Kitabı oku: «Schattengeister», sayfa 4

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KAPITEL 4

«Sie ist nun schon seit Tagen so», sagte die Stimme der Tante.

Makepeace wusste nicht, wo sie war und aus welchem Grund. Ihr Kopf war erfüllt von einem Pochen und einer Schwere, die es ihr unmöglich machte, ihn zu heben. Etwas hielt ihre Glieder gefangen. Die Welt ringsum war unscharf wie ein Phantom, und Stimmen schienen nur aus weiter Ferne zu ihr vorzudringen.

«So kann das nicht weitergehen», sagte die Onkelstimme. «Den halben Tag liegt sie wie tot da, und dann wieder … Na, du hast sie ja gesehen. Der Schmerz hat ihr den Verstand geraubt. Wir müssen an unsere Kinder denken. Sie sind nicht mehr sicher, solange sie hier ist.»

Es war das erste Mal, dass Makepeace Furcht in seiner Stimme hörte.

«Was werden die Leute denken, wenn wir unser eigen Fleisch und Blut auf die Straße setzen?», gab die Tante zu bedenken. «Sie ist das Kreuz, das wir zu tragen haben.»

«Wir sind nicht ihre eigenen Verwandten», sagte der Onkel.

Eine Zeit lang herrschte Stille, dann seufzte die Tante tief auf. Makepeace fühlte ihre warme, abgearbeitete Hand an ihrem Gesicht.

«Makepeace, Kind, kannst du mich hören? Dein Vater – wie lautet sein Name? Margaret hat’s uns nie gesagt, aber du weißt es doch gewiss, nicht wahr?»

Makepeace schüttelte den Kopf.

«Grizehayes», flüsterte sie rau. «Er lebt in … Grizehayes.»

«Ich wusste es», flüsterte die Tantenstimme voller Ehrfurcht und Triumph. «Dieser Sir Peter! Ich wusste es!»

«Wird er etwas für sie tun?», fragte der Onkel.

«Er ganz sicher nicht, aber seine Familie, wenn sie nicht will, dass ihr Name in den Schmutz gezerrt wird», sagte die Tante entschlossen. «Es würde keinen guten Eindruck machen, wenn jemand aus ihrer vornehmen Blutlinie in Bedlam landet, nicht wahr? Ich werde ihnen sagen, dass wir sie dorthin schicken, wenn sie sich ihrer nicht annehmen.»

Aber aus den Worten waren längst schon wieder bloß Töne geworden, und Makepeace versank an einem dunklen Ort.

Die folgenden Tage glitten verschwommen vorüber wie Hechte in trübem Wasser. Die meiste Zeit blieb Makepeace eng in eine Decke gewickelt wie ein Baby. Wenn sich ihr Geist etwas klärte, wickelte man sie aus, aber sie konnte keinem Gespräch folgen und auch nicht im Haushalt helfen. Sie taumelte und torkelte und ließ alles fallen, was sie in die Hand nahm.

Der Duft der Pasteten aus der Küche, der ihr normalerweise das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, machte sie krank. Der Geruch von Schmalz, Blut, Kräutern – all das war zu viel auf einmal. Aber die ganze Zeit war es in Wahrheit der Geruch von Bär, der sie verfolgte. Sie konnte sich jener feuchten Wärme seines Geistes nicht entledigen.

Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was geschehen war, nachdem sie nach Bär gegriffen und die Schwärze sie verschluckt hatte, aber in ihrem Gedächtnis herrschte ein heilloses Durcheinander. Sie glaubte allerdings, sich an die beiden Schausteller zu erinnern. Sie hatte ein vages Bild von ihnen im Kopf, wie sie schrien und brüllten, die Gesichter blutüberströmt.

Tiere hatten keine Geister, das hatte sie jedenfalls immer gedacht. Aber offensichtlich hatten sie doch welche, zumindest hin und wieder. Inzwischen hatte Bär seinen Geist in seiner Wut vermutlich ganz und gar aufgezehrt. Sie hoffte, dass seine Rache den Preis wert gewesen war. Warum fühlte sie sich nach diesem Kontakt so schlecht? Vielleicht, dachte sie benommen, konnten einen wütige Tiergeister mit irgendeinem Fieber anstecken.

Als man sie eines Tages in die gute Stube führte, glaubte sie tatsächlich, sich in einem Fieberwahn zu befinden. Ein Mann stand neben dem Kamin. Er war groß und trug einen dunkelblauen Mantel. Sein Adlergesicht war von einem weißen Haarschopf gekrönt. Es war der Mann, den sie am Tag des Aufruhrs in London verfolgt hatte wie ein Irrlicht.

Makepeace starrte ihn an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

«Das ist Master Crowe», sagte die Tante langsam und behutsam. «Er wird dich nach Grizehayes bringen.»

«Mein …» Makepeaces Stimme war immer noch eingerostet. «Mein Vater …»

Unerwarteterweise schlang die Tante die Arme um Makepeace und drückte sie einmal kurz an sich.

«Er ist tot, Kind», flüsterte sie. «Aber seine Familie wird dich aufnehmen, und die Fellmottes können sich viel besser um dich kümmern als ich.» Dann ging sie eilig davon, um Makepeaces Sachen zusammenzusuchen, überwältigt von Zärtlichkeit, Sorge und Erleichterung.

«Wir haben sie eng in eine Decke gewickelt», erklärte der Onkel dem Fremden murmelnd. «Ihr solltet das Gleiche tun, wenn sie wild wird. Was immer diese Halunken im Gasthaus ihr angetan haben, ich glaube, sie haben ihr den Verstand aus dem Kopf geschlagen, bevor irgendjemand sie davongejagt hat.»

Makepeace würde nach Grizehayes gehen. Genau das hatte sie zu Mutter gesagt, an jenem letzten, tödlichen Tag. Vielleicht sollte sie glücklich sein oder zumindest irgendetwas fühlen.

Stattdessen kam sich Makepeace zerbrochen und leer vor wie eine ausgelöffelte Eierschale. Die Suche nach Mutters Geist hatte sie zu einem toten Bären geführt. Und jetzt brachte Mr. Crowe, durch den sie gehofft hatte, ihren Vater zu finden, sie zu einem weiteren Grab.

Seit Jahren predigte der Pastor vom Ende der Welt, und jetzt war es gekommen. Makepeace wusste es, sie fühlte es. Als die Kutsche sie aus Poplar herausbrachte, schoss ihr der Gedanke durch den Nebel in ihrem Kopf, dass doch eigentlich die Erde erbeben und die Sterne wie reife Feigen vom Himmel fallen müssten. Und sie sollte Engel sehen oder die glänzende Frau aus Nanny Susans Visionen. Stattdessen sah sie Wäsche auf der Leine, ratternde Karren und Treppen, die gefegt wurden, als ob nichts geschehen wäre. Aus irgendeinem Grund war das schlimmer als alles andere.

Während die Kutsche nach Nordwesten rumpelte, versuchte Makepeace zu begreifen, was man ihr gesagt hatte.

Ihr Vater war Sir Peter Fellmotte gewesen, und er war tot. Er stammte aus einer uralten Familie, die sich damit einverstanden erklärt hatte, sie aufzunehmen. Es klang wie das bittersüße Ende einer Ballade, aber Makepeace war wie betäubt. Warum hatte Mutter nie über ihn gesprochen?

Sie erinnerte sich an die Warnung ihrer Mutter. Du hast ja keine Ahnung, wovor ich dich bewahrt habe. Wenn ich in Grizehayes geblieben wäre

Es war ein Fehler, an Mutter zu denken. In Makepeaces Kopf trat die Erinnerung an den Albtraum-Geist mit dem Gesicht ihrer Mutter. Die verzerrte Stimme und das graue, in Fetzen hängende Antlitz … Makepeaces Geist verschloss sich wieder an jenem dunklen Ort.

Als sie von dort zurückkehrte, war ihr übel und sie fühlte sich erschöpft. Sie saß immer noch in der Kutsche, aber eng in eine Decke aus Schaffell gewickelt, sodass sie die Arme nicht bewegen konnte. Um die Decke war ein Seil gebunden.

«Bist du jetzt wieder ruhiger?», fragte Mr. Crowe sachlich, als sie ihn verwirrt anblinzelte.

Zögernd nickte Makepeace. Ruhiger als wann? Auf ihrem Kinn prangte ein blauer Fleck. Und auch ihr Erinnerungsvermögen war irgendwie angeschlagen; da war ein undeutliches Gefühl, dass sie etwas getan hatte, was sie nicht hätte tun sollen. Irgendwie war sie in Schwierigkeiten geraten.

«Ich kann nicht zulassen, dass du aus der Kutsche springst», sagte Mr. Crowe.

Die Decke war dick und warm, roch aber intensiv nach Schaf. Sie klammerte sich an diesen Geruch. Es war etwas, das sie begriff. Mr. Crowe richtete kein weiteres Wort an sie, und dafür war sie ihm dankbar.

Während der langen, feuchten Kutschfahrt veränderte sich die Landschaft allmählich. Am ersten Tag war sie Makepeace noch vertraut, mit den nebelverhangenen Wiesen und den fruchtbaren, blassgrünen Maisfeldern. Am zweiten Tag wurden die sanften Hügel allmählich höher. Und am dritten waren die Felder in eine Moorlandschaft übergegangen, wo schlanke, schwarzgesichtige Schafe grasten.

Irgendwann wachte sie auf und merkte, dass die Kutsche in strömendem Regen eine ansteigende Straße entlangfuhr. Rechts und links der Straße lagen Felder und Weiden, und am Horizont stand eine düstere Hügelkette Wache. Die Straße endete hinter einem kleinen Wäldchen aus dunklen, knorrigen Eiben vor der grauen, klobigen Fassade eines riesigen Hauses. Zwei Türme erhoben sich über dem Gebäude wie missgestaltete Hörner.

Das war Grizehayes. Obwohl Makepeace das Anwesen noch nie gesehen hatte, war es ihr vertraut, als ob tief in ihrem Inneren eine Glocke anschlagen würde.

Als sie endlich ankamen, war Makepeace durchgefroren, erschöpft und hungrig. Sie wurde losgebunden und ausgewickelt und dann einer rothaarigen Magd mit müdem Gesicht übergeben.

«Seine Lordschaft wird sie sehen wollen», sagte Crowe und ließ Makepeace in der Obhut der Frau zurück.

Die Magd zog sie um, säuberte ihr Gesicht und bürstete ihre Haare. Sie war weder unfreundlich noch freundlich. Makepeace wusste, dass diese Aufmerksamkeit nicht aus Fürsorge geschah, sondern dass sie jemandem präsentiert werden sollte. Die Frau schüttelte den Kopf über Makepeaces gesplitterte und abgebrochene Fingernägel. Makepeace hatte keine Ahnung, warum sie so waren.

Als sie einigermaßen vorzeigbar war, brachte die Frau sie durch einen dunklen Korridor, winkte sie stumm durch eine Eichentür, die sie dann hinter ihr zuzog. Makepeace stand in einem weitläufigen, warmen Zimmer mit dem größten Kamin, den sie je gesehen hatte. In dem Kamin loderte ein gigantisches Feuer. An den Wänden hingen Gobelins mit Jagdszenen – Hirsche, die das Weiße in den Augen zeigten, während ihnen gesticktes Blut über die Flanken lief. Ein sehr alter Mann saß, von Kissen gestützt, in einem Himmelbett.

Sie starrte ihn furchtsam und ehrfürchtig an und versuchte, sich daran zu erinnern, was man ihr erzählt hatte. Das musste Obadiah Fellmotte sein, das Oberhaupt der Familie, Lord Fellmotte höchstpersönlich.

Er war in ein ernstes Gespräch mit dem weißhaarigen Mr. Crowe vertieft. Keiner der beiden schien ihr Eintreten bemerkt zu haben. Unsicher und schüchtern blieb Makepeace an der Tür stehen. Trotzdem verstand sie, was in leisem Ton gesprochen wurde.

«So so, jene, die uns beschuldigt haben, werden das nicht wieder tun?» Obadiahs Stimme war ein leise raspelndes Knarren.

«Einer hat sich umgebracht, nachdem seine Schiffe gesunken waren und er sein Vermögen verloren hatte», sagte Mr. Crowe ruhig. «Ein Zweiter wurde ins Exil geschickt, als man seine Briefe an den spanischen König abfing. Dem Dritten wurden seine Affären zum Verhängnis. Er wurde vom Ehemann seiner Geliebten beim Duell erschossen.»

«Gut», sagte Obadiah. «Sehr gut.» Er verengte die Augen. «Erzählt man sich immer noch Geschichten über uns?»

«Es ist schwer, Gerüchte zu töten, Mylord», sagte Crowe langsam. «Besonders solche, die mit Hexerei zu tun haben.»

Hexerei? Makepeace empfand einen Anflug von abergläubischem Schrecken. Hatte sie richtig verstanden? Der Pastor in Poplar hatte manchmal von Hexen und Hexern erzählt – missgestalteten, korrupten Männern und Frauen, die sich insgeheim mit dem Teufel verbündeten, um unheilige Macht zu erlangen. Sie konnten eine unbescholtene Seele mit dem bösen Blick belegen. Sie konnten dafür sorgen, dass einem die Hand verkümmerte, dass die Ernte misslang, dass das Baby krank wurde und starb. Schaden mit Hilfe von Hexerei anzustellen war natürlich verboten, und wenn man Hexen erwischte, wurden sie verhaftet und verurteilt, manchmal sogar gehängt.

«Wenn wir nicht verhindern können, dass dem König diese Gerüchte zu Ohren kommen», sagte der alte Edelmann nachdenklich, «dann müssen wir verhindern, dass er auf sie reagiert. Wir müssen uns nützlich machen, unentbehrlich für ihn. Und wir müssen etwas finden, womit wir ihn in der Hand haben, damit er nicht wagt, uns zu denunzieren. Er will sich doch unbedingt Geld von uns leihen, nicht wahr? Ich bin sicher, dass wir zu einer Übereinkunft kommen.»

Makepeace stand immer noch an der Tür. Ihre Zunge war wie festgefroren, während die Hitze des Feuers auf ihrem Gesicht prickelte. Sie verstand nicht alles, was sie gehört hatte, aber sie war sicher, dass diese Worte und Gedanken niemals für ihre Ohren bestimmt gewesen waren.

Dann schaute der alte Lord zur Tür und bemerkte sie. Er runzelte leicht die Stirn.

«Crowe, was macht dieses Kind in meinem Zimmer?»

«Das ist Margaret Lightfoots Tochter», sagte Crowe leise.

«Ach, der Bastard.» Obadiahs Stirn glättete sich wieder.

«Dann wollen wir mal sehen.» Er winkte Makepeace zu sich.

Makepeaces leise Hoffnung auf ein freundliches Willkommen sackte in sich zusammen. Langsam trat sie näher und blieb neben dem Bett stehen. Obadiahs Nachthemd und die Mütze, die ihm bis in die Stirn reichte, waren mit kostbarer Spitze besetzt, und Makepeace kalkulierte unwillkürlich, wie viele Wochen ihre Mutter dafür gebraucht hätte. Aber dann merkte sie, dass sie starrte, und senkte schnell den Blick. Die Reichen und Mächtigen anzusehen war genauso gefährlich, wie wenn man in die Sonne blickte.

Stattdessen beobachtete sie ihn zwischen ihren Wimpern hindurch. Sie fixierte seine Hände, die mit Ringen beladen waren. Er machte ihr Angst. Sie sah das blaue Blut in seinen knotigen Adern.

«Ja, eindeutig, das ist eine von Peter», murmelte Obadiah. «Schaut euch dieses gespaltene Kinn an. Und die blassen Augen! Aber Ihr sagt, sie sei verrückt?»

«Sanftmütig, aber langsam. Und wild, wenn sie ihre Anfälle hat», sagte Crowe. «Die Familie meint, es sei der Kummer. Das – und ein Schlag auf den Kopf.»

«Wenn man ihr den Verstand aus dem Gehirn geprügelt hat, dann prügelt ihn wieder hinein», knurrte Obadiah. «Es ist eine Sünde, Kindern oder Irrsinnigen die Knute zu ersparen. Sie sind sich ganz ähnlich; sie werden wild, wenn man sie sich selbst überlässt. Disziplin ist das einzige Heilmittel. Du da! Mädchen! Kannst du sprechen?»

Makepeace zuckte zusammen und nickte.

«Man hat uns gesagt, du hättest Albträume, Kind», sagte Obadiah. «Erzähl mir davon.»

Makepeace hatte Mutter versprochen, niemals über ihre Träume zu sprechen. Aber Mutter war nicht länger Mutter, und ein Versprechen schien nicht mehr viel zu bedeuten. Und so stammelte sie ein paar unzusammenhängende Sätze über den schwarzen Raum, das Flüstern und die huschenden Gesichter.

Obadiah ließ ein zufriedenes Grunzen vernehmen.

«Die Kreaturen in deinen Albträumen, weißt du, wer sie sind?», fragte er.

Makepeace schluckte und nickte.

«Tote Wesen», sagte sie.

«Zerbrochene tote Wesen», sagte der alte Lord, als ob das einen großen Unterschied machen würde. «Schwache Wesen – zu schwach, um sich ohne einen Leib zusammenzuhalten. Sie wollen deinen Körper … aber das weißt du, nicht wahr? Doch hier werden sie dich nicht kriegen. Diese toten Wesen sind nichts weiter als Ungeziefer, und wir werden sie ausrotten wie Ratten.»

Die Erinnerung an ein geschmolzenes, rachsüchtiges Gesicht zog durch Makepeaces Gedanken. Ein schwaches, totes, zerbrochenes Etwas. Ungeziefer, das man zertreten muss. Sie schlug die Tür vor diesem Gedanken zu, aber sie wollte nicht geschlossen bleiben. Makepeace fing an zu zittern. Sie konnte es nicht verhindern.

«Sind sie verdammt?», platzte es aus ihr heraus. Muss Mutter in die Hölle? Habe ich sie auf direktem Weg in die Hölle geschickt? «Der Pastor sagt …»

«Oh, die Pocken über den Pastor!», fuhr Obadiah auf. «Du bist in einem Nest von Puritanern aufgewachsen, du dummes Mädchen. Bei einem rundköpfigen, eifernden Haufen von Predigern und Propheten. Dieser Pastor wird eines Tages zur Hölle fahren, und sein zerfledderter Haufen Schäfchen mit ihm. Und wenn du nicht jede verrückte Idee vergisst, die sie dir eingebläut haben, wird es dir ebenso ergehen. Bist du überhaupt getauft?» Er grunzte zufrieden, als Makepeace nickte. «Na, wenigstens etwas. Hm … diese Kreaturen, die Einlass in deinen Kopf verlangen … Ist eine davon jemals hineingekommen?»

«Nein», sagte Makepeace und erschauerte unwillkürlich. «Sie haben es versucht, aber … ich habe gegen sie angekämpft.»

«Wir müssen ganz sicher sein. Komm her. Lass mich dich anschauen.» Als Makepeace nervös näher trat, packte der alte Mann mit unerwarteter Kraft ihr Kinn.

Erschrocken blickte ihm Makepeace in die Augen. Und sofort roch sie die Falschheit wie Rauch.

Sein zerklüftetes Gesicht war grau und trüb, nicht aber seine Augen. Sie waren von einem dunklen Goldton und eiskalt. Sie verstand nicht, was das bedeutete, aber sie wusste, dass mit Obadiah etwas ganz und gar nicht stimmte. Sie wollte nicht in seiner Nähe sein. Sie war in Gefahr.

Seine Miene zuckte und bewegte sich leicht, als ob sein Gesicht ein Selbstgespräch führen würde. Dann schloss er seine alten Augen halb und betrachtete Makepeace durch die glänzenden Spalte.

Etwas passierte. Etwas berührte die wunden Stellen ihrer Seele, forschend, tastend. Sie krächzte protestierend auf und versuchte, sich aus Obadiahs Griff zu winden, aber seine Hände hielten sie so fest, dass es wehtat. Einen Augenblick lang war es, als ob sie wieder in ihrem Albtraum gefangen wäre, in ihrem dunklen Zimmer, mit der geschmolzenen Stimme an ihrem Ohr, während dieses tote Ding unbarmherzig an ihrem Geist kratzte.

Sie stieß einen kurzen, scharfen Schrei aus und rief die Wachsoldaten ihres Geistes zu Hilfe. In Gedanken schlug sie zu und fühlte, wie sich das tastende Bewusstsein zurückzog. Obadiahs Hand ließ ihr Kinn los. Makepeace taumelte rückwärts und fiel zu Boden. Sie rollte sich zu einer Kugel zusammen, kniff die Augen zu und presste die Hände auf die Ohren.

«Ha!» Obadiahs Ausatmen klang wie ein kurzes Lachen. «Vielleicht konntest du sie tatsächlich alle abwehren. Oh, hör auf zu wimmern, Kind! Ich werde dir für den Moment glauben, aber hör gut zu: Wenn eins von diesem toten Ungeziefer sich in deinem Gehirn eingenistet hat, bist du in Gefahr. Ohne unsere Hilfe kannst du es nicht loswerden.»

Makepeaces Herz schlug rasend schnell, und sie hatte Mühe zu atmen. Einen Augenblick lang hatte sie etwas von Grund auf Bösem ins Angesicht geblickt. Sie hatte es gesehen und es hatte sie gesehen. Und etwas hatte ihren Geist berührt wie sonst nur die Toten.

Aber Obadiah war nicht tot, oder doch? Makepeace hatte gesehen, wie er atmete. Sie musste sich irren. Vielleicht waren alle Aristokraten so angsteinflößend wie er.

«Eins muss dir klar sein», sagte er ohne einen Anflug von Wärme in der Stimme. «Niemand will dich. Nicht einmal die Familie deiner Mutter. Ich frage mich, was da draußen in der Welt mit dir geschehen würde. Würde man dich nach Bedlam bringen? Wenn nicht, würdest du vermutlich verhungern oder erfrieren oder man würde dich wegen der Lumpen, die du am Leib trägst, ermorden … wenn der tote Abschaum dich nicht zuerst erwischt.»

Es gab eine kurze Pause, dann sprach der alte Mann weiter. In seiner Stimme lag jetzt Ungeduld.

«Schaut sie Euch an, das zitternde, heulende Ding! Bringt sie irgendwohin, wo sie nichts kaputtmachen kann. Mädchen, du musst Dankbarkeit und Gehorsam an den Tag legen, und diese Anfälle müssen aufhören, oder wir jagen dich hinaus aufs Moor. Und da wird dich niemand mehr beschützen, wenn das Ungeziefer dich holt. Sie werden dein Gehirn aufschlagen und es auslöffeln wie das Gelbe vom Ei.»

KAPITEL 5

Ein junger, schlanker Diener führte Makepeace eine Treppe nach der anderen nach oben zu einem kleinen, engen Zimmer mit einem Bett, auf dem eine Matratze mit Baumwollfüllung lag, und einem Nachttopf. Die Fenster waren vergittert, aber die Wände mit Vögeln bemalt, und Makepeace fragte sich, ob es wohl früher einmal ein Kinderzimmer gewesen war. Der Diener, der fast selbst noch ein Kind war, hatte ein adlerähnliches Gesicht, wie der weißhaarige Mr. Crowe. Vielleicht waren sie verwandt.

«Sei dankbar für das, was du hast, und lass den Unfug mit dem Brüllen und dem Herumgrabschen, hörst du?», sagte er, als er ihr einen Krug mit Dünnbier und eine Schale mit Gemüseeintopf auf den Boden stellte. «Ansonsten gibt’s den Stock.»

Er zog die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel im Schloss. Makepeace blieb verwirrt zurück. Herumgrabschen? Wann hatte sie je so etwas getan? Sie verstand gar nichts mehr.

Während sie die Schüssel leerte, starrte Makepeace durch die Gitter nach draußen in den grauen Himmel, auf den Innenhof und die Felder und das Moor jenseits der Einfriedung. Würde das hier ab heute für alle Zeit ihr Zuhause sein, dieses Turmgefängnis? Würde sie hier alt werden, weggesperrt, wo niemand sie sehen konnte, nur damit sie keinen Schaden anrichtete? Als die Wahnsinnige der Fellmotte-Familie?

Makepeace fand keine Ruhe. Ihr Kopf war vollgestopft mit Gedanken, und so lief sie in dem kleinen Zimmer auf und ab. Manchmal merkte sie, dass sie leise mit sich selbst redete oder dass ihr Murmeln tief, kehlig und wortlos geworden war.

Die Wände drehten sich um sie, als sie gegen sie ansprang, und die Tapete hing in Fetzen wie Birkenrinde. Sie kämpfte mit der Hitze und dem Lärm in ihrem Gehirn. Da war noch jemand im Zimmer, und er benahm sich sehr unvernünftig. Aber jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, war niemand da.

Schließlich gaben ihre Knie nach und sie taumelte zu Boden, wo sie liegen blieb. Sie fühlte sich viel zu groß und zu schwer, um sich jemals wieder zu bewegen, wie eine Landschaft. Wunde und juckende Stellen zogen über Berge und Täler, als wären es Reisende. Sie registrierte sie ohne Interesse, kurz bevor sie vom Schlaf verschluckt wurde.

Und in ihren Träumen lief sie durch einen Wald, konnte aber kaum zehn Schritte in eine Richtung machen, ehe ein Baumstamm vor ihr auftauchte, gegen den sie auch prompt prallte. Alle möglichen Vögel hockten im Geäst und zwitscherten und verspotteten sie. Der Himmel schimmerte grauschwarz wie die Flügel einer Dohle, und ihre Kehle war rau vom Brüllen.

Im Morgengrauen erwachte Makepeace völlig zerschlagen. Benommen starrte sie durch die Gitter vor dem Fenster auf den violett angehauchten Himmel, vor dem fettige Wolkenfetzen dahinzogen. Eine Fledermaus flatterte in ihr Blickfeld und verschwand wieder, wie ein dunkler Gedanke.

Sie lag nicht im Bett, sondern auf dem Boden, und jeder Knochen in ihrem Leib tat ihr weh.

Vorsichtig setzte sich Makepeace auf, wobei sie sich mit einer Hand abstützte, und zuckte zusammen. Der Schmerz war überall. Selbst ihre Hände brannten. Sie schaute sie an und sah dunkle Schrammen auf den Knöcheln. Ein paar ihrer Nägel waren schon zersplittert gewesen, aber jetzt waren einige bis ins Nagelbett hinein abgebrochen. An ihrer linken Schläfe und auf ihrer rechten Wange hatten sich empfindliche Schwellungen gebildet, und als sie mit den Fingern ihren Körper abtastete, spürte sie Prellungen an ihren Armen und an der Hüfte.

«Was ist mit mir passiert?», fragte sie sich laut.

Vielleicht hatte sie einen Anfall gehabt. Eine andere Erklärung fiel ihr nicht ein. Der Diener hatte ihr zwar mit dem Stock gedroht, aber sie hätte es wohl gemerkt, wenn er hereingekommen wäre und sie damit traktiert hätte.

Ich muss mich selbst verletzt haben. Sonst ist ja niemand da.

Wie eine höhnische Antwort auf diesen Gedanken hörte sie plötzlich ein Geräusch hinter sich.

Makepeace wirbelte herum und suchte nach dem Ursprung des Geräuschs. Nichts. Nur der leere Raum und das breiter werdende Rechteck aus glänzendem Morgenlicht, das durch das Fenster fiel.

Ihr Herz hämmerte. Das Geräusch war so erschreckend deutlich gewesen wie ein Atemzug gegen ihren Nacken, der ihr jetzt noch im Ohr kitzelte. Und doch hätte sie es einen Augenblick später nicht mehr beschreiben können.

Grob. Animalisch. Mehr wusste sie nicht.

Und dann roch sie etwas. Es stank nach heißem Blut, Herbstwald, nach nassem Hund oder Pferd, moschusartig und intensiv. Sie erkannte den Geruch sofort.

Sie war nicht allein.

Das ist unmöglich! Er hat sich selbst verzehrt! Und wir sind drei Tagesritte von Poplar entfernt! Wie hat er mich gefunden? Und sie vernichten doch Geister hier – wie konnte er nach Grizehayes gelangen, ohne dass jemand ihn bemerkt hat?

Aber es war so. Dieser Geruch war unverkennbar. Irgendwie – obwohl es eigentlich unmöglich war – hatte Bär Zugang zu ihrem Zimmer gefunden.

Makepeace wich zur Tür zurück, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war. Ihr Blick zuckte durch das Zimmer. Zu viele Schatten überall. Wichen sie zurück oder rückten sie vor? Waren da irgendwo durchsichtige Augen, die sie beobachteten?

Warum? Warum nur war er ihr gefolgt? Makepeace hatte Todesangst und fühlte sich gleichzeitig betrogen. Er hatte sich an seinen beiden Quälgeistern gerächt, aber sie hatte ihm doch gar nichts getan! Im Gegenteil – im Angel Inn hatte sie sogar den Eindruck gehabt, dass sie einander nahe gewesen waren, dass sie seinen Schmerz und seine Wut geteilt hatte und dass er ihr zu Hilfe gekommen war …

Aber er ist ein Geist. Und Geister wollen nur in deinen Kopf eindringen. Und außerdem ist er ein tumbes Tier und weiß nichts von Schuld und Sühne. Du Närrin. Hast du wirklich geglaubt, er sei dein Freund?

Und jetzt war sie mit ihm eingeschlossen. Sie konnte nirgends hin. Es gab keinen Ausweg.

Direkt neben ihrem Ohr ertönte plötzlich ein raues Geräusch. Glühend heiß. Ohrenbetäubend. Näher als nah.

Viel zu nah.

Makepeace geriet in Panik. Sie kreischte auf und rannte zur Tür, hämmerte mit den Fäusten gegen das Holz.

«Lasst mich raus!», schrie sie. «Ihr müsst mich rauslassen! Hier drin ist etwas! Hier drin ist ein Geist!»

Oh bitte, bitte mach, dass man eine Wache vor meine Tür gestellt hat! Bitte, bitte lass jemanden im Hof mich hören!

Sie rannte zum Fenster und versuchte, ihr Gesicht zwischen die Gitterstäbe zu quetschen.

«Hilfe!», schrie sie aus Leibeskräften. «Helft mir!»

Die kalten Stäbe brannten an ihren Wangen. Sie drückten gegen ihre linke Schläfe und ihre rechte Wange, genau dort, wo die Schwellungen saßen. Die Berührung erweckte eine Erinnerung. Das verschwommene Bild eines ähnlichen Moments, als sie ihren Kopf zwischen Stäbe stecken wollte, in dem Bestreben, sich zu befreien.

Makepeace hörte, wie ihr Schrei kehlig wurde, bis ein lang gezogenes, offenes Brüllen aus ihrem Mund drang. Und jetzt stemmte sie ihr Gesicht mit brutaler Kraft gegen die Eisenstäbe und versuchte, sich hindurchzuzwängen. Vor ihren Augen tanzten schwarze Punkte. Sie fühlte, wie ihre Hände hilflos an den Steinen kratzten, wie ihr die Haut von den Fingerspitzen geschält wurde.

Aufhören!, rief sie sich selbst zu. Aufhören! Was mache ich denn da?

Und da traf sie die Wahrheit wie eine Sternschnuppe.

O Gott. O Gott im Himmel. Ich bin ja so dumm.

Natürlich konnte Bär nach Grizehayes gelangen. Natürlich ist er hier.

Er ist in mir.

Ein blinder, wütender, verzweifelter Geist war in ihrem Innern. Ihre schlimmste Angst war Realität geworden. Und jetzt würde Bär in ihr herumstolpern und ihren eigenen Geist in Stücke schlagen. Er würde sie verletzen und ihren Körper zerschmettern in seinem irrsinnigen Verlangen, aus dem Turmzimmer zu entkommen.

Hör auf!

Voller Furcht rief sie ihre Gedankensoldaten auf den Plan, die Engel ihres Geistes. Sie tobten und wüteten, und sie hörte den Bären knurren. Mit einer übermenschlichen Anstrengung schloss sie die Augen und umfing sich selbst und Bär mit Dunkelheit. Die Nacht war voll mit stummem Lärm, denn ihr eigener Geist schrie vor lauter Angst genauso laut wie Bär.

Da passierte etwas. Ein Schlag erschütterte ihren Geist bis ins Mark. Einen kurzen Augenblick lang fühlte sie, wie ihre Seele ins Wanken geriet und darum kämpfen musste, aufrecht zu bleiben. Erinnerungen bluteten aus, Gedanken zerrissen. Der Bär hatte sie angegriffen.

Und doch war es dieser Schlag, der Makepeace die Angst nahm.

Er fürchtet sich. Er ist in Panik.

Sie stellte ihn sich vor, einen großen Bären, allein, verloren und gefangen in der Dunkelheit. Er verstand nicht, wo er war und warum sich sein Körper so seltsam und schwach anfühlte. Alles, was er wusste, war, dass er bedroht wurde; sein ganzes Leben lang wurde er schon bedroht …

Behutsam, aber entschlossen übernahm Makepeace wieder die Kontrolle über ihre Atmung. Einen Atemzug nach dem anderen sog sie mit erzwungener Ruhe in ihre Lungen und versuchte gleichzeitig, ihren Herzschlag zu verlangsamen. Sie schob die Angst, dass Bär sie von innen heraus zerfetzen würde, beiseite.

Ganz ruhig, flüsterte sie ihm in Gedanken zu.

Wieder stellte sie sich den Bären vor, aber jetzt stand sie im Geiste neben ihm, die Arme ausgestreckt, genau wie in jenem Moment, als sie versucht hatten, sich gegenseitig zu beschützen.

Ganz ruhig. Ganz ruhig, Bär. Ich bin’s.

Das stumme Brüllen wurde leiser und ging in ein unruhiges Knurren über. Vielleicht erkannte er sie, nur ein bisschen. Vielleicht verstand er allmählich, dass er nicht angegriffen wurde.

Ich bin dein Freund, sagte sie zu ihm. Und dann: Ich bin deine Höhle.

Höhle. Er kannte keine Worte, aber Makepeace fühlte, wie er die Vorstellung zögernd annahm, wie einen Apfel, den sie ihm darbot. Vielleicht hatte er niemals in der Wildnis gelebt, sondern war bereits in Gefangenschaft geboren worden. Aber er war immer noch ein Bär, und tief in seiner Seele wusste er, was eine Höhle war. Eine Höhle war kein Gefängnis. Eine Höhle war Geborgenheit.

Während er sich allmählich beruhigte, fragte sich Makepeace, wie ihr seine Gegenwart in ihrem Kopf nur hatte entgehen können. Vielleicht waren ihre Übelkeit und ihr merkwürdiges Verhalten das Resultat ihres Bestrebens gewesen, in ihrem Geist Platz für ihn zu schaffen.

Und er war riesig, wenn ein solches Wort auf ein Geistwesen überhaupt zutreffen konnte. Makepeace spürte nun seine gedankenlose Stärke. Vermutlich könnte er ihren Geist genauso leicht zerschmettern wie seine Pranken ihre Kehle hätten herausreißen können, als er noch am Leben gewesen war. Aber er war jetzt ruhiger, und sie merkte, wie er die Kontrolle über ihren Körper ein Stück weit an sie zurückgab. Wenigstens konnte sie wieder schlucken, ihre Schultern entspannen und ihre Finger bewegen.

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