Kitabı oku: «Briefe von Toni»

Yazı tipi:

Frank Bresching

Briefe
von
Toni

Roman


Erste Auflage 2020

© der deutschsprachigen Ausgabe

Osburg Verlag Hamburg 2020

www.osburgverlag.de Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Gerd Püschel, Augustusburg Korrektorat: Mandy Kirchner, Weida Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste ISBN 978-3-95510-230-2 eISBN 978-3-95510-236-4

Für Sandra, Yannik und Jolina,

ohne die ich diese Geschichte wohl nicht geschrieben hätte.

Und ohne die ich nicht derselbe wäre.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Das Beste daran war aber nicht das Küssen und nicht das abendliche Zusammenpromenieren und Heimlichtun. Das Beste war die Kraft, die mir aus jener Liebe floss, die fröhliche Kraft, für sie zu leben, zu streiten, durch Feuer und Wasser zu gehen. Sich wegwerfen können für einen Augenblick, Jahre opfern können für das Lächeln einer Frau, das ist Glück.

(Hermann Hesse, Eine Fußreise im Herbst)

1

Juli 1979

An einem kühlen Herbstabend im Jahr 1943 flog die sechzehnjährige Maria Buchner über die Welt, und ich konnte sie nicht daran hindern.

Ich weiß noch genau, wie sehr ich sie bewunderte, aber auch wie groß meine Angst war, als sie sagte, dass sie gleich vom Brett springen und Berlin und diesem furchtbaren Krieg entfliehen würde. Zuvor wolle sie sich allerdings noch in Ilse Göldner verwandeln. Das sei sie ihr schuldig. Sie lächelte mich gequält an. Ich solle sie auf ihrer Reise begleiten. Dann wäre ich kein Junge mehr, sondern ihr Mann, zwischen uns wäre es so wie zwischen Ilse und Toni. Nach diesen Worten wandte sie sich von mir ab. Ich blieb unmittelbar hinter ihr auf dem Sprungbrett stehen und schaute durch die Dunkelheit nach unten, dorthin, wo der Mond einen schwachen Lichtschein auf die sich kräuselnde Oberfläche des Gewässers warf. Links und rechts am Ufer standen Bäume, schwarze Schatten, die sich emporreckten und finstere Gewölbe aus Ästen, Zweigen und Blättern schufen. Ein frischer Wind blies über den Badestrand und streifte meinen bloßen Oberkörper und die nackten Beine. Ich fror, auf meinen Armen und meinem Rücken breitete sich eine Gänsehaut aus.

Als Maria nach einer Weile auf das Ende des Sprungbretts zuging, folgte ich ihr nicht. Stattdessen blieb ich stehen. Ich betrachtete ihre zerzausten Haare, den angespannten Nacken, ihren entblößten Rücken, der mit jedem Schritt steifer zu werden schien, und dachte daran, dass es noch nicht lange her war, dass ich ihr die Haare vom Nacken gepustet und diesen Rücken mit Küssen bedeckt hatte.

Als sie das Ende des Bretts erreichte, drehte sie sich noch einmal zu mir um und sah mich bittend an. Sie streckte die Hand nach mir aus. Ich zögerte und fragte mich, ob ich ihr diesen Gefallen schuldete, ob sie meine Hilfe überhaupt benötigte und ich tatsächlich mutig genug war, in das Dunkel zu springen. Dann wartete ich darauf, dass sie noch etwas sagen würde, doch wir standen einfach nur stumm da. Bis ich beschämt auf das Brett blickte.

Das Vergangene ruhen zu lassen, habe ich mir mehr als drei Jahrzehnte lang immer wieder vorgenommen. Aber das Vergangene hat mich nicht ruhen lassen. Ich konnte die Erinnerungen nie völlig vergessen oder auslöschen, auch wenn es mir zuweilen gelang, sie in den Hintergrund zu drängen, sodass sie mit der Zeit verblassten wie ein Traum. Gleichwohl prägten sie all die Jahre meine Art zu denken, zu handeln und zu lieben. Schließlich waren sie kein Traum, sondern eine Glück bringende und am Ende auch grauenvolle Wirklichkeit.

Im Frühjahr letzten Jahres brauchte es nur ein einziges Telefonat, um mich in diese Wirklichkeit zurückkehren zu lassen. Es war Margarethe Stettnich, die mich anrief. Sie sagte, dass sie erst kürzlich mein letztes Buch gelesen und überall verbreitet habe, dass sie vor langer Zeit mit mir unter einem Dach gelebt hatte. Mit einem heute bekannten Schriftsteller, das hätte sie damals nicht für möglich gehalten. Während ich im Arbeitszimmer stand, den Hörer fest ans Ohr gedrückt und den Blick durch die Fensterscheiben auf die Grenzmauer meines Grundstücks gerichtet, hörte ich zu, ohne sie zu unterbrechen. Anfangs zaghaft, beinahe verlegen, redete sie im Laufe des Telefonats immer schneller und bekannte, alle meine Romane gelesen zu haben, die seichten genauso wie die tiefgründigen. Romane über Schicksale in der Nachkriegszeit, über Liebe und Verzweiflung, über unerfüllbares Verlangen und unwillkommene Verwirrungen. Als sie bemerkte, wie still ich war, wurde sie wieder zaghafter. Einen Moment lang schwieg sie, bevor sie fragte: »Hast du schon einmal darüber nachgedacht, eine Geschichte zu erzählen, die du selbst erlebt hast? Deine und Marias Geschichte? Ich könnte dir verraten, was Ilse an dem Tag gesagt hat, an dem sie starb. An dem Tag, an dem … na ja, du weißt schon … du könntest es verwenden.«

Ich schloss die Augen. Ich wollte ihr nicht länger zuhören. Zumindest bildete ich mir ein, ihr nicht länger zuhören zu wollen. Ich bedankte mich für ihren Anruf und legte auf.

In den nächsten Tagen und Wochen ließen mich ihre Worte jedoch nicht mehr los. Immerzu begleiteten sie mich und ständig drehten sich meine Gedanken um Maria. Um Ilse und Toni. Um Erwin. Um Wilmersdorf, unsere Straße und den Luftschutzkeller in unserem Haus.

Zwei Monate nach dem Telefonat hielt ich es nicht mehr aus, setzte mich ins Auto und fuhr nach Berlin.

2

Berlin, Ende August 1939

Ich sah Maria zum ersten Mal am Ufer des Wannsees. Sie stand nur ein paar Schritte von mir entfernt und sah mich vorwitzig an, dann blinzelte sie mir zu. Ich blickte zurück, scheu und neugierig zugleich, die feuchten Hände voller Sand. Weil das fremde Mädchen mich beobachtete, sich für mich und die Sandburg zu interessieren schien, die ich versuchte, nah am Wasser zu bauen, interessierte ich mich auch für das Mädchen. Aber im Gegensatz zu ihm hockte ich reglos da, verblüfft, wegen der ungewohnten Aufmerksamkeit, die mir zuteilwurde. Irritiert, weil ich nicht wusste, was das Mädchen von mir wollte.

Wollte es überhaupt etwas von mir? Sah es mich überhaupt an oder durch mich hindurch, weil es mit den Gedanken anderswo war?

Ich war mir auf einmal nicht mehr sicher. Und unsicher war ich auch, was das Alter des Mädchens betraf. Ich richtete mich auf, neigte den Kopf und betrachtete es noch genauer. Sicherlich mochte es ein wenig älter sein als ich. Vielleicht zwölf oder dreizehn, bestimmt schon längst vom Jungmädelbund aufgenommen, aber noch zu jung, um beim Bund Deutscher Mädel mitzumachen. Schmal war es, aber nicht sonderlich hübsch, wie ich fand. Dafür hatte es ein zu pausbäckiges Gesicht, das von zahllosen Sommersprossen übersät war, zu helle, fast durchscheinende Haut und zu wirres Haar, das ihm über die Schultern bis auf den Rücken fiel und sich über seiner Stirn kräuselte. Sein dunkler Badeanzug war nass, die Arme und Beine mit Tropfen benetzt, und an seinen Füßen klebte Sand. Es war noch vor kurzem im Wasser gewesen, wie die meisten anderen Kinder auch, die sich darin übertrafen, Fröhlichkeit zu verbreiten und den warmen Tag zu genießen. Aber tatsächlich war diese Unbeschwertheit getrübt. Das Lachen der Kinder war gedämpfter als sonst, ihr Spielen zurückhaltender, der Umgang miteinander behutsamer. Ein Schatten trübte ihre gewohnte Ausgelassenheit. Sie spürten die Last, die ihre Eltern trugen, und deren innere Anspannung.

Ein heller Sonnenstrahl blendete mich. Ich legte die sandigen Hände schützend über die Augen.

Auch ich spürte die Anspannung meiner Eltern, von der sie schon seit Tagen immer wieder heimgesucht wurden. Ich hatte Mutters nervöse Blicke wahrgenommen und ihre ungewohnte Wortkargheit erlebt, welche schwer in den Räumen unserer Wilmersdorfer Wohnung hing. Ich bemerkte Vaters Gereiztheit und hatte das Gefühl, dass er etwas verbergen wollte, was nicht zu verbergen war. Denn überall wurde darüber gesprochen, auf den Straßen, in der Schule und auf den Treffen der Pimpfe des Deutschen Jungvolks. Auch wenn ich nicht alles verstand, was der Fähnleinführer uns eindringlich zu erklären versuchte, begriff ich zumindest, dass sich die Spannungen zwischen dem Deutschen Reich und Polen in den letzten Tagen zunehmend verschärft hatten. Hitler drohte damit, bei der nächsten polnischen Provokation zu handeln.

»Ein Feldzug liegt in der Luft«, hatte der Fähnleinführer uns mit unverhohlener Dramatik in der Stimme klargemacht. »Schon bald entscheidet sich, ob und wann der Führer zuschlagen wird. Aber egal, wie er sich entscheidet, wir werden ihm folgen.«

Die Sätze beunruhigten mich. Ohne es laut auszusprechen, fragte ich mich, wieso man sich für Krieg statt für Frieden entscheiden könne. Ich hatte Vaters Worte im Kopf, dass ein bewaffneter Kampf, und nichts anderes bedeutete doch ein Feldzug gegen Polen, immer Verluste mit sich bringe. Aber genauso wie die Parolen des Fähnleinführers beunruhigte mich, dass meine Eltern bei jeder Gelegenheit den kratzigen Stimmen des Großdeutschen Rundfunks lauschten. In letzter Zeit saßen sie schon frühmorgens vor dem nussbraunen Radio. Mutter biss sich auf die Lippen und rieb die Daumen an den Zeigefingern. Ihre Nervosität hing greifbar im Raum. Vater saß stocksteif da, ohne jede Regung, und manchmal befürchtete ich, er könnte das Atmen eingestellt haben. Sie warteten auf die Ansprache des Führers. Auf eine Entscheidung. Darum konnten sie auch diesen warmen Tag nicht genießen, den wolkenlosen Himmel nicht und nicht den See, der im Licht der Sonne silbergrau schimmerte.

Meine Eltern hatten keine Freude am Baden. Ich schaute mich um. Kein Erwachsener war im Wasser, auch das beunruhigte mich, denn das Wasser war weder zu kalt noch zu warm.

Eine Möwe flog dicht über meinen Kopf hinweg und riss mich aus den Gedanken. Sie kreischte schrill, als sei sie in Panik und auf der Flucht. Ich zuckte heftig zusammen. Das Mädchen lachte augenblicklich los, und die Möwe verschwand so plötzlich im Sonnenlicht, dass ich nicht hätte sagen können, wo und ob sie überhaupt noch einmal auftauchen würde. Ich schüttelte den Kopf und fühlte mich unbehaglich, weil ich nicht wusste, ob das Mädchen mich an- oder auslachte. Als sein Lachen abebbte und schließlich ganz verstummte, war ich erleichtert. Seine blonden Wimpern flatterten. Dann zuckte es mit den Schultern und winkte mir zu, obwohl es doch so nah bei mir stand und ein Winken deshalb eher komisch als freundlich wirkte. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass das Mädchen genauso unsicher war wie ich. Jetzt musste ich lachen. Es war ein Lachen, das mir heftig und unaufhaltsam aus der Kehle sprudelte. Ich trat zwei Schritte auf das Mädchen zu und winkte zurück.

Das Mädchen schnitt eine Grimasse und streckte mir die Zunge raus. Als es jedoch die Gestalt sah, die sich mir von hinten näherte, lief es unvermittelt fort. Ich drehte mich um und hielt die Luft an, als ich Vaters nachdenklichen Blick bemerkte, der vom Badetuch aufgestanden war und nach Osten starrte, als ahnte er von dort eine Gefahr.

Lag Polen im Osten? Ich überlegte. Polen lag im Osten, ganz sicher.

Was, wenn die Polen wieder provozierten? Was, wenn sie die Worte des Führers nicht ernst nahmen? Müsste Vater, gemeinsam mit den anderen Soldaten, die Provokationen beenden? Vater war bestimmt einer der kräftigsten von ihnen, er war breit gebaut, hatte starke Arme, ein kantiges Gesicht und leuchtendblaue Augen – ein Mann, der andere mit seiner Erscheinung beeindruckte und in Uniform sogar noch imposanter wirkte als üblich. Dennoch trug er sie nicht gerne, wenngleich er sie in jüngster Zeit häufiger anziehen musste. Er sei ein Schreiner, kein Soldat. Er stelle Dinge her und wolle keine Dinge zerstören. Ich glaubte ihm, denn wenn er die Uniform und die braunen Stiefel trug, war sein Gang schwerfälliger als sonst, fast schleppend, der Klang seiner Schritte dumpfer, und seine Stimme erhielt einen rauen Unterton, in dem die Abneigung mitschwang, die er beim Tragen der Uniform verspürte.

Ganz bestimmt mochte Vater die Uniform auch deshalb nicht, weil sie ihn schon bald von uns wegbrächte. Dann käme er nur noch selten nach Hause. Er sagte es mir gestern Abend, nachdem er sich an den Esstisch gesetzt und die Hände ineinander gefaltet hatte. Nie zuvor hatte ich einen solchen Ausdruck in Vaters Augen gesehen, so sorgenvoll und traurig. Für einen kurzen Moment ergriff mich die Ahnung, dass sich die Welt, wie ich sie bislang kannte, bald ändern würde. Kein Zweifel. Wenn Vater so verdrießlich dreinschaute, rollte etwas sehr Unheilvolles auf uns zu.

Als Mutter aus der Küche kam und den Tisch mit dem alten Porzellangeschirr eindeckte und mit zwei Messingleuchtern schmückte, sah sie mich an. Aber sie forderte mich nicht auf, ihr zu helfen, wie sie es normalerweise tat. Es machte mir nichts aus, ihr beim Eindecken zu helfen. Im Gegenteil, es war eine stille Übereinkunft zwischen uns beiden. Ich half ihr, den Tisch zu richten, und sie strich mir dafür sanft durch den blonden Schopf. Manchmal schloss sie dann die Augen, neigte sich zu mir und küsste mich auf die Stirn. Das gefiel mir. In diesem Augenblick dachte ich, dass ich nicht nur die schönste, sondern auch die liebevollste Mutter der Welt hatte.

»Bald wird es dir nicht mehr gefallen, wenn ich dir durchs Haar streiche oder dich auf die Stirn küsse«, sagte sie in letzter Zeit häufig und bedachte mich mit einem wehmütigen Blick, woraufhin ich lachend erwiderte, dass es mir immer gefallen würde.

Gestern half ich Mutter nicht beim Eindecken, und sie fuhr mir weder mit der Hand durch den Schopf, noch küsste sie mich auf die Stirn. Wohl deswegen nicht, weil sie das Gespräch zwischen Vater und Sohn nicht unterbrechen wollte. Es stand noch etwas Unausgesprochenes zwischen uns. Aber die Unterhaltung war durch ihr Eintreten unterbrochen worden, und Vater nahm sie nicht mehr auf. Irgendwie war ich darüber froh. Daran, wie er zu mir gesprochen und mich mit gerunzelter Stirn angesehen hatte, merkte ich, dass ich eigentlich gar nicht hören wollte, was ihm auf dem Herzen lag.

Ich hatte es gestern nicht hören wollen, und ich wollte es auch an diesem Tag nicht hören, aber tief in mir wusste ich, dass ich es noch erfahren würde.

»Packen wir unsere Sachen zusammen und gehen, Hans«, sagte Vater bestimmt und schaute zu mir herunter. »Wir waren lange genug am See. Es wird allmählich kühler.«

Ich nickte. Auch wenn ich gerne geblieben wäre und von der Kühle noch nichts spürte, wagte ich es nicht, Vater zu widersprechen. Also faltete ich meine Decke und das Handtuch zusammen, steckte beides in die Badetasche und blickte mich unauffällig und in der Hoffnung um, das Mädchen noch einmal zu sehen.

Ich sah es nicht mehr. Es blieb inmitten der unzähligen Menschenleiber verschwunden.

Wir liefen den mit Gras bewachsenen Weg zurück, der neben dem Strandcafé durch ein Dickicht von Stämmen und Büschen entlangführte. Über uns sahen wir keinen Himmel, nur ein Dach aus Blattwerk, bis wir zum Ausgangstor gelangten.

Vor uns lag jetzt noch ein längerer Fußweg bis zur Haltestelle, von der die Straßenbahn nach Wilmersdorf fuhr.

Ich blieb stehen, drehte mich ein letztes Mal um und sah im Westen die Sonne zwischen zwei Birken leuchten. In den Laubbäumen zwitscherten die Amseln, und auf den noch freien Flächen der teils mit Büschen und Gehölz zugewachsenen Wiese hinter dem Strandcafé ließ sich ein größerer Entenschwarm nieder. Die Terrasse des Cafés war voll besetzt, aber noch immer strömten Leute dorthin.

Ein schöner Tag, dachte ich und seufzte kaum hörbar auf. Ich schloss die Augen und genoss ein Weilchen die warme Luft auf meiner Haut. Bis ich Mutter rufen hörte, ich solle nicht träumen, sondern weitergehen.

3

Wie an jedem anderen Morgen rüttelte mich Mutter wach. Vorsichtig öffnete ich die Augen und blinzelte gegen das noch matte Tageslicht an, das durch den schmalen Spalt der beiden nur unzureichend zugezogenen Vorhänge in mein Zimmer fiel. Dann zog ich die Decke über den Kopf und wartete darauf, dass Mutter sie mir wegriss. Eine alltägliche Gewohnheit wie das gemeinsame Eindecken des Abendtischs, ein schelmisches Spiel. Ich versteckte mich unter der Decke, und sie zerrte die Decke fort, nahm meinen Kopf in beide Hände und drückte ihre Lippen kräftig auf meine Stirn.

Das tat sie auch an diesem Morgen, aber nur mit halber Entschlossenheit. Ich schaute sie an. Ein Streifen Licht fiel auf ihr Gesicht. Ihre Augen waren ohne jeden Glanz. Ich wollte ein Blinzeln und ein Lächeln erkennen, aber sie blinzelte und lächelte nicht. Ihr lockiges Haar war noch ungekämmt. Außerdem war sie noch nicht für den Tag angezogen, trug lediglich Nachthemd und Nachtrock und den weißen Morgenmantel darüber.

»Dein Vater ist fort«, sagte sie leise.

»Vater ist fort?«

»Du weißt, er hatte keine Wahl.«

»Er musste schon gehen?«

»Ja.«

»Ist er in der Nacht gegangen?«

Mutter nickte.

Ich atmete tief durch. Empörung und Enttäuschung stiegen in mir auf, sie schmeckten bitter. Ich dachte an unser unterbrochenes Gespräch und die Ankündigung seiner Abreise. Hatte er schon zu diesem Zeitpunkt gewusst, wann er aufbrechen musste? Waren es Worte des Abschieds gewesen, die er aussprechen wollte, die jedoch unausgesprochen geblieben waren? Und wollte er nur deshalb noch einmal einige Tage mit uns verbringen? Um sich gebührend verabschieden zu können?

Aber er hatte sich nicht von mir verabschiedet, er war davongeschlichen wie ein Dieb.

Mutter zog die Brauen in die Höhe. »Er war noch einmal bei dir im Zimmer und hat nach dir gesehen. Doch er wollte dich nicht wecken. Glaub mir, Hans, nur deswegen ist er ohne Gruß gegangen.«

»Wann kommt er wieder?«

»Ich will dich nicht belügen, ich weiß es nicht.«

»Sind die anderen Väter auch fort?«

»Viele Väter sind fort, ja, einige schon seit Tagen, andere sogar schon seit Wochen. Wiederum andere folgen ihnen nun.«

»Also kämpfen wir«, stellte ich fest. »Die Polen haben wieder provoziert. Muss Vater dorthin? Nach Polen?«

»Auch das weiß ich nicht.«

»Ist es geheim?«

»Das ist es, ja.« Mutter presste die Lippen zusammen. Schließlich wandte sie sich von mir ab, zog die Vorhänge beiseite und ließ das Tageslicht vollends herein. Feine Staubkörnchen tanzten in den ersten Sonnenstrahlen des Morgens. »Steh auf und wasch dich, Hans. Du musst zur Schule.« Nach dieser Aufforderung ging sie in die Küche.

Mein Zimmer war ein Durchgangszimmer, mit einem Fenster zur Straße und zwei Türen; eine führte in die Küche und die andere in den winzigen Waschraum mit der Toilette. Dorthin ging ich, nachdem ich aufgestanden war und der heiseren Stimme des Radiosprechers in der Küche gelauscht hatte, ohne genau verstehen zu können, was er sagte. Ich nahm Seife und ein Handtuch aus dem Regal, zog mich aus und wusch mich. Wie immer waren zuerst mein Kopf und die Haare dran, danach mein Oberkörper, die Beine und zum Schluss mein Unterleib. Ein Ritual, das Mutter mir beigebracht hatte. Mein Leben schien aus einer Aneinanderreihung von Gewohnheiten zu bestehen. Auch der Gang zur Schule und die zweimal in der Woche stattfindenden Treffen des Deutschen Jungvolks waren Teile davon.

Nachdem ich angezogen war, ging ich in die Küche und umarmte Mutter. Ich sog ihren Körpergeruch ein und einen eigentümlichen Duft nach würziger Seife, den ich schon immer gemocht hatte. Einen Augenblick lang verharrte sie, ohne die Umarmung zu erwidern. Ich wurde unsicher, doch ich ließ sie nicht los. Ich schmiegte mich noch fester an sie, stellte mich auf die Zehenspitzen und barg mein Gesicht in ihrer Achselhöhle. Die Sekunden quälten sich dahin, jede einzelne ließ mich die Sorge der Mutter spüren, bis auch sie mich umarmte.

»Hänschen, mein hübscher Junge«, sagte sie zärtlich.

Ich war erleichtert. Sie strich mir über den Kopf. »Mein hübscher, großer Junge.«

Gewiss war ich in ihren Augen schon recht groß, aber nur, weil sie mich groß sehen wollte. Ich ließ sie gewähren, obwohl ich es besser wusste. Jeder Hinweis darauf, dass ich in meiner Klasse zu den Kleinsten zählte, wäre sinnlos gewesen. Letztlich war ohnehin nur wichtig, was Mutter glaubte.

Aber trotz meines Mangels an Größe meinte es die Natur offenbar gut mit mir, glich sie diesen Makel doch aus, indem sie mich mit den breiten Schultern und kräftigen Armen meines Vaters, einem schönen Gesicht und blondem, dicht gewachsenem Haar bedacht hatte. Meine braunen Augen waren die Augen meiner Mutter, sie blickten warm und freundlich. Dass mein Profil eine ähnliche Schärfe wie die des Jägers auf dem gusseisernen Bild in unserem Esszimmer besaß, lag an meinen ausgeprägten Wangenknochen, dem spitzen Kinn und der Nase mit dem geraden Rücken.

Viele mochten mein Gesicht, das bekam ich oft zu hören. Auch von meiner Lehrerin und Frau Schöneweck, die Besitzerin der kleinen Bäckerei in unserer Straße. Während die Lehrerin es nur verhalten andeutete, wurde Frau Schöneweck deutlicher.

»Herrgott, Hans, dein Aussehen ist ein Geschenk unseres Schöpfers. Wirst sehen, schon bald werden die Mädchen dir nachstellen. Und ein Seufzen wird durch ihre Reihen gehen, wenn sie dich nur anschauen«, sagte sie jedes Mal, wenn ich samstags bei ihr im Laden auftauchte und Schrippen kaufte.

Ich nahm das Gesagte eher verlegen als stolz hin. Stolz war ich nur, wenn ich Vater gefiel. Eines Abends, als ich durch die Küche in mein Zimmer ging, hörte ich ihn mit Mutter im Esszimmer reden. Ich presste mein Ohr an die geschlossene Tür und lauschte. Was ich vernahm, beseelte und wärmte mich. Mit gedämpfter Stimme sagte Vater, dass ich ein kühnes Gesicht mit scharf geschnittenen, klaren Linien habe, die nicht einmal der begnadetste Künstler besser hätte zeichnen können. Es sei das Gesicht seines Vaters Hagen, der im ersten Weltkrieg gefallen war. Außerdem sei er froh, dass ich auch charakterlich gut geraten sei, ein Junge, der leicht erlernen würde, dass ein Mann alles, was er beginne, mit Würde und Anstand erledigen müsse. Am Schluss dankte er Mutter, dass sie ihm einen so prächtigen Sohn geschenkt habe.

Als ich an diesem Morgen mit dem Schulranzen auf dem Rücken vor unserem Haus stand, um mich auf den Weg in die Mittelschule zu machen, kamen mir Vaters Worte noch einmal in den Sinn. Doch dieses Mal begeisterten sie mich nicht. Stattdessen spürte ich einen Kloß im Hals. Ich schaute noch einmal in den zweiten Stock hinauf. Mutter stand am Küchenfenster und hob die Hand, was ihr sichtlich schwerer fiel als all die Tage und Wochen zuvor.

Bevor ich mich abwandte, erwiderte ich ihren Gruß und bemühte mich um ein aufmunterndes Lächeln.

Natürlich war das schnörkellose Gebäude mit der grauen Fassade und dem aus Eisen gegossenen Relief über der Haustür, auf dem das Baujahr mit 1867 angegeben wurde, nicht unser Haus, auch wenn ich es immer als unser Haus bezeichnete. Wir wohnten nur darin. Und mit uns noch andere Mieter. Im Parterre lebten die Zwillingsschwestern Margarethe und Ilse mit deren Mann Toni; alle drei waren noch recht jung, hatten die zwanzig erst kürzlich überschritten. Ilse war blind, ob von Geburt an oder ob eine Krankheit, vielleicht sogar ein Unfall ihr das Augenlicht geraubt hatte, wusste ich nicht. Ich erinnere mich allerdings noch genau, wie sehr mich ihre milchigen Augen faszinierten. Gleich, wo ich ihr begegnete, im Treppenhaus, im Hinterhof oder auf der Straße, immer suchte ich ihren Blick, der im Nirgendwo zu schweben schien. Aber trotz ihrer Behinderung wirkte Ilse mit ihrem aufreizenden Gang, den schönen Hüten und farbenfrohen Kleidern aus dünnem Stoff, die sie bei jedem Wetter trug, liebreizender und lebendiger als ihre Schwester, um deren dünne Beine stets nur dunkle Röcke flatterten und die ihren Rücken immer ein wenig krümmte, als wolle sie keine Blicke auf ihre großen Brüste ziehen. Margarethe wirkte unauffällig und spröde, wie eine Blume kurz vor dem Verwelken. Dann war da noch Frau Buchner, eine ältere Frau mit strenger Miene, die über uns lebte. Sie verließ ihre Wohnung nur, wenn sie es musste, weshalb ich sie selten zu Gesicht bekam. Ganz im Gegensatz zu unserem glatzköpfigen Blockleiter, der unterm Dach wohnte und stets geschäftig war, weil er keine Versammlung, keine Aktivität seiner Partei in unserem Viertel verpassen wollte. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit demonstrierte Herr Tremmel seine Begeisterung für die politische Entwicklung in unserem Land, indem er die Hacken fest zusammenschlug, den rechten Arm mit flacher Hand auf Augenhöhe schräg nach oben riss und mit funkelnden Augen den deutschen Gruß zelebrierte, in heller Vorfreude auf dessen prompte Erwiderung.

Aber ich habe nicht nur das Haus als unser Haus bezeichnet, ich habe auch die Schreinerei im Hinterhof, in der Vater arbeitete, immer als unsere Schreinerei, die Straße, in der wir lebten, als unsere Straße und das Wohngebiet in Wilmersdorf als unser Viertel bezeichnet. Das war meine Welt, zu der auch mein Schulweg gehörte, der durch unseren Bezirk mit seinen prächtigen Kastanienbäumen und den gepflegten Mehrfamilienhäusern auf beiden Seiten der Straßen führte, vorbei an Frau Schönewecks Bäckerei, dem Gemüsegeschäft an der Ecke und der zerstörten Synagoge in der Prinzregentenstraße, die mit ihrem einst runden, überkuppelten Zentralbau eines der auffälligsten Gebäude in unserem Stadtteil gewesen war. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 hatte sie gebrannt, wie die Synagoge in der Franzensbader Straße und der jüdische Friedenstempel in der Markgraf-Albrecht-Straße auch. Ihre Überreste waren nicht beseitigt worden, die Fragmente der Grundmauern standen noch da wie ein drohender Fingerzeig, eine dunkle Prophezeiung, dass die inzwischen zum Alltag gehörenden Übergriffe auf Juden noch lange nicht enden sollten. An jedem Morgen, an dem ich die Ruine passierte, machte mich ihr Anblick traurig; sie verursachte eine seltsame Melancholie in mir, als spürte ich das Unrecht ihrer Zerstörung, das in den vom Brand geschwärzten Steinen einen stillen Ausdruck fand. Stets erinnerte ich mich daran, wie die Flammen aus dem Gebäude geschlagen waren und graue Rauchschwaden den Nachthimmel vernebelt hatten. Dann tat ich mich schwer, den Weg zur Schule fortzusetzen und mich nicht in meinen Gedanken zu verlieren. Ich versuchte, mir vorzustellen, was die Juden angesichts ihres zerstörten Bethauses fühlen mochten.

In Wilmersdorf lebten viele von ihnen. Ich glaube, mich erinnern zu können, dass es damals hieß, unser Stadtteil habe den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil aller Berliner Bezirke. Es gab einen jüdischen Sportplatz in der Nähe des Bahnhofs Grunewald und einige jüdische Privatschulen, die jedoch wegen Überfüllung nicht alle Anmeldungen berücksichtigen konnten, weshalb auch in unserer Klasse ein jüdischer Junge saß.

Als David eines Tages nicht mehr zum Unterricht erschien, fragten wir unsere Lehrerin mit gebotener Zurückhaltung, warum er nicht mehr komme. Frau Friedrich antwortete, dass es jüdischen Kindern nun endlich nicht mehr erlaubt sei, die öffentlichen Schulen zu besuchen. Sie beugte sich verschwörerisch nach vorne. Der Jude sei von Beginn an unser geschichtlicher Feind gewesen, körperlich und geistig von Eigenschaften bestimmt, die uns völlig fremd seien. Die Trennung wäre ein weiterer und bedeutsamer Schritt, um die jüdische Rasse in letzter Konsequenz aus unserem Volkskörper auszuscheiden. Wie Kot, fügte sie grinsend hinzu. Das war im selben Jahr, in dem die Synagogen brannten, als das Leben Juden zunehmend schwieriger wurde und man immer mehr von ihnen zur polnischen Grenze brachte.

Ich begriff nicht, was sie angestellt haben sollten, dass wir sie derart verabscheuen mussten. Auch hatte ich bei David keine fremden Eigenschaften erkannt, er hatte einen völlig normalen Eindruck gemacht. Dennoch stellte ich Frau Friedrich keine weiteren Fragen, sondern schwieg, wie alle anderen auch.

»Ich hasse sie nicht, und du musst sie auch nicht hassen, aber du darfst niemandem erzählen oder durch Taten zeigen, dass wir sie nicht hassen«, erklärte Mutter mir, als ich sie einmal fragte, ob sie die Juden hasse und ob auch ich die Juden hassen müsse.

Mehr brauchte ich nicht zu wissen, um Erleichterung zu empfinden, weil ich nicht fähig war, David gering zu schätzen oder gar zu verabscheuen. Ich sah in ihm einen netten, wenn auch wortkargen Burschen, der sich von Anfang an alle Mühe gab, unsichtbar zu sein. Doch weil er jüdisch war, war er sichtbar. Von einigen Schülern wurde er gemieden, von anderen getreten und hin und wieder auch geschlagen. Und niemand stand ihm bei, auch ich nicht. Ich gehörte zu denen, die sich bereitwillig den Normen des Viertels und der Schule fügten. Und dazu passte es keinesfalls, sich für einen Juden einzusetzen, auch dann nicht, wenn ihm ein anderer Junge mit einem Messer einen Davidstern in die Brust ritzte.

₺478,76