Kitabı oku: «Der Geselle des Knochenhauers», sayfa 3
Auch seine Rückreise wurde eine Wallfahrt. Er besuchte Altötting und das Heilige Blut in der Sankt-Alexandri-Stiftskirche zu Einbeck. Dort unternahmen die Bürger, unter ihnen vielleicht auch der getötete Peter Groper, zwar alles, um ihre Stadt wieder aufzubauen, aber die Spuren des schrecklichen Stadtbrands waren noch überall zu sehen: apokalyptische Zeichen also auch hier.
»Du bist nachdenklich, Bruder Eusebius?«, fragte Weihbischof Balthazar. »Und du zögerst?«
»Nein, ich zögere nicht.« Eusebius straffte seinen Oberkörper. »Ich möchte den Rest meines Lebens im Paulikloster von Hildesheim verbringen.«
»Ausgezeichnet, mein Lieber. Ganz ausgezeichnet.« Fannemann presste den Arm des Mönchs. »Ich möchte dir einen Auftrag erteilen. Ich weiß, unser Orden untersteht allein Rom, aber wir gehören ihm beide an. Nimm es also als Bitte von Ordensbruder zu Ordensbruder, als freundschaftlichen Auftrag gewissermaßen.« Der Weihbischof gab seiner Stimme einen schmeichelnden Ton, der Eusebius sofort misstrauisch machte. Fannemann war mehr als ein gewöhnlicher Ordensbruder, und wenn er um etwas bat, tat er es aus einem Machtbewusstsein, das Widerspruch gar nicht zuließ. Eusebius mochte Menschen wie Fannemann nicht besonders. Aber er war vom Wohlwollen des Weihbischofs abhängig.
»Was soll ich tun?«, fragte er.
»Höre dich in der Stadt um. Trage alles zusammen, was einen Anhänger Luthers mit dem Mord in der Badestube in Verbindung bringen könnte.«
»Und wenn es nun kein Lutheraner war?«
»Ich spreche nur von Möglichkeiten, mein Freund«, sagte Fannemann, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Bruder Eusebius war von dessen Ansinnen alles andere als begeistert. Er war Seelsorger und Prediger und für Spitzeldienste nicht geeignet. Jedoch war er nicht nur ein wissbegieriger, sondern auch ein neugieriger Mensch, und so gab er Fannemann zwar keine Zusage, aber er lehnte auch nicht rundheraus ab.
Der Büttel und der Badeknecht hatten die sterblichen Überreste des Einbecker Holzhändlers Groper auf einem Handwagen zum Rathaus geschafft und sie dort in einer Kammer aufgebahrt. Obwohl sie den Wagen mit einer Plane abgedeckt hatten, war die Haut des Toten noch immer feucht. Und sehr weiß war sie, so weiß die das Fleisch eines gekochten Huhns: Groper hatte sehr viel Blut verloren, ja er war regelrecht ausgeblutet.
Die Ratsherren stand um den Tisch herum, auf dem die Leiche lag. Der Stadtphysikus, ein auf der Universität ausgebildeter Arzt, breitete seine Instrumente aus, mit denen er die Wunde vermessen wollte. Diese Aufgabe hätte auch ein Wundarzt oder sogar der Bader übernehmen können, denn auch sie waren Heilkundige, aber das Zeugnis des Physikus wog schwerer, weil es amtlich war.
»Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, sagte Consul Raven ein ums andere Mal. Sein Gesicht war von Ekel verzerrt. Auch Tile Brandis spürte einen starken Druck im Magen, sagte aber nichts.
»Was weißt du nicht?«, wollte Eggert Unverzagt wissen und zog unwillkürlich seinen gelben Umhang fester um sich. Er wandte den Blick von dem Toten mit der klaffenden Halswunde ab und seinem Ratskollegen zu. Der Stadtphysikus begann sein Werk.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass der Mörder unerkannt entkommen konnte«, erklärte Raven.
»Aber Heinrich hat’s uns doch erklärt«, sagte Bürgermeister Sprenger. »Ich schließe auch die Augen, wenn ich ein Bad nehme.«
»Aber die Mägde!«, sagte Raven.
»Du weißt doch, wie sehr sie beschäftigt sind«, sagte Hinrich Einem mit einem wasserblauen Augenzwinkern und sprach damit aus, was Tile bereits in der Lovekenstube gedacht hatte.
»Was meinst du damit?«, fragte Harmen Sprenger scheinbar entrüstet. Brandis schwieg weiterhin. Natürlich wusste der Bürgermeister ganz genau, was Einem gemeint hatte. Vermutlich nahm auch er die verschwiegenen Dienste der Bademägde gern in Anspruch und spielte vor allem aus diesem Grund den Empörten.
Hinrich Einem wurde einer Antwort enthoben. Der alte Knecht des Knochenhauers von Alfeld brachte zwei Satteltaschen, das Gepäck des Peter Groper. Er wurde angewiesen, es auf einen weiteren Tisch in der Nähe des Fensters zu legen und sich sofort zu trollen. Alle Ratsherren drehten dem Toten den Rücken zu und nahmen die Taschen in Augenschein. Consul Brandis öffnete sie.
In der einen Satteltasche befanden sich ein Regenumhang sowie ein Wams und Beinkleider zum Wechseln, in der zweiten ein Nachtgewand, die Schlafmütze, ein Lederbeutel für die Wegzehrung und ein Schlauch für Wasser oder Wein. Brandis breitete all dies auf dem Tisch aus. Dann fuhr er mit den Händen noch einmal in beide Taschen. Er tastete ihr Inneres gründlich ab und stutzte.
»Keine Papiere«, stellte er fest.
»Unmöglich«, meinte Raven. »Er war ein Kaufmann auf der Fahrt, Tile. Reist du ohne Papiere?«
»Natürlich nicht.« Tile Brandis deutete auf die Kleidungsstücke des Toten, die ebenfalls aufs Rathaus gebracht worden waren. Gemeinsam mit Dirich Raven durchsuchte er auch sie. Die beiden Männer fanden dort zwar die Geldkatze des Holzhändlers und Brauers, die zwei Mariengroschen und drei Kreuzgroschen enthielt, ansonsten aber leer war.
»Wir werden Heinrich von Alfeld fragen müssen, ob er etwas über den Verbleib der Papiere weiß«, sagte Brandis. Die Ratmannen nickten. Dann wurde die Tür geöffnet, und Christoph von Hagen betrat die Kammer. Er warf rasch einen Blick auf den Toten, zuckte nur die Achseln und widmete seine Aufmerksamkeit den Herren des Rates. Seine kotigen Stiefel hinterließen feuchte Spuren auf den Dielen, als er näher trat.
»Wir haben ein paar zwielichtige Gestalten in Gewahrsam genommen«, verkündete er. »Zwei Bettler, die sich an der Stadtmauer beim Dammtor herumgetrieben haben, einen Tagelöhner, der laut grölend auf das Kreuztor zugewankt ist, obwohl er gar nicht in der Neustadt wohnt, und einen Wandergesellen, der in der Taverne Bunter Ochse lautstarke Reden wider Papst und Kaiser geführt hat.«
»Die üblichen Verdächtigen also«, murmelte Tile Brandis.
»Wie meinen?« In Christoph von Hagens Gesicht breitete sich Zornesröte aus.
»Nichts.« Brandis winkte ab.
»Wo sind sie?«, wollte Sprenger wissen.
»Im Keller, wo sonst?«
»Ich bin fertig«, meldete sich nun der Stadtarzt zu Wort. Alle drehten sich zu ihm um.
»Zu welchem Ergebnis bist du gekommen?«, erkundigte sich Eggert Unverzagt.
»Ich denke«, sagte der Stadtarzt und deutete auf ein Pergament neben dem Toten, das er nicht nur mit Maßen bekritzelt, sondern auch mit blutigen Fingerabdrücken versehen hatte, »drei Mariengroschen ist die Wunde wert.«
Jacob Klingenbiel konnte wie so oft nicht schlafen. Er teilte sich die kleine, stickige Kammer neben den Lagerräumen des Hauses Blauer Schwan mit den Lehrjungen Michael und Jonas, die er um ihre unbeschwerte Jugend beneidete. Zwar waren Lehrjahre weiß Gott keine Herrenjahre, und die Burschen mussten nicht nur alle möglichen niedrigen Arbeiten verrichten, sie wurden auch für kleinste Verfehlungen an den Ohren gezogen, in den Hintern getreten oder gar mit dem Stock geprügelt. Wenn Michael und Jonas abends in das Bett fielen, das sie miteinander teilten, schliefen sie sofort ein. Aber niemand konnte ihnen ihre kindliche Fröhlichkeit nehmen, keine Drohungen und auch kein Wutausbruch des Meisters. Sie waren arbeitsam und zeigten sich anstellig, auch wenn sie manchmal noch etwas ungeschickt waren und zu harmlosen Streichen aufgelegt, doch immerhin hatten sie ein Ziel: ihre Lossprechung. In einigen Jahren konnten sie Gesellen werden. Allein die bloße Möglichkeit spornte sie an.
Jacob war Geselle, doch was hatte er davon? Gar nichts. Wenn Klingenbiel an einer der Morgensprachen des Sankt-Andreas-Knochenhaueramtes teilnahm, um auf dieser Zusammenkunft mit den anderen Meistern über zünftische Angelegenheiten zu beraten, um einen neuen Meister in das Amt aufzunehmen, was aus Brotneid immer seltener geschah, oder um sich schlicht und einfach voll zu fressen und zu besaufen, dann fand seine junge Frau immer einen Grund, die Lehrlinge und das Gesinde mit Aufträgen aus dem Haus zu schicken. Jede Morgensprache dauerte lange und endete mit einer Zecherei, denn immer gab es Metzger, die gegen die Zunftordnung verstießen, indem sie zu viel schlachteten oder ihre Gewichte manipulierten oder schlechte Waren feilboten, und daher war die Kasse mit den Strafgeldern gut gefüllt.
Waren Meister und Gesinde außer Haus, erwartete Marie den Gesellen in ihrer Schlafkammer. Sie lag nackt unter der Daunendecke, die sie anhob, wenn Jacob kam. Jacob schlüpfte zu ihr, und ihm war fast alles erlaubt. Er durfte die Gattin seines Meisters küssen und überall berühren, wo er nur wollte, allein von ihrem Nest, ihrer Höhle, vom Sitz der Sünde konnte er nur träumen, wenn er nachts in seinem Bett lag und den Atemzügen der Lehrjungen lauschte. Aber er wollte sie besitzen, so wie Klingenbiel sie besaß. Er wollte die Erlaubnis zum Betreten der fremden Welt zwischen den Schenkeln des Weibes, und zwar eine Erlaubnis nicht nur von Marie, sondern eine mit kirch lichem Segen. Der Traum genügte ihm nicht mehr.
Jacob legte Hand an sich. Er achtete darauf, keine Geräusche zu verursachen, aber das altersschwache Bett knarrte, selbst wenn er sich noch so vorsah. In Maries Höhle wollte er stundenlang verweilen. In seinem Bett ging alles viel zu schnell.
Nachdem es vorbei war, atmete Jacob noch eine Zeit lang heftig. Er hatte sich der Sünde der Selbstbefleckung hingegeben, aber das war mit zwanzig Vaterunsern und einem halben Pfennig für die Armenkollekte aus der Welt zu schaffen. Bei jeder Beichte bekannte er, was er Nacht für Nacht tat, und manchmal hatte er das Gefühl, dass der Priester seinem Geständnis nicht nur angehaltenen Atems lauschte, sondern dass sich seine Hände dabei unter die Soutane verirrten.
Knecht Matthias täuschte sich, als er vermutet hatte, Jacob hätte am Abend Bier getrunken. Der Geselle war keineswegs in einer Schänke gewesen, weder im Bunten Ochsen noch im Pferdekopf oder in der Sau, sondern er hatte im Frauenhaus Befriedigung gesucht. Neben Kost und Logis bekam er von Vater Klingenbiel auch ein wenig Geld, das er in einen kleinen Lederbeutel tat, den er auf einem Balken in der Diele versteckte. Andere Gesellen setzten ihre mehr als bescheidenen Einkünfte in Bier um, Jacob trug sie zu den losen Frauen, denn es lohnte sich nicht, das Geld zu sparen: Für Eschung und Bürgereid würde es niemals reichen. Und im Frauenhaus bekam man ein passables Weib bereits für einen halben Kreuzgroschen, den Preis von einem Pfund Schweinefleisch oder einem Pfund Hirsch.
Aber es nutzte nichts, die Hübschlerinnen verschafften ihm nur eine kurzzeitige Erleichterung. Er hatte eine Favoritin, Kristin, die fünfzehn Jahre alt war, aber manchmal trieb er es auch mit der Hurenmutter, mit Madame Catherine, wie sie sich nannte, seitdem ihr irgendein Durchreisender erzählt hatte, Kaiser Karl sei am burgundischen Hof aufgewachsen und beherrsche nur Französisch. Katharina, wie sie wirklich hieß, behauptete gern, als junges Mädchen dem Enkel des im Volk sehr beliebten Kaisers Maximilian oft zu Willen gewesen zu sein, dabei hatte sie Hildesheim nie verlassen. Und sie war entsetzlich ungebildet: Sie hielt Burgund für eine spanische Provinz. Doch Jacob hörte ihr gern zu, wenn sie ihn in die Arme nahm und ihn ihren Kaiser nannte. Sie tippte auf seine Nase, strich ihm über die Stirn, berührte sein Kinn und erklärte, Karl, der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, der König von Spanien und Neapel, der Herr der Niederlande und Herrscher über Amerika sehe eigentlich aus wie er. Jacob Findling, der ein Nichts war, genoss diese Schmeicheleien. Er genoss das Gefühl von Geborgenheit, das er nur bei Katharina hatte, er genoss, dass er ihr mit seinem Wissen überlegen war, und er genoss, dass er mit ihr reden konnte; Kristin kicherte immer nur, wenn er von sich und seinen Träumen sprach.
Aber Befriedigung, wirkliche Befriedigung verschafften ihm beide Frauen nicht. Die erhoffte er sich allein von Marie, die sich verweigerte. Denn sie liebte er.
Jacob war der festen Überzeugung, sie zu lieben. Er liebte sie so sehr, dass er sie heiraten wollte.
Heiraten wollte er sie auch, um aufzusteigen. Um nicht mehr Jacob Findling zu sein, sondern Meister Johannes Klingenbiel.
ZWEITES KAPITEL
Die Freiheit eines Christenmenschen
Als sich Bruder Eusebius in seiner Zelle im Paulikloster auf die Lagerstatt legte, begann die Welt um ihn zu kreisen. Die Wände und die Decke des engen Raums verwandelten sich zu lebendigen Wesen, in denen Blut floss; anders war doch gar nicht zu erklären, dass sie hin und her, hoch und nieder wogten. Eusebius richtete sich sofort wieder auf. Bruder Balthazar hatte ihn mit zu viel Wein traktiert.
Eusebius stöhnte. Er hatte den guten Rheinwein quasi auf nüchternen Magen genossen, und das bekam nicht einmal dem stärksten Ritter. Obwohl das Rittertum ja quasi – quasi, dachte Eusebius – vernichtet worden war. Jedenfalls quasi ausgeschaltet: Vor zwanzig Jahren, als ein gewisser Franz von Sickingen durch das Heer der Kurfürsten von Trier und der Pfalz und vom hessischen Landgrafen besiegt worden war und tödlich verwundet auf dem Landstuhl starb. Das Rittertum hatte sich einfach überlebt. Niemand brauchte Ritter, wenn man mit Landsknechten auskam. Die wollten nur Geld und keine Lehen. Obwohl, Ritter neigten – wenn sie keine Raubritter waren – eher zur Treue. Quasi. Landsknechte wechselten die Fronten, wenn sie unzufrieden waren. Die kämpften für den, der besser bezahlte. Quasi!
Geld, dachte Eusebius. Geld, Geld, Geld! Er krümmte und streckte seine Zehen. Quasi, quasi, Geld, Geld! Der Augsburger Geldsack Anton Fugger hatte so viel von diesem sündigen Stoff, dass er es sich leisten konnte, den Kaiser zu finanzieren. Ein Augsburger Handelsherr kaufte Kaiser, als wären sie Bergwerke; das musste man sich doch einmal vorstellen! Vermutlich war er der Antichrist.
Ich hätte nicht so viel Wein trinken dürfen. Und das hier ist doch gar nicht meine Zelle!
Es könnte aber seine Zelle werden. Der Prior, der ihn so freundlich als Gast aufgenommen hatte, hätte sicher nichts dagegen, wenn der weit gereiste Eusebius von Braunschweig seinem Konvent beitreten würde.
Immerhin kannte er seine Schrift Des Doctor Luthers Irrtümer von der Gnade Gottes nebst einer Apologie der sieben Sakramente, so notwendig sind für die Erlangung ewiger Seeligkeit. Gedruckt wurde sie ja nicht, während man diesen Luther vertausendfacht hat. Quasi vertausendfacht.
Mein armer, armer Kopf, dachte Eusebius und tippte an denselben. Der weiche Kern unter der harten Schale verfertigte seine Gedanken. Im Moment jedoch war sein Hirn ein Weinfass.
»Was wollte Bruder Balthazar eigentlich von mir?«, fragte Eusebius die Wand, die er anstarrte. Dann erbrach er sich.
»Wer bist du?« Tile Brandis beugte sich vor. Der Wandergeselle stand mit verschränkten Armen vor ihm. Christoph von Hagen hatte ihn nicht ohne Grund in das Verlies gesperrt, das unmittelbar neben dem Einbecker Keller gelegen war. Manche Gefangenen zermürbte es, wenn sie das fröhliche Zechen von nebenan hörten.
Doch der Wandergeselle sah nicht aus, als könne ihn irgendetwas rasch zermürben.
»Ein Geschöpf des Herrn«, sagte er. Das traf zweifellos zu, aber der arrogante Ton forderte Brandis heraus.
»Bist du Protestant?«
»Was ist das?«
»Mir scheint, dass du dir deiner Lage nicht bewusst bist«, sagte Brandis sanft. Ihm war es durch seine Beredsamkeit – und auch weil er einer der reichsten Familien angehörte – gelungen, die anderen Ratsherren und sogar den Proconsul davon zu überzeugen, dass sie sich um die Bettler und den betrunkenen Tagelöhner kümmern sollten, die Christoph von Hagen neben dem Wandergesellen ins Loch eingeliefert hatte. Für sie interessierte sich Tile Brandis nicht. Sie waren verdächtig, weil sie zu den Armen gehörten, aber was bedeutete das schon? Jede Stadt, die er kannte, litt darunter, dass die Schicht der Armen immer größer wurde. Das war eine enorme Gefahr. Und aus diesem Grund befasste er sich mit dem Protestantismus und wollte alles über die lutherische Konfession in Erfahrung bringen. In allen befreundeten Städten hatte sie sich, nach anfänglichen Ausbrüchen von Zorn, als probates Mittel erwiesen, die Gärung der Massen in anständiges Bier zu verwandeln. In ein Bier, das seine außerordentliche Würze obendrein dadurch erhielt, dass man Kirchengüter für die Stadtkasse einzog. Um Glaubensdinge, wie dieser komische Augustiner in Wittenberg wohl noch immer hoffte, ging es längst nicht mehr. Luther träumte, und das fand Tile Brandis durchaus sympathisch. Doch seine Anhänger machten Politik.
Und Politik machte auch Brandis, denn er war Ratsherr.
»Ich erkläre es dir. Auf dem Reichstag zu Speyer Anno tausendfünfhundertneunundzwanzig setzte Ferdinand, unser König und der Bruder sowie Statthalter des Kaisers, das Wormser Edikt wieder in Kraft. Dieses Edikt verhängte immerhin die Reichsacht über Martinus Luther! Außerdem hob Ferdinand jene Passagen eines Reichsabschieds von 1526 … Weißt du, was ein Reichsabschied ist?«
Der Wandergeselle schüttelte den Kopf. Sein Blick drückte nicht das geringste Interesse aus; eher schon schien es, als würde er durch den Ratsherrn hindurchsehen.
»Ein Reichstagsbeschluss«, erklärte Brandis. »Beim ersten Reichstag zu Speyer rechneten alle noch mit einem Konzil, also beschloss man, dass sich jeder Stand gegenüber seinen Untertanen so verhalten möge, wie ein jeder solches gegen Gott und die kaiserliche Majestät hofft und vertraut zu verantworten. Im Grunde bedeutet es, dass jeder Reichsstand – also die Kurund Reichsfürsten, die Reichsgrafen und die Reichsstädte – die Konfession seiner Untertanen selbst entscheiden darf. Eine Art Religionsfrieden, könnte man sagen.«
»Kommt zur Sache, Herr!«, verlangte der Geselle. Tile Brandis fuhr zurück. Das war ja eine unerhörte Frechheit: Ein Mensch ohne Bürgerrecht bot ihm die Stirn und forderte ihn auf, ihm langatmige Erklärungen zu ersparen. Aber Brandis beherrschte sich.
»Wie gesagt, auf dem zweiten Speyrer Reichstag wollte König Ferdinand diese Beschlüsse aufheben, weil ein Konzil nicht zustande gekommen war. Die evangelischen Reichsstände legten aber eine protestatio gegen Ferdinand und seine katholischen Verbündeten ein, und seither nennt man die Martinianer auch Protestanten.«
»Aha.«
»Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«
»Ich bin ein einfacher Mann, Herr.«
»Und führst im Bunten Ochsen laute Reden gegen Papst und Reich«, fügte Tile Brandis hinzu.
»Nicht gegen das Reich, Herr, sondern gegen den Kaiser«, sagte der Wandergeselle. Diese Antwort machte Tile Brandis stutzig: Der Mann verstellte sich und war klüger, als es den Anschein hatte. Dass er zwischen Kaiser und Reich unterschied, bewies, dass er über Rechtskenntnisse verfügen musste. Die verfassungsrechtliche Formel Kaiser und Reich setzte die beiden Seiten nicht etwa in eins, sie schied sie voneinander: Kaiserliche und Reichsinteressen waren beileibe nicht mehr identisch. Frankreich und Karl V. führten Krieg gegeneinander, weil sich der französische König aus der Umklammerung durch die Habsburger befreien wollte; alle Landgrenzen Frankreich stießen an habsburgisches Territorium. Der Krieg gegen Franz I. lag aber allein im Interesse des Kaisers, Reichsinteressen wurden von ihm eigentlich nicht berührt. Aber konnte ein Wandergeselle so etwas wissen? Es fiel ja sogar Brandis nicht leicht, es zu durchschauen. War der Wandergeselle am Ende gar keiner, sondern ein lutherischer Prädikant? Die Neugierde des Consuls war endgültig herausgefordert.
»Aus welcher Stadt stammst du?«
»Aus Nordhorn.«
»Und was ist dein Beruf?«
»Zimmermann, Herr.«
»Wie Joseph?«
»Ja, aber ich habe keinen Sohn.« Der angebliche Geselle lächelte. Brandis’ Zweifel wuchsen nur noch. Sogar etwas wie Witz schien der Mann aus Nordhorn zu haben, wenn er denn wirklich aus dieser Stadt kam.
»Was willst du in Hildesheim?«
»Ich suche Arbeit, Consul.«
»Im Bunten Ochsen?«
»Ihr kennt meine Wege nicht, Herr. Kreuz und quer bin ich durch die Lande gezogen, aber niemand brauchte mich. Auch in Hildesheim habe ich bei drei Zimmerleuten vorgesprochen. Und ich beherrsche mein Handwerk. Aber nein, leider kein Bedarf. Ich erhielt ja nicht einmal die Gelegenheit zu zeigen, was ich kann, also musste ich meinen Ärger mit ein paar Bier wegspülen.«
»Um dann gegen den Heiligen Vater zu lästern«, sagte Tile. »Er betrügt uns, Herr.«
»Und der Kaiser?«
»Der betrügt uns auch. Das Reich ist ihm doch schnurz – er kann ja nicht mal Deutsch. Aber Geld will er. Eine Türkensteuer. Was gehen mich die Muselmanen an? Für mich sind sie weit weg. Bei den Hungarn … Wo ist das? Jedermann ist doch der Rock näher als die Hose. Auch Euch, Ratsherr. Oder ist Euch das Magyarenreich wichtiger als Hildesheim?«
»Man darf nicht nur an sich selbst denken«, sagte Brandis ohne große Überzeugungskraft, denn nichts anderes tat er üblicherweise. Seine Familie – und Gott natürlich – bildeten den Mittelpunkt seiner Welt. Gesche war schwanger. Er wünschte sich einen Sohn. Das und seine Geschäfte beherrschten sein Denken sogar mehr als die Ratsangelegenheiten seiner Heimatstadt; insofern hatte der Wandergeselle schon Recht. Aber wenn Tile vor seinem Gedenkbuch saß, zwang er sich zu einem weiten Horizont. Die Nachwelt sollte nicht nur sehen, dass er ein guter Geschäftsmann und ein liebevoller Familienvater gewesen war, sondern auch ein Homo politicus.
»Ihr habt auch keine Arbeit für mich, Herr?«, fragte der Geselle.
»Kennst du die Lovekenstube?«, wollte Tile Brandis wissen; auf die Frage des Gesellen ging er vorerst bewusst nicht ein.
»Wie?«
»Die Lovekenstube?«
»Nein, Herr. Ist das eine Badestube?«
»Allerdings.«
»Mit drallen Bademägden?« Der Wandergeselle lächelte. »Kann man so sagen.«
»Ich kenne sie nicht … würde sie aber gern kennen lernen.«
»Nun, heute ist sie geschlossen«, sagte Brandis. »Aber vielleicht kann man sie morgen wieder besuchen … Wie ist dein Name?«
»Wenzel«, sagte der Geselle.
»Nun, Wenzel, auch ich habe keine Arbeit für dich.« Consul Brandis erhob sich. »Ich habe meine Hände zwar in vielerlei Geschäften, aber das Handwerk der Zimmerleute gehört nicht dazu. Tut mir Leid.« Er begab sich zur Tür und schlug dreimal gegen sie. Wenige Lidschläge später öffnete der Büttel. »Er kann gehen«, sagte Brandis mit einer Kopfbewegung hin zu dem Verdächtigen.
»Was, Herr Consul?«
»Spreche ich so undeutlich? Er ist entlassen.«
»Nicht mal als Knecht?«, fragte der Wandergeselle. »Ich mache alles, selbst die schmutzigsten Arbeiten.«
»Ich habe Knechte«, erwiderte Tile und ging hinaus.
»Tot?«, fragte Johanna von Alfeld. Ihr Gesicht war bleich.
»Ja, tot«, sagte Heinrich. Er hatte nicht die geringste Lust, über den Vorfall in der Lovekenstube zu sprechen. Hunger hatte er, aber die Weinsuppe war längst erkaltet. Heinrich von Alfeld brach sich ein Stück vom Brot.
»Soll ich die Suppe aufwärmen lassen?«, fragte Johanna. »Ich wäre dir sehr dankbar«, entgegnete Heinrich.
»Nun, dann sage ich der Magd Bescheid.« Johanna blieb aber sitzen. Weiber waren nun mal furchtbar neugierig. »Wer hat es denn getan?«
»Weiß ich doch nicht.« Heinrich von Alfeld hatte die Nase voll. Seine Ratskollegen hatten ihn bereits mit inquisitorischen Fragen gequält, nun wollte er in Ruhe gelassen werden.
»Hast du nichts gesehen?«
»Geh ins Bett!«, sagte von Alfeld müde. Er mochte kein weiteres Wort mehr wechseln, mit niemandem.
»Heinrich!« Jetzt machte Johanna auch noch diese Kuh augen, von denen sie glaubte, sie würden ihn erregen. Und sie neigte den Kopf zur Seite – das war alles andere als verführerisch. Die Frau, mit der Heinrich von Alfeld seit elf Jahren verheiratet war, widerte ihn nur noch an.
»Ins Bett! Oder ich hole den Stock!«
»Das darfst du nicht.« Johanna zog die Lippen kraus. Sie hatte Recht, als Ehemann durfte er seine Frau zwar schlagen, aber nur in Maßen. Übertrieb er die Züchtigung, würde man ihn vor den Rat zitieren, und sein blödes Weib hätte Anspruch auf Entschädigung. Warum hatte er sie nur geheiratet? Eine rhetorische Frage: Sein Vater hatte die Ehe gestiftet. Johanna war schließlich eine Raven, und die Raven waren reich. Deshalb hatte er die dumme Kuh ehelichen müssen. Pecunia non olet! Aber sie, sie stank ihm.
»Sofort ins Bett mit dir!«, befahl er erneut. Nun endlich gehorchte sie und verschwand.
Als junger Mann hatte er immerhin noch gehofft, dass Liebe aus Gewohnheit entstand. Aber aus Gewohnheit entstand nur Hass.
Heinrich von Alfeld schenkte sich Wein ein. Er handelte zwar mit Einbecker Bier, das als das beste Bier der Welt galt, aber als wohlhabender Knochenhauer und Ratsherr trank er natürlich am Abend einen Krug guten Franzenweins. Das konnte er sich leisten, auch dank Johannas üppiger Mitgift. Sie hatte dafür gesorgt, dass er sich zu den angesehensten Bürgern Hildesheims zählen durfte. Aber nun brauchte er sie nicht mehr. Er stand auf eigenen Füßen, und zwar sehr sicher.
Heinrich von Alfeld erhob sich und ging zur Tür. Schon lange grübelte er darüber nach, wie er sein Weib auf gewandte Weise beseitigen konnte. Den Beischlaf vollzog er seit Jahren nicht mehr; wenn ihn die Geschlechtslust ankam, ging er entweder in die Badestube oder zu seiner Tochter Anna. Anna war ein liebes Mädchen, sehr nachgiebig und mit einer sehr weichen Haut.
Heinrich riss die Tür auf. Im Vorraum hockte die Magd Frieda auf einer Bank, schwankend zwischen dem Bedürfnis, sofort einzuschlafen, und der Furcht, dass ihr Herr noch Wünsche äußern könnte.
Ihr Herr hatte einen Wunsch.
»Frieda, bring mir meinen Sohn!«, ordnete er an.
»Welchen, Herr?«
»Ja, welchen schon, dummes Stück?! Den ältesten natürlich.«
»Peter?« Frieda war noch nicht ganz bei sich.
»Ich habe nur einen ältesten Sohn«, sagte Alfeld und schlug die Magd ins Gesicht. Das stimmte nicht ganz, denn seinen ersten männlichen Nachkommen hatte er vor vielen, vielen Jahren mit Frieda gezeugt; Johanna war damals zu jung und nicht empfängnisbereit gewesen. Das Kind, das nicht einmal getauft worden war, hatte er sofort nach der Entbindung in der Abortgrube versenkt. Er wollte keine Bankerte – die verursachten nur Schuldgefühle und Kosten.
Frieda, die dick geworden war und Alfeld längst nicht mehr gefiel, machte sich unverzüglich auf den Weg. Heinrich kehrte in die Stube zurück und setzte sich auf die Bank vor dem Ofen, denn Wärme konnte er jetzt gebrauchen, und der einzige Wärmespender in seinem Haus war der Kamin. Und Anna, seine Tochter.
Peter erschien im Nachtgewand. Er war nun neunzehn Jahre alt und musste alsbald verheiratet werden. Waldemar Klingenbiel war seit langem scharf auf Peter. Seine Tochter Magdalena war zwölf, also heiratsfähig. Heinrich stand dieser Verbindung nicht im Wege. Waldemar war zwar kein Ratsherr, und das Sankt-Andreas-Knochenhaueramt war nicht das führende, aber Klingenbiel hatte Geld. Hundert Marien groschen war ihm die Ehe wert. Das war keine gigantische Summe, aber Alfeld würde seinen Sohn endlich loswerden.
»Setz dich zu mir«, bat Heinrich. Peter nahm Platz, am äußersten Ende der Bank. Heinrich von Alfeld wusste, dass sein Sohn ihn abgrundtief hasste, ging aber gelassen darüber hinweg. In seinem Haus hasste jeder jeden. Nur Anna, die hasste nicht. Sie liebte ihren Vater.
»Was wollt Ihr, Herr Vater?«, fragte Peter. Er schaute an Heinrich Alfeld vorbei und musterte die Ofenkacheln, als hätte er sie noch nie gesehen.
»Ja, was denkst du denn? Was soll ich wohl wünschen? Dass du krepierst?«
»Wünscht Ihr das, Herr Vater?«
»Ach was! Ich bin Knochenhauer, ich handle mit Fleisch. Und du bist ein Stück Fleisch für mich, das ich günstig verkaufen möchte.«
»An Waldemar Klingenbiel, Herr Vater?«
»Genau, Sohn. Du wirst seine Tochter Magdalena heiraten.« Heinrich von Alfeld lächelte. Magdalena war ein ausgesprochen süßes Mädchen. Peter würde sie zwar heiraten, aber Alfeld hoffte, auch etwas von dem Kuchen abzubekommen. Besser konnte es doch gar nicht sein. Nur Gott würde dieser sündhaften Konstruktion nicht gewogen sein; deshalb hatte Alfeld bereits vorsorglich päpstliche Ablassbriefe erworben, die ihm 99 999 Jahre Sündenablass und Schutz vor dem Fegefeuer gewährten, und dann konnte man weitersehen. Ein Vermögen hatten diese Briefe gekostet, doch sie waren ihren Preis wert.
»Ich liebe dieses Mädchen aber nicht, Herr Vater«, wagte Peter einen schwachen Einwand. Ernst nehmen musste Alfeld ihn nicht, denn Peter wollte erben, und das konnte er nur, wenn er sich wohl verhielt.
»Ja, das ist Pech«, sagte Heinrich. »Aber du weißt selbst, dass es Heiraten aus Liebe nur bei den Armen gibt. Büdner, Tagelöhner, Gaukler und anderes Gesindel dürfen ihrem Herzen folgen oder, wenn du so willst, auch ihrem Schwanz. Unser einer setzt eben andere Prioritäten. Klingenbiel gibt Magdalena eine beachtliche Mitgift. Ich habe schon mit meinem Schwager Dirich Raven gesprochen. Er verkauft uns ein Haus in der Jacobistraße, auf dem auch die Braugerechtigkeit liegt. Ich meine, Junge, du bist vollkommen missraten, was nur deiner Mutter geschuldet sein kann. Du kannst überhaupt nichts. Dass du zum Knochenhauer taugst, habe ich gar nicht erwartet. Aber deine Mutter wollte doch, dass du Priester wirst. Ich habe dein Studium an der Universität Erfurt finanziert … Und du? Ein Jahr hast du durchgehalten. Du bist dumm, Peter, so dumm wie deine Mutter. Theologie und Jurisprudenz sind für dich Bücher mit sieben Siegeln. Aber vielleicht, habe ich gedacht, wird ein anständiger Kaufmann aus ihm, wenn er schon in der Stadt versagt, in der Adam Riese tätig war. Adam Riese, sagt dir das was? Nein? Natürlich nicht. Du kannst ja nicht einmal rechnen! Genauer gesagt, du rechnest wie ein Lutheraner: Eins mit eins ist vier. So rechnet dieser Luther doch.«