Kitabı oku: «Revierkampf»
Frank Goldammer
Revierkampf
Kriminalroman
Zum Buch
Affentäter Menschenaffen gelten als die gefährlichsten Zootiere, denn sie haben unheimlich viel Kraft. Zudem sind sie intelligenter als mancher menschliche Zeitgenosse, so denkt zumindest Hauptkommissar Tauner. Zufällig ist er vor Ort, als eine Tierpflegerin im Dresdner Zoo ihrer Unachtsamkeit und dem stahlharten Griff eines Orang-Utans zum Opfer fällt. Doch was zunächst offensichtlich scheint, wird plötzlich kompliziert, denn die Kollegin der Toten glaubt nicht an einen Übergriff des Tieres. Der Orang-Utan namens Theo befreit sich aus dem Käfig und verschwindet spurlos, kurz darauf gibt es eine weitere Leiche. Tauner fürchtet, dass er seinen Instinkten nicht mehr trauen kann: Was hat er gesehen, wie schlau ist Theo wirklich und ist er tatsächlich ein Mörder? Bei seiner Recherche erkennt Tauner, wie zerrüttet die Familie der toten Tiefpflegerin war. Er muss den Spuren in ihrer Vergangenheit nachgehen, um herauszufinden, welches dunkle Geheimnis sie mit ins Grab genommen hat.
Der Bestsellerautor Frank Goldammer wurde 1975 in Dresden geboren und ist gelernter Maler- und Lackierermeister. Mit Anfang 20 begann er zu schreiben. Der alleinerziehende Vater lebt mit seiner Familie in seiner Heimatstadt.
Impressum
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sowie Tieren sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: René Stein, Sven Lang
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Carmen Steiner – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-4158-5
1
Tauner schnappte wild nach Luft und verlangsamte seine Schritte. Ein kleines Stück weiter und er wäre womöglich ins Straucheln gekommen und gestürzt. Die Welt drehte sich vor seinen Augen. Auch wenn sie nur aus harmlosen Häuserwänden, einem Gehweg, einer nächtlichen Straße und der einen oder anderen Laterne bestand, war es ein sehr beunruhigender Augenblick für ihn. Tauner blieb stehen, lehnte sich keuchend gegen die Hauswand, fasste sich ans Herz, das wie wild klopfte, hüpfte und rumpelte. Schweiß triefte ihm von der Stirn, lief ihm unter dem Jackett den Rücken hinab.
Erst nach ein paar Minuten hatte Tauner sich wieder berappelt. Er zog sein Sakko aus. Vorsichtig, als ob seine Beine ihn hinterlistig überrumpeln könnten, tat er ein paar Schritte. Mürrisch schüttelte er den Kopf, als könnte jemand etwas für seinen Zustand, und warf sich das Jackett über die rechte Schulter.
Er war nicht zu alt für so etwas, dachte er wütend, der Junge hatte ihn zu zeitig entdeckt, außerdem hatte er gerade gegessen und getrunken, darüber hinaus war es heiß und obendrein konnte der noch keine 18 gewesen sein. Der Kerl war gerannt wie eine Gazelle. Vielleicht, so dachte Tauner weiter, sollte er sich lieber darüber ärgern, dass er überhaupt versucht hatte, den Jungen zu erwischen.
Ein Auto rauschte vorbei, und ehe Tauner das leuchtende Taxischild realisiert hatte, war es in der Ferne verschwunden. Er sah auf die Uhr und überlegte, wo genau er war. Die Verfolgung hatte einige Minuten gedauert, weg von Dresdens Zentrum, wo der Sprayer seine Duftmarke hinterlassen hatte, hinein in die Friedrichstadt mit ihren abbruchreifen Häusern, Plattenbauten und dem Krankenhaus. Mit der Straßenbahn hätte er wieder ins Stadtzentrum fahren können. Zwei oder drei Haltestellen nur. Aber so spät in der Nacht fuhren die Bahnen bestenfalls alle halbe Stunde und die letzte hatte ihn vor einigen Minuten erst passiert. Tauner strich sich durch die kurzen Haare, dachte an seinen langen Heimweg und wie ihm schwarz vor Augen geworden war. Warum hatte er den Kerl nicht einfach seinen Kram machen lassen? Was machte schon ein Graffito mehr an einer Wand, die sowieso schon verschmiert war?
Weil es ums Prinzip ging. Ihm ging es immer ums Prinzip. Er war nun einmal Polizist. Und Polizisten achteten auf Recht und Ordnung, und irgendjemandem gehörte die Wand, und dieser musste sich nun bemühen, das Graffito wieder zu entfernen, also entstand ihm Schaden, genau so als wäre er bestohlen worden. Also hatte er den jungen Kerl nicht einfach in Ruhe machen lassen dürfen. Aus Prinzip war er ihm nachgelaufen.
Tauner wandte sich wieder dem Stadtzentrum zu, überquerte die Straße und erstarrte. Bei seinem Blick nach rechts hatte er eine Bewegung bemerkt. Im Schatten eines Hauseingangs, etwa 50 Meter entfernt, stand jemand. Nun trat diese Person ins trübe Licht der Straßenlaterne, in dem Hunderte mondsüchtige Nachtfalter kreisten. Es war der junge Sprayer. Er regte sich nicht, stand nur da, sein Gesicht war nicht zu erkennen, der Schirm seines Basecaps warf einen Schatten darüber.
»Machst du dich über mich lustig?«, sagte Tauner halb laut.
»Warum laufen Sie mir nach?«, fragte der Junge.
»Warum?«, gab Tauner verblüfft zurück.
»Was habe ich Ihnen getan?«, fragte der Junge, und Tauner glaubte, die Stimme schon einmal gehört zu haben.
»Ich bin ein Polizist!«
»Sie sind Polizist?«, fragte der Junge, und die Betonung auf dem ersten Wort beleidigte Tauner ungemein.
Langsam näherte er sich dem Jungen. Dieser bemerkte seine Bewegung und zog sich zurück, bis er aus dem Licht der Laterne verschwunden war.
»Ich bin Polizist und ich hab dich im Auge!«, rief Tauner.
Der Junge sagte nichts mehr, war lautlos in die Sommernacht verschwunden.
»Das ist kein Graffito!«, sagte Uhlmann, der zweite Hauptkommissar der Dresdner Mordabteilung. »Das sind nur Tags!«
»Was du nicht sagst«, murrte Tauner und beobachtete an den Dienstwagen gelehnt seinen großen mächtigen Kollegen, der die vollgesprühte Wand fachmännisch betrachtete.
»Welche von denen hat er denn gesprüht?«, fragte der große Dicke.
Tauner hob müde die Schultern und bereute, überhaupt etwas erzählt zu haben. »Das da, glaub ich.« Er deutete auf ein grünes Buchstabengebilde, kaum größer als eine Damenhandtasche.
»Das nennt sich Tag. Der hat nur sein Signum gesetzt.« Uhlmann tat ernst, doch Tauner roch den Spott unter den Achseln seines Kollegen. Jetzt am Tag schien das Gekritzel kaum der Rede wert. »Das da drüben, das Große, ist ein Bombing. Die malen schnell die Umrisse und füllen die Innenfläche auf, manche nehmen dazu gar keine Sprayflaschen mehr, sondern Farbwalzen«, erklärte Uhlmann in einem Anfall von Beredsamkeit. »Was rennst du dem deswegen hinterher? Dafür gibt’s Leute bei uns. Nennt sich Abteilung Graffiti. Die kennen ihre Pappenheimer.«
»Lass mich doch in Ruhe.«
»Mach dir nichts daraus, die Kids kriegst du nicht. Rennen wie junge Hunde.«
Tauner stieß sich vom Auto ab. »Der fragte mich sogar, warum ich ihm nachlaufe!«
»Er hat mit dir geredet?«
»Hat gewartet, keine 50 Meter weiter.« Kaum war es draußen, ärgerte Tauner sich darüber.
Den bärtigen Mund seines Kollegen umwogte ein feines Lächeln. Doch er sagte nichts, hob sich den Spott für später auf und machte ein paar Fotos von der Wand. »Problematisch wird es für die Jungs nur, wenn sie in flagranti erwischt werden, dann weiß man nämlich, welches Zeichen sie verwenden, und kann ihnen all die Tags aufs Auge drücken, die man in der Stadt gefunden hat. Da kommt ein hübsches Sümmchen zusammen zum Schluss.«
»Und weil die Hornochsen sowieso kein Geld haben, können sie die Strafe nicht bezahlen, bekommen Sozialstunden aufgebrummt und irgendein Sozialarbeiter gibt ihnen Tipps, wo es noch Wände zu beschmieren gibt.«
Uhlmann lachte grunzend. »Das ist der Falk, wie ich ihn mag.«
»Mach dich nur lustig. Findest du das in Ordnung? Alles vollzuschmieren?«
Uhlmann winkte ab. »Kannst doch nichts dagegen tun. Das gehört zu unserer Kultur.«
»Wenn dir das Haus gehört, siehst du das anders.«
»Stimmt, aber mir gehört kein Haus. Kannst du das entziffern?« Uhlmann deutete auf das Gekritzel.
Tauner hielt den Kopf schief und versuchte, aus den Schlaufen und Zacken irgendetwas herauszulesen. »Grftl?«
»Nofate!«, meinte Uhlmann.
Tauner blies die Backen auf und ließ Luft entweichen. »Wo willst du denn hier ein N erkennen?«
»Glaub’s mir! Hier, sieh!« Uhlmann fuhr mit seinem dicken Zeigefinger die Buchstaben entlang. »Enn … ooo … efff … aaa … tee … eee … Ausrufezeichen … Schnörkel.«
Tauner schüttelte den Kopf und öffnete die Wagentür. »Gehen wir frühstücken, Ausrufezeichen, ohne Schnörkel.«
»Hast du nicht die Kinder dieses Wochenende?«, fragte Uhlmann mit vollem Mund, vor ihm stapelten sich schon drei leere Pappschachteln.
Tauner nickte und pikte skeptisch sein Rührei an. Da es nicht gackerte oder davonlief, begann er es zu essen. Eine Angestellte kam, nahm die Nummer vom Tisch und stellte Uhlmann drei weitere Schachteln vor die Nase. »Guten Appetit!«, meinte sie und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Uhlmann störte das nicht, er schob Tauner eine Schachtel zu. »Hier, geb ich aus!«
»Was ist denn das?«
»Ein Pancake!«
»Bist wohl schon satt?«, fragte Tauner ein wenig gehässig.
Uhlmann schniefte mit vollen Backen, langte nach vorn und zog die Schachtel zu sich. »Und was hast du vor mit deinen Kindern?«
Tauner trauerte dem Pancake ein wenig nach, konnte es jedoch nicht zeigen, hob deshalb die Schultern. »Keine Ahnung, in den Zoo vielleicht.«
»Ha!« Uhlmann lachte ein halbes Lachen und stopfte sich wieder etwas in den Mund. »Wie alt sind die?«, presste er durch die geschlossenen Zähne.
»Tom ist 16.«
»Deine Mädels sind doch schon 20, oder?«
»21 und 19. Hast du einen besseren Vorschlag?«
»Geh doch baden mit ihnen, fahr zum Senftenberger See.«
»Hans, ich bin froh, dass sie noch mit mir reden, ich glaube nicht, dass sie beim Baden mit ihrem alten Herrn gesehen werden möchten. Außerdem kommen die erst am Nachmittag, weil die Damen nämlich ausschlafen wollen. Die gehen heute Abend weg und kommen nicht vor 6 Uhr morgens wieder. Und wie ich Tom kenne, zockt der bis zum Morgengrauen.«
Uhlmann sah erstaunt von seinem Essen auf. »Der zockt? Um Geld?«
»Nein, mein lieber Kollege, er spielt Computer. Ich dachte, du als Experte für jugendliche Subkulturen wüsstest das.«
»Na ja, der Zoo ist gar nicht schlecht.«
»Sag ich doch«, knurrte Tauner. Er hatte Angst vor dem morgigen Tag, musste er sich eingestehen. Bestimmt lachten ihn die Kinder aus, und sicher maulte Tom den ganzen Tag herum. Und gewiss würden Nicole und Sandy sowieso nur über Dinge plappern, die er nicht verstand, und garantiert würde eines der Kinder irgendwann so etwas sagen wie: ›Bei Mama dürften wir das‹, oder: ›Mama hätte nichts dagegen‹, oder: ›Mama würde schimpfen‹.
»Wollen wir uns zufällig treffen im Zoo?«, fragte Uhlmann, der trotz seiner geistigen Grobmotorik manchmal auch sehr feinfühlig sein konnte.
Tauner wägte diesen Vorschlag in Gedanken ab und schüttelte den Kopf. »Das würden die merken, und außerdem …« Da musste er allein durch, dachte Tauner zu Ende.
2
Er wusste schon, dass es ein Fehler gewesen war, da waren sie nicht mal beim Zoo angekommen. Der Parkplatz war überfüllt und vor dem Eingang war eine hundert Meter lange Schlange. Kinder kreisten in spätsommerlicher Hitze als kreischende Satelliten um ihre Eltern oder verharrten in Agonie und wurden von ihren Eltern nach vorn geschubst, wenn die Wartenden sich rührten.
»Oh Mann!«, stöhnte Tom auf dem Beifahrersitz. Er war schlaksig und dürr wie fast alle Jungs in seinem Alter.
»Tommy, hab dich nicht so!«, zwitscherte Sandy. Tauner hätte sie beinahe nicht wiedererkannt, sie hatte ihren ›Look‹ geändert, aus langen blonden Haaren waren halb lange rote Haare geworden, und Tauner war sich nicht ganz im Klaren, ob ihm das gefiel. »Wird bestimmt schön!«
Das sagte sie nur seinetwegen, dachte sich Tauner im Stillen und fragte sich, wo er das Auto abstellen konnte. Sie hätten mit der Straßenbahn fahren sollen.
»Wir hätten mit der Bahn fahren sollen, Papi«, meinte Nicole.
»Sag doch nicht Papi«, murrte Falk. Jetzt war er schon fast am Ende des Großen Gartens angelangt und hatte noch immer keine Parklücke gefunden.
»Was soll ich sonst sagen? Vater? Vati? Oder Herr Hauptkommissar?«
Falk blickte in den Rückspiegel, um zu sehen, ob seine Älteste einen Scherz gemacht hatte. Nicole war sehr nach ihrer Mutter geraten, nicht nur dem Äußeren nach. Sie war das einzige seiner Kinder, welches die Scheidung der Eltern nicht nur aus einem praktischen Aspekt betrachtete, sondern um die verlorene gemeinsame Zeit trauerte. Was er sah, machte ihn ein wenig traurig. »Was weiß ich, sag eben Papi«, sagte er leise und zwinkerte Nicole im Spiegel zu. Im nächsten Moment wünschte er, er hätte es nicht getan.
»Da drüben parkt einer aus!«, meinte Tom.
Falk bremste, sah kurz in den Spiegel und wendete eng und schnell, dass die Reifen quietschten.
»Das war aber nicht nötig«, meinte Nicole leise.
Tom drehte sich zu ihr um. »Ich fand es geil!«
Falk schloss einen Moment die Augen. Sie waren keine halbe Stunde zusammen und er war schon in zwei Fettnäpfchen getreten. Wütend über sich selbst parkte er ein.
Als er aussteigen wollte, hielt Tom ihn am Handgelenk fest. »Ich sag’s dir gleich, das wird heut teuer für dich. Ich will Eis und Pommes und Cola und was weiß ich noch!«
Tauner grinste seinen Rotzlümmel von Sohn an. »Damit habe ich schon gerechnet.«
»Und!« Tom hob die Hand. »Nach dem Abendbrot will ich nach Hause. Ich hab heut eine Session.«
»Und wir haben heute Abend auch etwas vor!«, meldete sich Sandy. »Wir wollen ins Kraftwerk!«
Tauner hob die Hände. »Ich zwinge euch ja nicht, bei mir zu bleiben. Ich wollte nur ein paar Stunden mit euch zusammen sein.«
»Oh Gott«, flüsterte Tom und stieg aus.
Sandy folgte ihm, nur Nicole zögerte einen Moment. Falk sah sie fragend an.
»Wolltest du Zeit mit uns verbringen oder hat Mama dich dazu genötigt?«, fragte seine Große schließlich.
Falk ersparte sich eine Antwort. Falls eines seiner Kinder von dem Anruf seiner Exfrau wusste, dann Nicole.
»Was hast du denn für eine Session?«, fragte er Tom, der hinter den beiden jungen Frauen lief. »World of Warcraft?«
»Pfft!« Tom sah ihn an, als hätte er sich einen Damenhut aufgesetzt. »Counter Strike!«
»Ist das nicht dieses Ballerspiel?«
»Ja, Papa, und morgen dreh ich durch und werde zum Amokläufer.«
»Hör mal, damit macht man keine Faxen!«, mahnte Falk seinen Sohn und sah sich sogar um, ob nicht zufällig jemand mitgehört hatte.
Tom stöhnte genervt. »Ja, ich weiß. Hast du was gegen das Spiel?«
Falk hob die Schultern. Es war ein Ego-Shooter, bei dem derjenige siegte, der die meisten Gegner tötete. In Tauners Augen war es brutal, jedoch war es ein Spiel, und er glaubte nicht, dass die Jungs allein deshalb durchdrehten und zu Amokläufern mutierten.
Tom ging es zu lang, bis er eine Antwort erhielt. »Oh, sag es ruhig, jeder ist dagegen!«
»Ach, spiel nur. Bestimmt bin ich nur zu alt dafür. Sag mal«, er beugte sich ein wenig zu seinem Sohn, »haben deine Schwestern Freunde?«
»Frag sie doch selbst!«, sagte Tom laut.
Nicole und Sandy drehten sich um. »Haben wir nicht!«, sagte Sandy.
Na prima, dachte Tauner, nur immer her mit den Fettnäpfchen.
Sie warteten länger als eine halbe Stunde, um in den Zoo zu gelangen. Falk hatte seine Hände in den Hosentaschen und kam sich vor wie das fünfte Rad am Wagen, obwohl sie nur zu viert waren. Die beiden Schwestern redeten, als hätten sie sich seit Wochen nicht gesehen. Falk vermutete, dass Absicht dahintersteckte, jeder von ihnen hatte sich vorgenommen, den Nachmittag irgendwie hinter sich zu bringen. Tom hatte sein Handy hervorgeholt und spielte irgendein Spiel, dessen piepsiges Gedudel Tauner so an den Nerven zehrte, dass er seinem Sohn das Gerät am liebsten aus der Hand geschlagen hätte. Das war er nun geworden, hatte Falk gedacht, irgend so ein Typ, mit dem seine Kinder den Nachmittag verbringen mussten, anstatt mit allen anderen ins Schwimmbad zu gehen.
Er war heilfroh, endlich im Zoo zu sein und nicht mehr schweigend herumzustehen. »Wo gehen wir lang?«, fragte er und wollte mit forschem Ton ein wenig Schwung in die Angelegenheit bringen. Er ertappte sich dabei, wie er sich suchend nach seinem Kollegen und dessen Frau umsah.
»Mir egal!«, murmelte Tom, ohne seine Augen von seinem Piepgerät zu nehmen.
»Okay, deine Schwestern haben sich schon entschieden«, meinte Falk und folgte seinen Töchtern, die zum Elefantengehege liefen, welches sich gleich links neben dem Eingang befand.
Tom sah auf, hob die Augenbrauen, wie einer, der schon alles auf dieser Welt gesehen hat, und steckte sein Handy weg, ohne dass Falk etwas sagen musste.
»Wie läuft’s denn so in der Schule?«, fragte Falk. Die Hoffnung, heute ein Gespräch mit seinen Töchtern zu führen, verlor sich mit jedem ihrer ausgreifenden Schritte.
Tom stöhnte genervt. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Erstens sind Ferien und zweitens hast du doch mein Zeugnis gesehen.«
»So war das doch nicht gemeint«, brummte Falk und versuchte, sich zu erinnern, wie Toms Zeugnis ausgesehen hatte. Gar nicht so schlecht vermutlich, sonst hätte seine Mutter sich beschwert. »Ich meinte deine sozialen Kontakte?«
»Soziale Kontakte?« Tom sprach es aus wie eine hässliche Krankheit, die man niemandem wünschte. »Meinst du mein Umfeld, oder was? Ob ich Freunde habe?«
»Ja, oder eine Freundin!«
»Stell dir vor, ich habe beides!« Tom schüttelte den Kopf, als hätte er es heute mit einem besonders dummen Exemplar eines Erwachsenen zu tun.
Falk lief eine Weile schweigend neben ihm her, kurz darauf erreichten sie die beiden jungen Frauen, die es geschafft hatten, zwischen den Besuchermassen eine Lücke zu finden, von der aus man die Elefanten beobachten konnte. Kaum hatte er selbst einen Blick auf die Tiere geworfen, hatten die Damen genug und drehten munter schwatzend ab.
»Hör mal«, sagte Falk zu seinem Sohn, »ich kann mir vorstellen, dass dich unsere Scheidung belastet, letztendlich ist …« Er kam nicht weiter.
Tom warf ihm einen genervten Blick zu. »Hör mal, ich wollte einfach nur einen chilligen Nachmittag haben, okay, was du und Mama machen, ist mir egal, ihr würdet ja sowieso nicht auf mich hören, wenn ich was sage, außerdem hat sich ja kaum was geändert. Du warst früher auch so gut wie nie zu Hause!« Toms Telefon piepte wie gerufen, so war er beschäftigt und konnte seinen Vater ignorieren.
Falk versuchte, auf seinen Sohn nicht wütend zu sein, doch das misslang ihm gründlich. Tom hatte recht, er war früher oft nicht zu Hause gewesen, doch das brachte der Beruf mit sich. Außerdem hatte sein Sohn nicht so mit ihm zu reden. Jemand hakte sich bei ihm ein. Falk warf einen traurigen Blick auf seine Älteste.
»Er pubertiert, du kannst nichts richtig machen. Selbst wenn du noch zu Hause wärst, würde er dich hassen!«, sagte Nicole.
Falk wusste, wie sie es meinte, dennoch trafen ihn die Worte. Er war auch pubertär gewesen früher, aber seinen Vater hatte er nicht gehasst. »Und du? Und Sandy, hasst ihr mich auch?« Falk lauschte seiner Stimme und fand, dass er sich genauso beleidigt anhörte, wie er es war.
»Ach was, Papa, so war das nicht gemeint. Tom denkt eben gerade, er wäre der Größte, das denken alle Jungs in dem Alter. Zu Hause spielt er sich auch auf.«
»Und kriegt er alles hin? Oder hat er Probleme?«
»Du denkst wohl schon wieder wie ein Polizist.«
»Nein, überhaupt nicht, ich will nur wissen, ob er … also …« Falk verstummte, und Nicole lachte.
»Also doch der Polizist. Er gerät nicht auf die schiefe Bahn. Er sitzt nur viel zu lang und viel zu oft am Computer. Außerdem geht er skaten.«
»Und er hat eine Freundin?«
»Ja, irgend so ein kleines Mädchen aus der Achten.«
»Und hat er … mit ihr …« Falk schloss seinen Mund erneut, ein weiteres Mal zu spät. Nicole lachte auf, und fremde Leute drehten sich zu ihnen um.
»Mann, Papa, gehst du bei deinen Verhören auch so vor? Dann solltest du den Beruf wechseln. Du glaubst doch nicht, dass wir uns gegenseitig verpfeifen?«
Tauner schwieg und versuchte, sich an die Zeit zu erinnern, als Nicole gerade geboren war, er ein angehender Kriminalbeamter mit einer Frau war, die ihn liebte und die er liebte. Es war ihm kaum möglich, zu viele Belanglosigkeiten schoben sich dazwischen, und Nicole selbst war zu sehr wie seine Exfrau geworden, nahezu ein jüngeres Ebenbild.
Nicole war erwachsen genug, um nicht weiterzusprechen, sie blieb bei ihm untergehakt und so folgten sie Tom und Sandy am Raubtiergehege vorbei, hin zum Giraffenhaus, wo schreiende Kinder sich um alles Mögliche kümmerten, nur nicht um die Tiere. Eine Viertelstunde später erreichten sie ein von Menschen überfülltes Areal. Tauner machte große Augen, als er die Schlangen vor den Imbissbuden sah. Doch seine Kinder waren gnädig zu ihm, passierten das Gelände, ohne Ansprüche auf Verpflegung zu erheben. Tauner wurde dabei ein wenig wehmütig, denn vor nicht allzu langer Zeit wäre er hier nicht ohne Gebrüll oder Gezänk durchgekommen. Waren sie wirklich alle schon so groß, dachte er, war er schon so alt? Oder waren sie instruiert, nicht allzu sehr an seinen Nerven zu zehren? Tauner mochte beide Gedanken nicht.
Vorbei an den Geiern, die bewegungslos im Schatten hockten und die Besucher beäugten, geriet das Orang-Utan-Haus in Tauners Blickfeld. Das hob seine Stimmung ein wenig. Er mochte diese friedlichen Tiere und erinnerte sich daran, dass er und seine Kinder früher viel Zeit vor den Gehegen verbracht hatten. Denn auch wenn seine Kinder an allen anderen Tieren kaum Interesse zeigten, waren diese Menschenaffen etwas ganz Besonderes. Vielleicht war es die körperliche Ähnlichkeit, besonders der kleineren Tiere, mit dem Menschen, die das Interesse der Kinder geweckt hatte. Stundenlang hätten sie den Nachwuchs betrachten können, der sich putzig und völlig schamfrei tummelte und Spaß daran fand, im hohen Bogen durch den Käfig zu pinkeln. Das waren die Momente, für den sie in den Zoo gegangen waren, in denen sich alle einmal einig gewesen waren. Hier war es immer warm und amüsant, und niemand dachte an Eis, Cola, Pommes oder die Toilette.
»Oh Mann!«, entfuhr es Falk, als er die Menschenmenge vor dem Freigehege der Orang-Utans erblickte. Die Leute johlten. »Komm, lass uns gehen!«, sagte Tauner laut. Er wollte sich das nicht antun.
»Da geht was vor!«, sagte Tom halb laut, und erst jetzt registrierte Tauner den Tonfall der Menge. Er streifte den Arm seiner Tochter ab und lief los.
Zuerst war das Gedränge vor dem Freiluftgehege viel zu groß, als dass Tauner hätte etwas sehen können. Er hörte eine Frau kreischen, und ein paar Männer schlugen mit den Händen gegen die Scheiben.
»Polizei!«, rief Tauner und riss einen Mann an der Schulter herum.
»Der bringt die um!«, keuchte der Mann.
Tauner griff nach dem Nächsten. »Machen Sie Platz!« Er zerrte einen Rentner beiseite, der seine Enkelin auf dem Arm trug. Das kleine Mädchen schien unbeteiligt, begann jedoch zu weinen, als sie Tauner sah.
»Was ist denn los?«, fuhr der Mann Tauner an.
»Ich bin Polizist!« Er konnte noch immer nichts erkennen, und die Menge verursachte einen Lärm, die ihn kaum ein Wort von dem verstehen ließ, was der Mann sagte.
Endlich ging der Rentner beiseite. Nun erst konnte Tauner erkennen, dass ein Orang-Utan durch die Gitterstäbe hindurch eine Pflegerin gepackt hatte, sie schüttelte und schlug. Die Frau hing leblos in seinen Händen, ob sie tot oder nur bewusstlos war, war für Tauner nicht auszumachen. Der Körper des Affen verdeckte seine Sicht. Tauner griff nach seiner Pistole, doch die lag gut verschlossen in seiner Wohnung. Jemand schrie hysterisch, einige Frauen und Kinder weinten, und weitere Leute strömten zum Gehege. Tauner fluchte lautlos, ließ vom Gitter ab und schob sich aus dem Gedränge. Er rannte los, lief um das Gebäude herum bis zu einer braun lackierten Blechtür, durch die die Tierpfleger Zutritt zum Bereich hinter den Gehegen erhielten. Die Tür war verschlossen, hatte keine Klinke. Tauner hämmerte dagegen. Zuerst tat sich nichts. Er hämmerte erneut. »Aufmachen, Polizei!«, rief er und versuchte, den Lärm der Besucher zu übertönen. Mittlerweile strömten Leute aus allen Richtungen zum Menschenaffenhaus. »Aufmachen!«, rief Tauner erneut und trat wütend gegen die Tür.
»Ich kann Sie hier nicht einlassen!«, antwortete plötzlich eine Männerstimme.
»Was soll das heißen?«
»Gehen Sie, wir kommen allein klar!«
»Ich bin Hauptkommissar Tauner von der Kriminalpolizei, lassen Sie mich sofort rein!«
»Woher soll ich wissen …«
»Jetzt machen Sie schon endlich auf, ich habe einen Ausweis!« Endlich öffnete sich die Tür. Tauner schob sogleich seinen Fuß in den Spalt. Seinen Ausweis hatte er schon hervorgeholt. Er zeigte ihn dem rotgesichtigen, großen Mann. Der tat einen Schritt zurück, und Tauner trat endgültig ein. »Los kommen Sie!«, fuhr er den Pfleger an und wollte in den Bereich hinter den Käfigen.
Der Pfleger hielt ihn fest. »Es ist schon zu spät!«, sagte er.
Tauner schürzte die Lippen und überlegte einen Moment, wie er reagieren sollte. Der Mann sah aus, als wüsste er, wovon er sprach. »Ich muss es trotzdem sehen, und wir müssen einen Arzt holen.«
»Der Arzt kommt gleich. Glauben Sie mir, es ist zu spät. Ich habe versucht einzugreifen, aber es war einfach schon zu spät.« Der Mann hob die Hände ein wenig und ließ sie kraftlos fallen. Er war etwa 50 Jahre alt, fast einen Kopf größer als Tauner und hatte eine Halbglatze. Die restlichen Haare hatte er lang wachsen lassen und zu einem grauen Zopf gebunden. Die Hemdsärmel seiner Arbeitskleidung waren abgetrennt, die Arme muskulös und voller Narben.
Tauner nickte und wollte sich an dem Mann vorbeischieben. Der hielt ihn fest. »Sie können da nicht rein!«
»Wollen wir wetten?«, fragte Tauner drohend.
»Nein, Sie verstehen das nicht, die Tiere sind sensibel, da kann nicht jeder rein, die … drehen durch. Man muss es sehr sachte angehen.«
Tauner hob die Hand. »Ich will mich ja nicht in Ihre Arbeit einmischen, doch da hinten liegt eine schwer verletzte Frau. Irgendjemand muss sowieso nach hinten und die Affen sind mir in diesem Falle völlig egal. Gehen Sie beiseite!« Tauner drückte den Pfleger mit der flachen Hand weg und betrat den lang gestreckten Gang hinter den Käfigen, die jetzt alle leer waren. Als er die Tür zum Außengehege erreichte, holte ihn der Pfleger ein.
»Kommen Sie dem Gitter nicht zu nah. Wenn er Sie einmal gepackt hat, lässt er Sie nicht mehr los.«
»Warum sollte er nach mir greifen?«
»Weil er sein Revier verteidigen will, zeigen, wer der Boss ist.« Der Pfleger drückte die Tür auf.
Zuerst sah alles harmloser aus, als Tauner nach dem Anblick von außen vermutet hätte. Die Frau, die auch etwa 50 Jahre alt sein mochte, lag in dem kurzen Gang hinter den Freiluftgehegen auf dem Rücken. Ihre Augen waren offen, die Zunge war ihr aus dem Mund gequollen. Sie hatte eine Wunde am Hinterkopf, aus der ein wenig Blut gelaufen war. Tauner bückte sich zu ihr herunter und tastete nach ihrem Puls. Weil er keinen finden konnte, versuchte er, mit dem Ohr auf ihrer Brust nach dem Herz zu lauschen, doch er hörte nichts. »Wann ist das passiert?«, fragte er den Pfleger.
Der hob die Schultern. »Ich war gerade draußen, als ich wiederkam, da hatte er sie sich schon gegriffen, und sie war bereits leblos. Ich hab gleich Erste Hilfe probiert, es hat keinen Zweck.«
Tauner zog seine leichte Jacke aus und bog den Kopf der Frau nach hinten. »Wie haben Sie Erste Hilfe geleistet?«, fragte er und schob mit dem Zeigefinger die Zunge der Frau beiseite.
»Herzdruckmassage und Beatmung!«
Wann wollte er das gemacht haben?, dachte Tauner. »Kommen Sie her. Machen Sie das so!« Er führte dem Mann eine Herzdruckmassage vor. Der Pfleger kniete sich neben ihn und tat wie geheißen, Tauner begann mit der Beatmung.
Es war sinnlos, das wusste er schon nach wenigen Sekunden, warum tat er das also? Vielleicht wegen der Besucher, die ihn sehen konnten? In der Ferne hörte Falk die Sirenen des Rettungsdienstes. »Gibt’s keine ausgebildeten Ersthelfer hier?«, fragte Tauner und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.
»Ich bin einer«, sagte der Pfleger und sah aus, als wollte er aufgeben. »Das hat doch keinen Sinn mehr!«
»Hat es, heutzutage … Gehen Sie die Tür aufmachen!« Tauner hatte es an der Tür klopfen gehört. Der Tierpfleger erhob sich und lief los. Tauner lehnte sich zurück. Die Frau war tot, daran konnte niemand mehr etwas ändern. Dann hörte er hinter sich ein leises Geräusch. Ein Schauer fuhr ihm über den Rücken, und hastiger, als er es vorgehabt hatte, drehte er sich zur Seite und krabbelte wie ein Krebs weg vom Gitter. Das Orang-Utan-Männchen saß am Gitter, hatte die Hände lässig auf einer Querstrebe abgelegt und betrachtete ihn mit gesenktem Kopf. Harmlos sah er aus, wie ein Sack voller Brote, die riesigen Backenwülste ließen ihn gemütlich aussehen, erinnerten ihn ein wenig an seinen dicken Kollegen.
Tauner, der außer Reichweite war, erwiderte den Blick des Männchens. Dann sah er das Blut am Gitter. Ein paar Haare der Frau klebten daran. Er erhob sich und rutschte auf Knien zum Kopf der toten Pflegerin. Vorsichtig drehte er ihn, bis er die Wunde am Hinterkopf sehen konnte. Wahrscheinlich hatte der Affe ihren Schädel gegen die Gitterstäbe geschlagen. Womöglich war sie da schon tot gewesen. Im nächsten Moment kam der Notarzt mit dem Pfleger und zwei Rettungsassistenten. Er stellte seinen Koffer ab und bückte sich hinunter zur Toten, wobei er einen respektvollen Abstand zum Gitter hielt. Im Augenwinkel sah er, wie der Affe seine Unterlippe vorschob und von dem Blut kostete.