Kitabı oku: «Die Erotik des Verrats»
Gespräche mit Hans-Dieter Schütt
Erweiterte Neuausgabe 2015

© 1994 für den Text von Heiner Müller
by Brigitte Maria Mayer und Suhrkamp Verlag Berlin
Die erste Ausgabe des Buchs erschien 1996 unter dem
Titel Die Erotik des Verrats. Gespräche mit Frank Castorf
im Karl Dietz Verlag Berlin.
© für diese Ausgabe by Alexander Verlag Berlin, 2015
Alexander Wewerka, Fredericiastr. 8, 14050 Berlin.
Alle Rechte vorbehalten.
Satz, Layout und Covergestaltung Antje Wewerka
Umschlagfotos: David Baltzer 1996/2014
ISBN 978-3-89581-362-7 (eBook)
Autor
Frank Castorf: geboren 1951 in Ost-Berlin. Studierte Theaterwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. 1976–1979 Dramaturg in Senftenberg, dort erste eigene Inszenierungen. 1979–1981 als Regisseur am Theater Brandenburg, 1981–1985 mit eigenem freien Ensemble am Theater Anklam. Danach Inszenierungen an verschiedenen DDR-Theatern. Erste West-Inszenierungen in München, Köln, Basel. 1990 zunächst Hausregisseur am Deutschen Theater Berlin, bevor er 1992 Intendant der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz wurde, die er bis heute leitet. Er inszenierte u. a. am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg sowie am Burgtheater Wien, in München, Salzburg, Bochum, Zürich, Stockholm, Paris, Rio de Janeiro, Caracas. 2004 übernahm er zusätzlich zu seiner Intendanz in Berlin die Leitung der Ruhrfestspiele Recklinghausen, wurde aber nach nur einem Festivaljahr wegen Zuschauerschwund mit großem Eklat wieder entlassen. In der alljährlichen Kritikerumfrage von Theater heute seit 1989 fünf Mal Regisseur des Jahres. 1994 Kortner-Preis. 2013 inszenierte er bei den Richard-Wagner-Festspielen in Bayreuth den Ring des Nibelungen.
Hans-Dieter Schütt: geboren 1948 in Ohrdruf/Thüringen. Studierte Theaterwissenschaft an der Theaterhochschule »Hans Otto« Leipzig. 1973–1989 Redakteur bzw. Chefredakteur der Zeitung Junge Welt, bis 1992 Redakteur der Zeitung Neues Deutschland. Lebt und arbeitet als Journalist in Berlin. Zahlreiche Interview-Bücher, u. a. mit Reinhold Messner, Sahra Wagenknecht, Klaus Löwitsch, Gert Voss, Thomas Langhoff, Inge Keller, Robert Menasse, Andreas Dresen, Friedrich Schorlemmer, Alfred Hrdlicka, Ekkehard Schall. Biografien über Kurt Böwe, Regine Hildebrandt, Günter Gaus. Dokumentarfilme (mit Ulrich H. Kasten): Die Langhoffs, Hitler und Stalin – Porträt einer Feindschaft, Molotow – Der Mann hinter Stalin, Lenin – Drama eines Diktators.
Thomas Aurin: geboren 1963 in Magdeburg, Studium der Fahrzeugtechnik und Informatik in Zwickau. Nach dem Ingenieurabschluss Programmierer bei SEAT in Barcelona. Lebt seit 1992 in Berlin. Theaterfotograf.
Widmung
Theater, wenn es lebt, ist eine alte Schreibmaschine, wenn es gut ist, mit löchrigem Farbband, in den Löchern wohnt das Publikum, und manchmal kreischt es, dann freut sich die Kritik.
Die Geschichte vom Lehrling im Kolonialwarenladen in Hamburg, der in das Faß mit dem Sauerkraut spuckt, und der Ladenhüter haut ihm eine Ohrfeige: es ist nicht wegen dem Sauerkraut, aber: was soll das, die Ohrfeige gilt der Angst wie dem Terrorismus, der Störung des Sinnzusammenhangs.
Theater, denen es nicht mehr gelingt, die Frage »Was soll das« zu provozieren, werden mit Recht geschlossen. Ich bin froh, daß es die/eure Volksbühne gibt, so wie sie ist und hoffentlich noch eine Weile bleiben wird, ÜBER DEN GEWITTERN UND AM VORABEND DES TODES. Eure historische Leistung ist die Befreiung aus der programmierten Sinnschleife, in der die Stimme erstickt. Nach dem Einlaß in die Suppenküche des Kapitals: spuckt weiter in die Suppe am Vorabend des Todes und über den Gewittern. Der Weg ist nicht zu Ende, wenn das Ziel explodiert.
Mit kalifornischem Gruß
Heiner Müller
(geschrieben 1994, zum 80-jährigen Bestehen der Volksbühne)
Hans-Dieter Schütt
Letzte Ausfahrt Anklam. Eisern!
Ob Frank Castorf ein Freiheitskämpfer für das Theater ist oder
ein Folterknecht (oder ob er vielleicht eine abgründige
Doppelrolle spielt oder genießt), ist bis zum heutigen Tag noch
keinesfalls entschieden. Manchmal bricht Castorfs
Theater mit grandiosem Helden- oder auch nur Kindermut auf
ins Freie, ins Ferne; das deutsche Stadttheater in seinem
Rücken zerfällt dann ruhmlos zu Staub. Manchmal aber sitzt
dieses Theater selber im Bunker, blicklos, aussichtslos,
rennt nur von Zeit zu Zeit mit dem Kopf gegen die Wand.
BENJAMIN HENRICHS
Dieses Buch ist in seinen übergroßen Teilen fast zwanzig Jahre alt. Erstmals erschien es 1996. Die jetzige Neuauflage der Gespräche mit Frank Castorf ist ergänzt um ein aktuelles Interview mit dem Regisseur.
Ein vermeintlich neues Buch als bloße Wiederholungstäterschaft? Das Gelände Volksbühne ist längst ein anderes. Regisseure gingen, Spieler auch, der Tod sortierte aus, die Inspirationen kamen und gingen und kamen wieder, die Namen der Hausphilosophen wechselten auch. Aber: Castorf ist und blieb ein verblüffender Virtuose der Selbsttreue; sein Phlegma, einen Gedanken zu wiederholen, schärfte früh seine Fähigkeit für einen Geist, der auf längere Wertzeiten konditioniert bleibt. Es ist erstaunlich, wie akut seine Antworten wirken, wie Spreng-Sätze in eine Zukunft, die schon vor zwei Jahrzehnten Gegenwart war. Castorf ging künstlerisch lange Wege im dauernd kleinen Kreis seines Welt- und Arbeitsverständnisses; Weitsicht hatte stets zu tun mit festem Kontakt zur realen Sichtweite. Castorf gibt Auskunft über seine ästhetischen Auffassungen und philosophischen Quellen seiner Existenzfragen – in den Gesprächen ist kaum etwas veraltet. Immer wieder drängt es seine Gedanken an die Ränder der Gesellschaft, dorthin, wo das Chaos blüht und von wo, zumindest im Spiel des räudigen Geistes, Zersetzungsgefahr in die festgefügte Gesellschaft einsickert.
Er hat in der Diskussion eine charmante Grundtraurigkeit, die einen interessanten Kontrast bildet zu seiner Denkschnelligkeit und scharfen Zunge. Er ist ein schlagfertiger, gewitzt-assoziativer Kommentator. Seine Beobachtungen und Analysen stören auf und entfachen Lust am Widerstand. Der Regisseur im Gespräch: Kichert er nach innen darüber, wie ernst er doch genommen wird? Oder hat Hölderlin recht? »Immer spielt ihr und scherzt ihr? ihr müßt! o Freunde! mir geht dies / In die Seele, denn dies müssen Verzweifelte nur.« Castorf weiß inmitten einer zerfasernden Welt um die Privilegiertheit des Standes. Er stürzt sich am liebsten in Erschöpfungszustände; eine Rettung, die keine ist. Seine Fahrigkeit hat etwas sympathisch Kindliches, Trotziges.
Die ersten vier Gespräche fanden von Oktober bis Dezember 1995 statt, zwischen mehreren Regiearbeiten des Intendanten – der Premiere von Fellinis Stadt der Frauen an der Volksbühne, Sorokins Hochzeitsreise im Berliner Prater, der Wiederaufnahme vom Trunkenen Schiff nach Paul Zech im Theater im 3. Stock und Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti am Schauspielhaus Hamburg.
Ich danke Frank Castorf, Kirsten Hehmeyer, Matthias Lilienthal, Thomas Martin und Elke Becker für die Unterstützung. Damals wie heute.
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Er ist der Generalsekretär. Rein statistisch eine Art Breshnew. Über zwanzig Jahre Intendant an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Stur. Provokant unberührt von Anwürfen. Frank Castorf besitzt eine genial kräftige Energiezufuhr für sein Beharrungsvermögen. Er ist als Theaterchef kein Ermöglicher, kein Förderer, kein liebevoll ausbildender Pädagoge. Nie gewesen. Er wollte keine Struktur, kein System, er wollte sich immer nur alle Welt so zurichten, dass er darin er selber sein konnte. Man nennt das Ungebundenheit, mitten unter Vielen. Heutige Regiegrößen wie Martin Kušej und Andreas Kriegenburg wurden an der Volksbühne, ja: weggebissen, sie waren jedenfalls unglücklich und also rasch fluchtbereit – Castorf sah bei so was nur zu, er kann nicht anders. So einer ist fruchtbar, denn er erzeugt, aber er ist auch furchtbar, denn er zeugt nicht Schüler, sondern nur Epigonen. Und doch! Castorfs Volksbühne einte, zum Beispiel, Marthaler, Schlingensief, Kresnik. Dass dies eines Tages vorbei war, darf ihm nicht vorgeworfen werden, denn nie kündigte er an, klüger als die Bibel sein zu wollen. Die sagt: Alles hat seine Zeit. Und so kamen, wie sollte es anders sein, auch Zeiten der Breiigkeit, der Zerreißproben, des erdrückenden Selbstlaufes. Und Pollesch kam und zog das Parlier-Tempo an.
Castorf ist faul, unwillig, unbelehrbar, ein Chaot. Zu faul, um die Raserei der Entfremdungszwänge mitzumachen. Zu unwillig für Tempelkunst. Zu unbelehrbar, wenn es um Räson geht. Und ja!, ein Parasit ist er auch: Her mit allen nur möglichen Subventionen, auch wenn das ohnehin Magere immer magerer wird – der Idealismus der Zyniker kennt keine Armut; Hauptsache, man kann Theater machen, das eine scharfe, schnurgerade Linie zieht von, sagen wir mal, Schiller zu Dick und Doof, oder eben von Heiner Müllers Schlacht zu Pension Schöller. Oder hin zur Verwandlung der Volksbühne in einen Bert-Neumann-Container und in ein Videofilmtheater. Mit Dostojewski und Bulgakow hat er russische Romane auf die Bühne gebracht, den Wilden Westen Amerika; rücksichtslos steinbruchartig, unüberschaubar, mit einem unbedenklichen Realismus des Gedankensprungs und der assoziativen Überlagerungen, so dass man sich wechselnd wie in einem Roman von Joyce oder der Nouvelle vague vorkam. In den Theaterdämmerwelten Marthalers warten die Menschen aufs Leben, in den Filmlicht-Spielen Castorfs ist das Warten schon das Leben selber; dieses Verklebtsein in einem geheimen Schwerpunkt des Daseins, den keiner kennt. Der Regisseur erzählt fast immer von der Verlorenheit zwischen Religion und Ideologie, Freiheit und Tristesse; Videokameras holen jeden kleinen Menschen aber so ins Große, dass der eine würdige, erbarmungswürdige Erscheinung bleibt. Castorfs Neorealismus.
Der Sänger Gerhard Gundermann hat einmal gesagt, Honecker sei der Konditionstrainer von Castorf gewesen. Stimmt. Die SED, stalinistisch wie die Grashöhenmesser einer Kleingartenanlage, hat den jungen Dramaturgen und Regisseur über Senftenberg in Brandenburg nach Anklam verdammt. Eine unfreiwillige Heldentat. Denn dort weit hinten, im »Nebendraußen« (Hermann Lenz), da antworteten die feierwitzigen Oblomows mit Wodka auf Verbote, mit Witzen auf Stasischnüffler. Mit einem Resultat, das keine Harry-Potter-Zauberschule schaffen würde: Castorfs Truppe träumte sich, indem sie sich frech in die DDR hineinfläzte, weiter weg vom Stacheldraht, als es dann im Westen je möglich werden würde.
Seit dieser Konditionierung sieht Castorf in aller Welt nur Anklam. Weltruhm: Anklam. Freiheit: Anklam. Demokratie: Anklam. Du träumst vom Highway, Route 66, wachst aber auf in – Anklam. Und rauschtest du Dennis Hoppers Weg als Easy Rider tatsächlich real nach: auch nur Anklam. Das stählt, als wäre man Kortschagin. Da wird man grinsend trotzig und hängt sich 1992, als neuer Intendant der unregierbaren Betonburg Volksbühne, ein Stalin-Plakat ins Zimmer. Und schmiegt sich ins alte DDR-Mobiliar.
Castorf, ein »Regisseur des Welttheaters« (Ivan Nagel), hat heftige Stuhlreihenbewegungen im Publikum ausgelöst, von Hamburg bis München, von Salzburg über Zürich bis Wien, er hat inzwischen auch auf dem Grünen Hügel in Bayreuth inszeniert. Er leidet am Theater; und arbeitend, also öffentlich, sucht er seit jeher nach einem Ausdruck für dieses Leiden – das zuvörderst eines an der Wirklichkeit ist. Er will in diesem Käfig Theater nicht ungebrochen die Lüge praktizieren, mit dem bekannten Reservoir der Weltdramatik das Leben für ein paar Stunden als geschlossene (ästhetische) Einheit zu zeigen. Er will drinnen gewissermaßen draußen bleiben, und draußen, was sind wir denn da? Fragmentarische Wesen, wir trudeln, wir wirbeln, wir tasten uns von Ausschnitt zu Ausschnitt – inmitten ungeheurer Lebensprozesse, zu deren Bewusstsein wir niemals gelangen.
Bei Castorf werden nicht schlechthin Stücke gespielt, hier wird gesprengt, aufgerissen, vor allem szenisch gepredigt, hier wird zeitgedehnt (also zeitluxuriös) Ideendrama betrieben – Theater als letzter Dom, in dem noch einmal alles durch uns hindurchweht, was an großen Entwürfen guten Lebens vom Menschen selbst vernichtet wurde und wird. Alles sieht aus wie eine Liaison von Philosophie und Peepshow. Ist es auch. Kiff-Kitzel im Kindergarten. Der Regisseur steht aufgewühlt, uferlos, ruhelos, unentschlossen, angekratzt, erweckt und geschlagen und natürlich hilflos in seinen eigenen Stoffen. Er trieb sein Theater, etwa mit besagten russischen Romanen, in eine Energetik, bei der sich Probe und Aufführung mehr und mehr ineinanderschoben. Dieser Mann schreibt als Regisseur übernächtigt, überhitzt, fiebernd seine lebenden Essays; Schauspieler als tanzende, unberechenbar flirrende, springende Buchstaben dieses Essays, die sich zu Worten, Sätzen, Lebensirrläufen fügen.
Und was für Schauspieler! Auch wenn viele inzwischen gingen: Sie bleiben glorreich Gezeichnete. Unfähig für Stadttheater, geschlagen mit souveräner Behauptung gegenüber der Rolle (Hübchen, Angerer, Rois, Schütz, Peschel, Fritsch, Spassowa, Rieger, Meyerfeld, Preusche, Wuttke). Welche Großtat des Regisseurs, alte DDR-Barden, alten Ost-Erfahrungsadel in Zeiten der fiesesten Verjüngungen und Abwicklungen aufs Feld der urgauklerischen Spiellust zu schicken (Wilfried Ortmann, Hildegard Alex, Annekathrin Bürger, Ulrich Voss, Jürgen Rothert, Hans-Joachim Martens, Bärbel Bolle, der augenzwinkernd grobe Harald Warmbrunn, die schmetterlingszarte Susanne Düllmann, der grandios treue und »taffe« Joachim Tomaschewsky; und aus dem Westen: Volker Spengler). Und soll nur ja kein Dichter mit seinem geheiligten Text drohen – zerkauen kann man alles. Bis dann alles auf ganz andere Art wieder wahrhaftig wird. Wahrhaftig, nicht unbedingt schmackhaft.
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1. Castorfs Obsessionen sind nicht Ideen, sondern was davon übrigbleibt: Schrott, Ausschuss, Müll.
2. Ohne Ansehen der Stücke werden auf dieser Bühne fleißig und öffentlich Exkremente abgesondert, Genitalien hingebungsvoll und möglichst unästhetisch präsentiert. Aber wer dauernd WC-Szenen zum Besten gibt, der rechnet nicht mehr mit wirklicher Erregung.
3. Die pressen Worte raus wie Dünnpfiff, und so schnell gehen sie ab, dass keine Sau sie mehr versteht. Willstndu. Passmaauf. Haltifresse.
4. Das ist ein Schmatzen und Batzen und Kotzen und Würgen zu orgiastischem Gekreische.
5. Schauspieler werden gequält und zum Brüllen, Biertrinken und zur Nacktheit verurteilt.
6. Das mutwillig Säuische ist über viele Jahre Castorfs elementare Bewegungsphysik gewesen.
7. In der Volksbühne geht wieder mal die Post ab! Es fehlt an nix: Männer spielen Frauen, Frauen Männer, Männer Tussis und Tunten Kerle. Sie fallen übereinander her und turnen miteinander, übereinander, aufeinander, gegeneinander. Geht was schief, ist der Trost auf den Sabberlippen: »Au, Scheiße!«
8. Die eigene Resignation wird ausgekotzt. Guten Appetit!
9. Das Ingenieurbüro verwandelt sich in eine Gaskammer. Die deutschen Putzfrauen sterben schreiend. Die Szene ist eine Bankrotterklärung politischen Denkens.
10. Die sind sich nicht zu schade für Einfälle, würdig jedem Strafregister für Regieverbrechen.
11. Grauen erregende Vermählung zwischen Pornografie und Erlösungskitsch.
12. Die Schauspieler quaken wie Frösche, winseln wie Hunde, und wenn sie schreien, glaubt man endlich zu wissen, wie es in Jericho dröhnte.
13. Wo jeder Halt verloren scheint, triumphiert der wilde Haufe.
14. Plansch-, Mansch- und Suhlreize. So. Es reicht.
In der Reihenfolge ihres mehr oder weniger entrüsteten Auftretens in all den Jahren Castorf-Intendanz an der Volksbühne:
1. Neues Deutschland, 2. Die Welt, 3. Der Tagesspiegel, 4. Süddeutsche Zeitung, 5. Hannoversche Allgemeine Zeitung, 6. Der Standard, 7. Süddeutsche Zeitung, 8. Sächsische Zeitung, 9. Frankfurter Rundschau, 10. Theater heute, 11. Die Zeit, 12. Süddeutsche Zeitung, 13. Die Welt, 14. BZ.
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Die Art, mit der sich die Volksbühne so erfolgreich von einem gemütsöden, politisch armseligen, US-amerikanisch verdorbenen Deutschland wegdrehte, wie sie sich zu einer sehr eigenen, autosuggestiven Welt verkapselte – diese Art ist längst zum städtischen Stil geworden, der von überall her heranschwappt. Vielleicht ist genau das typisch Berlin – die Stadt, die mit den gleichen Mitteln, die einen Castorf nötig und möglich machten, längst zurückschlägt: Alle erfinden ständig eine Positur, die von der Erbärmlichkeit ablenkt, nichts zu bedeuten – so flieht es sich erfolgreich in den Hochmut der falschen und deshalb verhängnisvollen Unantastbarkeit.
Welche Signale will der Sender Volksbühne angesichts dessen (noch) abgeben? Immer die gleichen, so, wie Castorf immer wieder das gleiche Interview gibt. Die Volksbühne war immer gut, wenn sie darauf beharrte, sich nicht zu entwickeln. Also: Ausreizen von Situationen bis zur nächsten Verwirrung; das Eigene am lautesten sagen in den Momenten der Verzweiflung; die Halbheiten, die noch möglich sind, ganz und gar leben. Bei sich selber sein, aber, wie Volker Braun schrieb, nicht in der Einsamkeit des Rasierspiegels, sondern nah am Brennglas der sozialen Erfahrungen. Berlin, eine Hauptstadt der entgeisterten Endverbraucher von Gütern und Informationen, und Endverbraucher sind immer den Kloaken nahe. Die Volksbühne, das ist gleichsam Solidarität mit den jüngsten Rissen im Beton des Holocaust-Denkmals. Diese Risse nämlich sind es, die das saubere Berlin-Mitte in schmutzigere Wahrheiten verlängern. Die Risse sind die Route, und Castorfs Bühne möge ein Navigationssystem bleiben, das wieder verlässlich konkret an Ränder führt. Komödiantisch, vielseitig, schnell, übersteuert, nicht gebremst durch den Kleister der Beliebigkeit. Es ist der mehrfache Ekel beim Blick ins Gegebene, der mehrfache Arbeit bringt: Denn wir haben, noch einmal Volker Braun, an mehreren Welten zu würgen.
Castorf hat sein Theater im Lauf der Jahre von der Kantine aus geleitet, dann aus den Totenhäusern russischer Erzähler und gleichsam auch von Brasilien und Kuba aus. Ein direktoraler Rückkehrer aus den Mythen schwüler Religiosität. Im Interview sagt er: »Ich bin tief in der napoleonischen Zeit, aber noch weit vor Moskau.« Menschen, die Querulanz im Blut haben, aber zugleich ein Gefühl dafür besitzen, dass es für wirkliche Umwälzungen immer zu früh und immer zu spät ist, leben in der wahren Hochkultur. Siegt bei seiner Kunst das Chaos, so siegt eine prägende Wahrheit des modernen Da-Seins. Siegt die Langeweile, so siegt die Schamlosigkeit wider das gewinnträchtige Marktverhalten. Und siegt die Geschmacklosigkeit, so siegt immerhin eine antikapitalistische Häme, die äußerst wohltut, wo rundum Gut- und Besserbürgerlichkeit regelmäßig zur Gala aufläuft.
Immer hat die Volksbühne mit Müdigkeiten gekämpft. Das ist der Preis dafür, Grenzen zu überschreiten und doch heiter zynisch zu hoffen, nirgends anzukommen. Castorfs Theater ist eine Schrillbude des explodierenden, siechenden, verwahrlosenden Menschensinns; es herrscht eine Dramaturgie der umtriebigen revolutionären Weltbedenkerei, die im Trieb eine Quelle hat und den Trieb zugleich mit Geist quält. Nur in der Vernichtung des Schönen entdecken wir, dass ihr Maß in uns noch lebendig ist. Immer erst durch Entzug spüren wir, was uns fehlt. Das meint versunkene Welten, vertrunkenes Geld. Vertane Liebe sowieso.
In diesem Theater des gefühlstorpedierenden, dann wieder ergreifend menschlichen Spiels tauchen die traurigen Güter des philosophischen Denkens auf wie zerbrochene Teile eines Mobiliars, das aus scheinbar gesicherten Gedankengebäuden gespült wurde; kurz und taumelnd erscheinen diese Dinge an der Oberfläche, dahingeschwemmt leuchten sie auf, dann werden sie wieder untergespült, in die Strömung der Desillusonierung gezogen und weiter sinnierend zermalmt. So entstand dieser breite, oft umdunkelt-verschlüsselte Theaterstrom. Eine Aufführung ist nicht abgesichertes Gelände, nicht Werk und Gestalt, sondern brutale »Tat« (noch einmal Ivan Nagel). Hier haben Sportler die Kunst besetzt, Aufführung ist Training, und auf dieser Bühne weiß jeder, dass ihm zuerst Letztes abverlangt wird, nicht Inneres. Könnerschaft, zurückgestuft bis in Triviale. Alb und Albernheit.
Castorf ist einer der rabiatesten, schönsten Gründe, Theater zu lieben. Der letzte schmutzig grinsende, wehe und traurige Philosoph der Krisenszene und etwa einem Tschechow oder Brecht näher, als es die Reaktionäre aus den Gefilden des Geläufigen wahrhaben wollen. Castorf, der Berliner Eisenhändlersohn. Eisen: glühend, oft glänzend. Aber manchmal auch nur altes Eisen. Rost und Ost. Das lagert störrisch und störend in Landschaften, braunrot. Ruhm der Ruinen.
Frank Castorf, das ist das Kinderzimmer im Vorrentnerstadium. Sich mit Stolz niedrig spielen, sich schwitzend billig präsentieren – und ohne Maß die Verachtung über das Unglück austoben. Castorf mag Wahrheiten, die keine Freunde brauchen. Gott rächte sich am Menschen, indem er ihn liebte. Dieser Regisseur rächt sich am Theater, indem er immer weiterspielt.
