Kitabı oku: «Zurückbleiben bitte!»

Yazı tipi:


Das Buch

Den Befehl „Zurückbleiben!“ ohne ein „Bitte“ sagt oft genug der Reiche zum Armen, die ältere Generation zur nächsten, der Polizist zum Demonstranten, der sich für normal haltende Mensch zum psychisch Kranken. Anja, eine Musterstudentin, wird durch eine Großdemo im Uni-Viertel in eine Auseinandersetzung mit Selbstlügen und Schweigen gerissen und setzt dabei nicht nur die Beziehung zu ihrem Freund aufs Spiel …

Der Autor

François Grosso, 1983 in Nantes, Frankreich, geboren; Einladung zur Autorenwerkstatt Prosa 2012 im Literarischen Colloquium Berlin mit dem Romanprojekt beklemmt. Ein Auszug daraus erscheint in der Literaturzeitschrift Lichtungen; promovierte 2009 an der Universität Wien mit einer Dissertation über Heimito von Doderers Tagebücher. Übersetzung von Erzählungen Heimito von Doderers ins Französische (Mort d’une dame en été, Édition Sillage 2010), Lehrbeauftragter am Institut für Germanistik der Universität Wien

Die Textlicht-Reihe

Textlicht ist junge Literatur in einem handlichen Format, für daheim oder unterwegs, nebenher oder zwischendurch – die Bücher der Textlicht-Reihe sind Literatur, die unter die Haut geht und noch lange im Kopf bleibt.

François Grosso

Zurückbleiben
bitte!


für J. M.

Inhalt

Pilgramgasse

SMASHED TO PIECES

Praterstern

Zieglergasse

Spittelau

Schottentor

Pilgramgasse

Es sei etwas Schönes, Großartiges, an einer Demo teilzunehmen, eine tolle Sache. Es fühle sich so gut an, es sei so ein berauschendes Gefühl, gemeinsam auf die Straße zu gehen, den eigenen Schritt dem der anderen anzupassen, die eigene Stimme wie das einzelne Instrument mitten im Orchester in ein Ganzes, Höheres verschwinden zu lassen.

Auf den Stufen des Arkadenhofes hört Anja ihrem Freund aufmerksam zu. Begeistert spricht Antoine von der gestrigen Demo, freut sich schon auf die nächste. Sogar ihre beste Freundin Petra sei dabei gewesen, sie sei meistens in seiner Nähe gegangen und habe am lautesten geschrien. Antoine behauptet, er habe nie gedacht, dass Petra so politisch engagiert sei, eine echte Uni-Aktivistin hinter ihrem eher spießigen Auftreten, er sei wirklich verblüfft gewesen, fragt dann aber Anja vorwurfsvoll, warum sie nicht zur Demo gekommen sei, rollt sich dabei eine Zigarette.

Anja stammelt ein paar Entschuldigungen, ihr sei gestern nicht so gut gewesen, eine leichte Migräne, deswegen sei sie zu Hause geblieben, hat in diesem Moment den Eindruck, sich durch die Lüge geschickt aus der verzwickten Lage zu retten.

„Aber nächste Woche kommst du schon mit?“, fragt er, zündet die Zigarette an.

„Ja sicher!“, antwortet sie mit einem gespielt begeisterten Ton.

Am nächsten Dienstag würde es bestimmt noch beeindruckender werden, sagt er, allerdings habe sie trotzdem etwas verpasst. Laut Polizei seien nur fünftausend Menschen auf die Straße gegangen, aber in der Tat seien es mindestens doppelt so viele gewesen. „Der Ring war menschenüberfüllt, der Asphalt vibrierte von unseren Schritten, die Luft von unseren Schreien!“ Nach der Auflösung der Demo sei das durch die Masse entstandene euphorische Gefühl noch stundenlang in ihm zurückgeblieben, und am Abend habe er noch dazu die Bestätigung bekommen, dass sie nicht umsonst auf der Straße waren. Der Bildungsminister sei verlegen im ZIB-Studio gesessen, habe unsicher die Fragen der Moderatorin beantwortet und zugegeben, dass er die Dimension der Proteste unterschätzt habe, und schließlich habe er die ersten Anzeichen einer Einlenkungspolitik zu erkennen gegeben. „Spätestens nächste Woche wird er nachgeben müssen, nach der Großdemo! Heute Abend findet übrigens eine Vollversammlung im Audimax statt. Willst du mitkommen?“, fragt Antoine unvermittelt.

Anja fühlt sich zwar gedrängt, stimmt aber zu, sagt dennoch, sie wolle davor noch nach Hause fahren, um sich ein wenig auszuruhen. Warum nicht einfach „Nein“ sagen?! Es liegt doch im Rahmen der Fähigkeiten einer Germanistin, einen Satz gekonnt zu verneinen. Dann hätte das Wort ihrem eigenen Willen entsprochen und würde jetzt nicht so wie Rotz, den man nicht schnell genug abwischen kann, hängen bleiben. Nach einem Bis-später-Kuss bleibt Anja kurz unter den hohen Steingewölben der Aula stehen, während der Freund in Richtung Universitätsbibliothek hüpft, und weiß schon von ihrem Fehler.

Es ist aber kein wirklicher Fehler, vielmehr eine Selbstlüge, ein weiterer Schritt in ihrer Flucht. Die Aussage folgt einer strikten Logik: Es gilt damit den Schein zu wahren, Zeit zu gewinnen, den Moment der Konfrontation zu verschieben. Für Rechtfertigungen und Ausreden hat man immer genug Zeit. Diesmal fühlt sie sich dennoch in die Enge getrieben, hat nunmehr den Eindruck, in einer Sackgasse zu stecken, spürt, dass ihr ganzes Lügen- und Schutzsystem zu bröckeln begonnen hat.

Auf dem sanften Abhang der Rampe des majestätischen Gebäudes angelangt wird Anja von einem Adrenalinstoß überwältigt. Der kurze Weg bis zum U-Bahneingang ist von einer Gruppe Uni-Aktivisten versperrt, an allen Seiten werden Flugblätter verteilt. Anja nimmt den Zettel, den man ihr entgegenstreckt, geht dennoch so schnell wie möglich, als habe sie es besonders eilig, um von niemandem angehalten zu werden. Erst unten bei der Schleifenanlage der Straßenbahnen beginnt sie den Rhythmus ihrer Schritte zu bremsen und spürt, wie sich die vor Kurzem aufgetretene Anspannung in eine innere Unruhe verwandelt, spürt, wie sich ihre Wahrnehmung allmählich verändert, dass es keine einzelnen Menschen mehr sind, die um sie herumgehen, sondern einfach nur eine bedrohliche Masse. Sie steigt gleich in den Zug Richtung Stadion ein, um nicht länger auf dem überfüllten Mittelbahnsteig bleiben zu müssen. Am Schottenring, wo sie von der U2 in die U4 umsteigen muss, befällt ihren Körper Schwindel, vielleicht vom Handlauf der Rolltreppe ausgelöst, der sich um einiges schneller als die Trittstufen bewegt, sodass der Arm langsam vom Körper weggezogen wird. Oben stolpert sie fast, und kaum versucht sie ihre Lebensgeister wieder in den Griff zu bekommen, da kündigt ein starker Luftzug, der ihr die Haare ins Gesicht wirft, die heranfahrende U-Bahn an. Anja ist zutiefst in ihren eigenen Gedanken versunken, denkt an alles, was ihr Antoine gesagt hat, denkt „Scheißdemo“, begeht dabei einen Fehler, übersieht den dichten Menschenauflauf, der beim Schwedenplatz in die Waggons hineinstürmt. Jetzt ist sie eingesperrt, jetzt fühlt sie sich umzingelt. Das hätte nicht passieren dürfen, normalerweise behält sie immer die Kontrolle über die Situation, antizipiert und vermeidet jeden Menschenfluss, bleibt zu Stoßzeiten immer in der Nähe einer Tür, steigt auf dem Weg zur Uni immer schon beim Rathaus aus. Aber jetzt ist es zu spät.

Denn in diesem Augenblick, an genau diesem Punkt, wo der Zug zwischen Schwedenplatz und Landstraße den Wienfluss überquert, ist es so weit. Unter kombinierten Angriffen von Spannung und Unruhe ist der Damm der Angst gebrochen und lässt Anja in einen Fluss der Panik geraten. Auf einmal verkrampft sich das Herz und klopft wie ein Hammer gegen die vorderen Rippen, immer schneller, immer heftiger, als hätte es im Brustkorb nicht genug Platz. Die Luft wird dünn, Schweißperlen rinnen auf ihrem Rücken, in ihr Dekolleté. Landstraße, Bahnhof Wien Mitte. Umsteigen zur S-Bahn und zu den Zügen der ÖBB, zu den Linien U3, O und 74A sowie zum City Airport Train Richtung Flughafen Wien. Ausstieg links. Mit der zitternden linken Hand wühlt Anja in der Handtasche, die wie eine unerträgliche Last von ihrer Schulter hängt. Scheiße! Auch wenn sie zu Hause das rosarote Dragee einnimmt, wird ihr die Pille nicht mehr viel helfen können.

Jetzt gibt es kein Zurück mehr, jetzt muss sie kämpfen, jetzt muss sie da durch. Es wird fünf, zehn, maximal fünfzehn Minuten dauern, und dann wird sie erschöpft sein. Das erste Mal hatte sie gedacht, sie erleide einen Herzinfarkt. Früher wäre sie auch geflüchtet, wäre einfach bei der nächsten Station ausgestiegen. Wie an dem Samstag, als Rapid im Hanappi-Stadion spielte und sie letztendlich eine Dreiviertelstunde gebraucht hatte, um von der Pilgramgasse bis zu einer Freundin in Unter Sankt-Veit zu fahren, weil sie wegen all der Anhänger mit ihren grün-weißen Kappen, Trikots und Schals bei der Längenfeldgasse und in Hietzing Pausen hatte einlegen müssen.

Aber Anja ist keine Anfängerin mehr. Jetzt sitzt sie einfach nur in einer Ecke, bleibt tapfer, Erstarren statt Flucht, spürt aber wie immer die Verletzbarkeit jedes Einzelnen ihrer Körperteile und würde sich am liebsten in eine Schnecke verwandeln, um sich in ihr sicheres Haus verkriechen zu können. Die Luft ist schwül und stickig, das Abteil voll wie eine Sardinenbüchse. Die Strecke zwischen zwei Stationen dauert ungefähr eine bis zwei Minuten, für Anja eine Ewigkeit, via crucis U4. Von den anderen Fahrgästen fühlt sie sich langsam wie von einer durchsichtigen Wand getrennt, sie möchte mit den Fäusten auf sie losgehen, um sicher zu sein, ob sie wirklich da sind, ob das Ganze kein böser Traum ist. An der Existenz des alten Paares gegenüber kann man allerdings kaum zweifeln. Seit dem Schottenring vergleichen sie die Ausstattung der Züge und der Stationen mit der Berliner U-Bahn. Sie lächeln, sie sind zufrieden, Wiener Linien. An den beiden Burschen dahinter auch nicht, die über ihre Freundinnen lästern und dabei dämlich grinsen.

Aber das ist nicht gut, du solltest dich doch nicht so von der Außenwelt einschüchtern lassen. Setz die Scheuklappen einfach auf! Du kennst doch den Trick, es wurde dir schon tausendmal gesagt: Versuch nur, dich auf etwas ganz anderes zu konzentrieren, bilde dir ein, dass jemand, den du lieb hast, neben dir sitzt, deine beste Freundin, Schubert, Kafka, egal, versetz dich gedanklich an einen Ort, an dem du dich wohl und geschützt fühlst, und vor allem vergiss den eigenen Körper. Du bist stärker als dein Körper, und du weißt es, das sind falsche Signale, die er dir sendet. Nichts Schlimmes, ein ganz normaler, nachvollziehbarer Somatisierungsprozess. Mit dem Daumen dreht Anja ihren i-Pod lauter, The Colored Cubes, und versucht sich einzig und allein auf die Gitarrenakkorde, die einzelnen Töne, auf die rundwarme Stimme der Sängerin zu konzentrieren, als existiere nichts anderes auf der Welt: You know I’m not unbroken / But you know that I am real / All those words I have spoken / Let you know how I feel … Es gelingt ihr aber nicht ganz, die unmittelbare Umwelt auszuschalten. Im Hintergrund sagt die männlich-depressive Stimme für jede Station alles Mögliche an, Einrichtungen oder Sehenswürdigkeiten, Umsteigemöglichkeiten, Ausstiegsanweisungen.

2-Ton-Gong

Karlsplatz, Oper. Umsteigen zu den Linien U1, U2, D, 1, 2, 4A, 59A, 62 und zur Lokalbahn nach Baden sowie zur Linie 3A. Ausstieg links.

Es folgt ein fürchterliches Hin und Her bei den Türen.

Blut pocht gegen Anjas Schläfen.

Dann ertönt die Stimme der Volkschullehrerin.

Zurückbleiben bitte!

Jemand schummelt sich noch schnell rein.

Luft kommt nur noch durch den Mund, aber bleibt im Rachen stecken und kommt nicht weiter.

Bip-Bip-Bip-Bip-Bip-Bip-Bip

Schlack!

Zug fährt ab.

„Klappehalten bitte, blöde Kuh!“, denkt Anja plötzlich laut, und die alte Berlinerin, die offensichtlich den Satz persönlich nimmt, durchbohrt sie mit Blicken. Pardon. Anja verkriecht sich noch mehr und hält ihren i-Pod noch fester in der Hand, wie ein Amulett. Das Herz wird bald platzen, es will heraus. Den Puls spürt sie sogar in ihren Fingerspitzen. Although sometimes I felt unsafe / If I fall, I stand up again

Kettenbrückengasse, Naschmarkt. Ausstieg rechts.

I won’t give up, cause I am brave / So I’ve thrown off my inner chains

Zurückbleiben bitte!

Bip-Bip-Bip-Bip-Bip-Bip-Bip

Schlack!

Zug fährt ab.

Anja kommt sich jetzt wie eine Marathonläuferin vor, die in den letzten Metern vor dem Ziel nicht zusammenbrechen darf. Die letzte Kurve, die stehenden Fahrgäste halten sich an den Haltegriffen fest, Pilgramgasse, Umsteigen zu den Linien 13A und 14A, links ziehen die hohen Bäume vor dem Rüdigerhof vorüber, sowie zur Linie 12A, Ausstieg rechts, das rosarote Lesben- & Schwulenhaus mit der hängenden Regenbogenfahne, gerettet!

Oder halbwegs gerettet. Nur mit wiederholten „Tschuldigung“-Bekundungen kann sich Anja den Weg durch die Menge bis zur Tür bahnen. Es gibt keine Rolltreppe, aber auf der Stiege fühlt sie trotzdem, wie ihr linkes Bein nachlässt, wie ihr ganzer Körper dazu neigt, das Gleichgewicht zu verlieren. Vor dem Stationsgebäude angekommen, sieht sie sich schon zwischen „McDonald’s“ und „noodles & more“ auf die unebenen Pflastersteine fallen. „Man wird mich für eine Drogensüchtige halten“, denkt sie, nimmt ein letztes Mal ihren ganzen Mut zusammen und schafft es, das Geländer zu erreichen. Anja versucht, tief Luft in die Lunge zu pumpen, aber diese lässt sich nicht ausfüllen, als wäre sie um die Hälfte geschrumpft. Sie starrt in den Graben da unten, den lächerlichen Wienfluss, der den fünften vom sechsten Bezirk trennt. Es weht keine einzige Brise, nicht einmal ein leises Lüftchen. Ausgerechnet heute! Normalerweise bläst da immer Wind vom Wienerwald herunter. Anja hört Schritte hinter sich.

„Verzeihung, geht’s Ihnen nicht gut?“, fragt eine männliche Stimme.

„Danke, es wird schon gehen“, antwortet Anja, schaut aber immer noch auf das Rinnsal.

„Sind Sie sicher? Soll ich nicht die Rettung rufen?“, fragt wieder die Stimme.

„Nein, danke, sehr nett von Ihnen, aber es geht schon wieder“, antwortet Anja, dreht den Kopf leicht in seine Richtung und quält sich zu einem Lächeln.

Langsam entfernen sich die Schritte des Samariters und vermischen sich mit denen der anderen Passanten. Vom Margaretengürtel kommt ein Zug quietschend um die Kurve, die Graffitis leuchten in der Sonne und erheitern die traurigen Mauern des Wienflusses, der zu einer riesigen Abflussrinne mitten durch die Stadt reguliert wurde. Eine Abflussrinne, ja, so ungefähr fühlt sich Anja in diesem Moment: entleert. Es dauert, aber langsam beruhigen sich doch Kopf, Lunge und Herz wieder. Anja bleibt noch ein paar Minuten am Geländer stehen und geht dann, von einem leichten Schwindel begleitet, in Richtung ihrer Wohnung.

Wie in kaum einer anderen Stadt folgt das Wohnen in Wien einem Hof-Prinzip, als wolle sich der Wiener von der Straße abschirmen, als würde er lieber von den Geräuschen der Nachbarn als von der Stadt gestört werden. Der Wiener will mit seinem Innenhof im Einklang stehen und lässt vom Frühjahr bis in den Spätsommer bei schönem Wetter gern die Fenster offen, auch wenn der grün-quadratische Raum bei Tag von den Schreien der spielenden Kinder und in der Nacht von den Lustschreien der Erwachsenen erfüllt ist.

Anja wohnt im hinteren Haus und muss daher das fünfstöckige Gebäude von einem mit Pappeln bewachsenen Hof her betreten. Die zwei Buben vom Erdgeschoss spielen wie am Vormittag in ihrem Planschbecken. Im Hauseingang fühlt es sich kurz wie in einem Kühlschrank an, aber mit jedem Stockwerk steigen auch die Celsius-Grade. Erleichtert schließt Anja die Tür ihrer Wohnung auf, erleichtert, dass sie im Treppenhaus keinen Nachbarn getroffen hat. Sie stellt schnell ihre Sachen im Eingang ab und geht gleich ins Bad, schaut sich im Spiegel an und wäre nicht besonders erstaunt darüber, wenn das Gesicht komplett verzerrt wäre oder die Augen Blut tränen würden. Bis auf die wilde Strähne über der Stirn und einem leichten Mascaraguss auf der Wange schaut aber alles ganz in Ordnung aus, eigentlich unfassbar, nach all dem, was sie gerade durchlebt hat, aber Anja weiß ja, dass Innen und Außen nicht immer zusammenpassen. Entkräftet wirft sie sich auf die Couch und schaltet die Stereoanlage ein.

Schon nach dem ersten Takt erkennt sie das Stück. Schubert, oh ja, Schuberts Streichquintett in C-Dur, das ist gut, sehr gut sogar. Anja drückt auf den Track-Vorwärts-Knopf der Fernbedienung und kommt direkt zum Adagio. Als Kind dachte sie, dieser zweite Satz sei die Musik des Paradieses. Sie legte die CD ein, die sie zu Weihnachten von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte, und schaute aus dem Fenster ihres kleinen Schlafzimmers auf die Quellwolken, die sich gewaltig über der Donau auftürmten, und war davon überzeugt, dass man bei der Pforte jenseits dieser Himalaja-Berge mit dieser Musik willkommen geheißen wird. Es war vorstellbar, es ergab sogar Sinn, es gab in dieser Musik keine Traurigkeit, höchstens die leichte Melancholie einer unsagbaren Schönheit. Ein Pendant zu Wagner. Denn für die kleine Anja begann musikalisch betrachtet die Hölle, sobald es sich der Vater am Wochenende im Wohnzimmer gemütlich machte und eine drei- bis fünfstündige Oper anhörte. In ihrer Kindheitswahrnehmung hatte sich Anja sogar eingebildet, dass der Hausmeister, der angeblich zu seinen Nächsten und vor allem den Hausbewohnern nicht besonders gütig gewesen und unerwartet einem Schlaganfall erlegen war, als Strafe nach Bayreuth geschickt worden sei und das Gebrüll von Wotan, Fricka, Brünnhilde und Co. in einer Endlossschleife ertragen musste.

Hingegen ist Schubert wohl das beste Beruhigungsmittel, kann manchmal noch besser als ein Xanor wirken. Sicherheitshalber will Anja nicht auf das Paradies warten und fühlt sich bald glücklich wie sonst nur Gott in Frankreich. Allmählich vergisst sie den Nachmittag, die Demonstranten vor der Uni, die U-Bahn, ganz allmählich vergisst sie sogar den Raum, in dem sie liegt. Es gibt nur mehr diese Musik, die zwei Geigen, die einzige Bratsche und die zwei Celli, die Fäden verweben und ein Kissen aus harmonischen Klängen bereiten, auf welchem Anja ihr Haupt ruhen lässt, ein musikalisches Glück, das nur mit Rostropovitchs Pizzicati gezählt zu sein scheint.

Denn sogar im Paradies kann man gestört werden. Schuberts Edengarten wird plötzlich laut von ihrem Handyklingelton übertönt. Anja fährt hoch, schaut kurz auf das Display, Petra!, hebt ab. Die Freundin sei ganz in der Nähe, sitze am Margaretenplatz, sie möchte Anja das Buch zurückgeben, fragt, ob sie nur kurz bei ihr vorbeischauen könne. Aber ja.

Ein paar Minuten später bricht die Freundin wie ein Orkan über Anja herein. Petra spricht gleich von der gestrigen Demo, wie toll es gewesen sei, ein wirklicher Erfolg. Anja legt das Buch Die Vielfalt in Kafkas Leben und Werk auf ihren Schreibtisch, denkt, Petra wurde tatsächlich von den Uni-Ereignissen angesteckt, sie spricht anders als sonst, verwendet die gleiche euphorische Sprache wie Antoine.

„Möchtest du etwas trinken?“, fragt Anja, versucht dabei die Diskussion über die Demo und die Uni-Proteste abzubrechen, den Kühlschrank öffnend. „Cola, Bier oder Multivitamin?“

„Cola, mit Strohhalm bitte, falls du einen hast“, wählt Petra und lässt dabei ihren schrägen Eckzahn erscheinen, einen kleinen ästhetischen Makel, der aber ihrem Gesicht einen zusätzlichen Reiz verleiht. „Wirklich schade, dass du gestern nicht dabei warst. War echt aufregend! Aber was hast du denn da draußen? Wahnsinn!“, sagt sie plötzlich und stürzt auf den Balkon.

Anja folgt ihr mit Glas inklusive Strohhalm.

„Eine Badewanne“, antwortet sie ganz lapidar, als habe jeder solch ein Objekt auf seinem Balkon stehen.

„Wo hast du sie gefunden?“, fragt Petra neugierig.

„Sie war eigentlich schon immer im Haus, nur im Keller versteckt, wohl ein Abschiedsgeschenk von den Vormietern. Ich habe sie beim Frühjahrsputz mit Antoine entdeckt, hinter leeren Kartons, Brettern und kaputten Bettgestellen lag der Schatz. Sie war braun von Schmutz, ein verrosteter Eimer und eine kaputte Mikrowelle lagen drin. Aber Antoine war begeistert und fühlte sich ähnlich wie Carter bei der Entdeckung des Grabes von Tutenchamun. Dann haben wir die Ärmel hochgekrempelt und sie nach oben getragen. Das war mit Abstand das Schwierigste“, sagt Anja. „Und da ich im Bad nicht genug Platz habe, haben wir gedacht, wir lassen sie halt auf dem Balkon, das stört niemanden.“

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