kind anzunehmen, sein Vater und ihr leidenschaftlicher Liebhaber und Mann zu werden. Nur Geduld, sagte ich mir.
Einige Wochen beobachtete ich Burgl nur von meiner Wohnung aus, sah ihre Versuche der Kontaktaufnahme und bemerkte mitleidig, wie sie oft minutenlang an der nächsten Häuserecke stehen blieb, um die Zeit totzuschlagen.
Im Juli begann ich dann, Burgl nachzusteigen und sie zu verfolgen. Mein Vater machte sorgenvolle Bemerkungen, denn er befürchtete, dass ich durch meine Ausflüge die Vorbereitungen für mein Studium nicht ernst genug nahm.
Das Bild, das Burgl schon von meinem Beobachtungsposten am Fenster abgegeben hatte, änderte sich kaum. Sie schlich langsam von Straße zu Straße, grüßte Passanten und Ladenbesitzer, die sie meist ignorierten oder nur kurz nickten. Ich musste sehr aufpassen, nicht gesehen zu werden, denn Burgl reagierte auf jede menschliche Regung. Ich glaube sogar, dass sie meine Blicke spürte, was sie noch aufmerksamer werden ließ.
Ich würde gerne interessante Geschichten aus diesen Juli- und Augusttagen schreiben. Doch ereignete sich nicht viel mehr, als dass sich Burgl montags bei der Eisdiele Ranftl am Baldeplatz eine Eismuschel gönnte, dass sie mich an einem Tag Ende Juli fast bemerkt hätte, dass sie einmal von einer durch eine Pfütze rauschende Droschke nass gespritzt wurde und dass sie es vermied, an Kinderwagen schiebenden Frauen oder Kindermädchen vorbeizugehen. Lieber wechselte sie die Straßenseite.
Für mich bedeuteten diese Wochen einen großen Wandel. Aus dem vagen Gedanken, mich Burgl zu nähern, wurde ein Plan, wie ich es konkret bewerkstelligen wollte. Schritt für Schritt wollte ich ihr näherkommen. Nach und nach ein unverzichtbarer Teil ihres Lebens sein.
Dazu musste ich nur den Mut aufbringen, mich ihr zu zeigen und aus meiner Unsichtbarkeit zu treten. Für jemanden, der jahrelang unbemerkt geblieben war und sich sehr an diesen Zustand gewöhnt hatte, ein sehr schwieriges Unterfangen. Das ging nicht von heute auf morgen.
Manchmal nahm ich mir vor, einfach runterzugehen und sie anzusprechen. Ich war sogar schon das ein oder andere Mal im Treppenhaus mit dem festen Entschluss, sie anzusprechen. Das konnte doch gar nicht so schwer sein, so gierig wie sie nach Aufmerksamkeit war. Doch dann machte ich einen Rückzieher und schlich mich wieder ans Fenster. Oder ich trat aus dem Schatten des Baumes, hinter dem ich mich versteckt gehalten hatte, wenn ich Burgl hinterherschlich. Und wenn ich merkte, dass sie anfing zu spüren, dass da jemand war, mit dem sie sprechen konnte, zog ich mich wieder in mein Versteck zurück.