Kitabı oku: «Das Lied der Grammophonbäume»

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Frank Hebben

Das Lied der Grammophonbäume

fantastic episodes IX

© 2013 Begedia Verlag

© der Geschichten: Frank Hebben

Lektorat: Benedict Marko, Nadine Ihle

Umschlag: Jessica May Dean & Frank Hebben

ebook-Bearbeitung: Begedia Verlag

ISBN: 978-95777-047-9 (epub)

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Für Elli –

und für Melanie, in Liebe

„Das Lied der Grammophonbäume“ und „Verlassenes Haus“ der Carmen gewidmet, es sind ihre Geschichten.

Das schweigende Haus

Die Alpträume kehrten zurück, noch ehe ich den Brief erhielt; drei Tage zuvor quälten mich die alten Bilder, die Schreie, die nie ganz verstummten, obwohl der Tod meines Mannes bereits Jahre zurücklag. Mehrmals hatte ich den Wohnsitz gewechselt, von Ectonville nach Lydford, dann Tavistock, dann Plymouth – es trieb mich nach Süden, weg vom Landsitz der Parrys, diesem hohlen Adelsgeschlecht, in das ich mit neunzehn eingeheiratet hatte, aus Liebe zu Paul; er war damals Narkosearzt am örtlichen Spital.

Mich schaudert es, an ihn zu denken: das blasse, von der Arbeit ausgezehrte Gesicht, die trockenen Lippen, mit denen er mich küsste, seine geröteten Augen, die später jeden meiner Schritte verfolgten.

Es war Abend, als Geoffrey mir den Umschlag ins Schlafzimmer brachte; blaue Tinte auf blauem Papier, ich ahnte schon, vom wem er stammte, doch im Zwielicht konnte ich den Absender nicht entziffern, und so entzündete ich eine Kerze, in deren Leuchter sich meine Hand und mein Gesicht spiegelten – weiß vor Schreck, als meine schlimmsten Befürchtungen sich erfüllten. Der Brief stammte von Pauls jüngster Schwester Eveline.

Ich schloss die Augen, keuchte; der Schweiß stand mir auf Stirn und Oberlippe.

*

Brief, Eveline Suther (geb. Parry) an Alice Parry

Ectonville, 14. Oktober 1896

Liebe Alice,

lang ist es her, dass wir beide ein Wort miteinander gewechselt haben. Soweit ich mich entsinne, begegneten wir uns das letzte Mal auf der Trauerfeier für Paul im Juni ’81, damals war ich noch das pausbäckige Mädchen, das Dir Dein Kleid mit Schlamm beschmutzte. Erinnerst Du Dich?

Ach, wie die Zeit vergeht. Vorletzten Sommer haben Jason Suther und ich geheiratet; wir haben eine Tochter, Lucy – ich soll Dir von beiden herzliche Grüße ausrichten!

Alice, wie kann ich Dir die entsetzlichen Geschehnisse der letzten Tage schonend beibringen? Du weißt ja, Parry Manor steht seit Jahren leer. So war es Dein Wille, und wir haben ihn respektiert. Leider ist das Gebäude in schlechtem Zustand, meine Familie – der du immer noch angehörst, egal, was zwischen meinen Eltern und Dir vorgefallen ist – konnte nicht die finanziellen Mittel aufbringen, das alte, verlassene Gemäuer so zu erhalten, wie es wohl nötig gewesen wäre. Rundheraus: die neuerlichen Herbststürme haben großen Schaden am Dach und dem Ostflügel angerichtet, einige der Fenster sind zersplittert. Außerdem haben Sturzbäche an manchen Stellen das Fundament unterspült und sogar einen Teil des Obstgartens mit in den See gerissen.

Alice, fass Dir bitte ein Herz, ehe Du die nächsten Zeilen liest. Es wurden Leichen gefunden – Dutzende Leichen von Männern und Frauen, und sogar Kinder waren darunter! Furchtbar, der Anblick der verwesten Skelette war kaum zu ertragen, ich erspare Dir die schaurigen Einzelheiten.

Constable Johnson und Murray, der alte Totengräber, haben sich der Sache angenommen und ausreichend Särge besorgt. Derzeit graben sie den Garten um und versuchen, die Toten zu bestimmen. Alice, sei bitte darauf vorbereitet, dass auch Pauls Leichnam unter ihnen sein könnte. Ich wage kaum an diese Möglichkeit zu denken, doch dann hätten wir alle zumindest endlich Gewissheit über sein ungeklärtes Schicksal.

Durch mich erbittet Constable Johnson Deine dringende Anwesenheit, er meint, vielleicht kennst Du Antworten auf seine brennendsten Fragen. All das duldet keinen Aufschub mehr, und so muss ich Dich bitten, liebe Alice, so schnell als möglich zu uns zu stoßen, um Dir selbst ein Bild von der prekären Lage zu machen. Ich hoffe, Du kannst etwas Licht ins Dunkel bringen. Hier in Ectonville stehen alle Beteiligten vor einem Rätsel. Bitte, beeile Dich!

In banger Erwartung

Eveline

*

Mein Schwindel nahm zu, je näher ich dem Haus kam – Eveline Suther bedächtig durch den Nieselregen folgend, den matschigen Pfad aufwärts zum verwilderten Grundstück. Meine Schuhe rutschten über Steine und Grasbüschel, und da ich fürchtete zu stürzen, hatte ich meine Augen fest auf den Boden geheftet, auch um mir den Anblick des Grundstücks noch zu ersparen, doch Pfützen spiegelten die Eingangstreppen, Steinsäulen und Fenster – und die Tür, halboffen wie ein Sarg, der umgestürzt im Schlamm liegt.

Dieses Bild stieg in mir auf, während ich schneller ging, um mich bei Eveline einzuhaken. Links der alte Buchenhain, in dem meine Gedanken meist Ruhe fanden, wenn ich mich zu sehr über Paul und seine Arbeit erregt hatte, und dahinter der See, von Weiden umstanden, die Wurzeln von Algen bedeckt; nussbraune Blätter auf dem Wasser.

»Dort drüben«, sagte Eveline und löste sich von mir, nahm ihren Schirm in die andere Hand. Schwerfällig stapfte sie einen Trampelpfad bergab, der rund ums Haus und in den Obstgarten führte; ihre Locken klebten nass auf den Schultern ihres Mantels.

Im Matsch erkannte ich die frischen Schuhabdrücke dreier Personen und tatsächlich: halb in einer Grube versunken, waren drei Männer damit beschäftigt, mit Schaufeln die Erde umzugraben. Sie hielten inne, als sie uns kommen sahen. Der Jüngste von ihnen, offensichtlich Evelines Gatte Jason, winkte zu uns herüber und rief: »Ihr könnt herkommen, Liebes, wir haben keine mehr gefunden!«

Ich zögerte und blieb, wo ich war, – unter einem Kirschbaum, dessen Äste schwarz über mir hingen; Regen tröpfelte von dort auf meine Pelzkappe, rann mir kalt an Wangen und Hals entlang. »Ich grüße Sie, Mister Suther«, rief ich zurück. »Und Sie müssen wohl Constable Johnson und Murray sein?«

»Ah, Misses Parry, gut, dass Sie endlich eingetroffen sind. Ich habe Fragen an Sie.« Johnson stützte sich auf den Stiel seiner Spitzhacke, hob seine Schirmmütze an. »Wollen Sie nicht näher treten, dann müssten wir nicht so schreien! Wie geht es Ihnen heute?«

»Den Umständen entsprechend«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. Für mich wurde es immer schwieriger, diesen Schwindel zu beherrschen; die Geräusche, ja die ganze Szenerie wirkte gedämpft, weit fort, und ich fühlte mich matt – die Muskeln schwach, schwer wie Blei. Ich keuchte.

»Soll ich Ihnen die Schäden zeigen?«, rief Jason Suther, aus der Grube steigend. Er zeigte ein aufmunterndes Lächeln, als er seine Gattin umarmte.

»Das mache ich schon«, antwortete Eveline und küsste seinen Bart, in dem der Regen glänzte.

Welch glückliches Paar, dachte ich bitter und spürte, wie sich meine Mundwinkel nach unten verzogen. »Danke, ihr Lieben, ich kann mir selbst ein Bild verschaffen.«

»Ist recht, Misses Parry.« Constable Johnson klopfte sich Dreck von den Knien, ehe er seine Hacke aufnahm. »Wenn Sie Fragen haben sollten, wissen Sie ja, wo Sie uns finden.«

Neue Erde flog mir entgegen.

*

Ich ging an der Grube vorbei, ohne hineinzublicken, runter zum See. Am Ufer setzte ich mich auf einen Stein und verfolgte, wie Wind und Regen die Oberfläche kräuselten – Tropfen, dann Kreise im Wasser. Meine Röcke waren klamm geworden, und ich fror und zitterte, als eisige Böen durch die Weiden jagten. Dennoch wich der Schwindel, und ich konnte freier atmen, Gerüche von Algen und Schlick in meiner Nase.

Langsam schloss ich die Augen, und meine Gedanken wanderten; und so ließ ich es zu, dass grausige Bilder wieder Gestalt annahmen, die ich schon lange verdrängt zu haben glaubte – ein Gefühl, als würde ich jählings in die Tiefe stürzen: Um mich herum verfinsterte sich alles, die Bäume, der See, das Haus zu meiner Rechten, bis alles in Nacht versank, mondlos, mit schwarzen Wolken am Himmel.

Ich höre ihn graben, hinter mir; das Scharren seiner Schaufel, die wieder und wieder ins Erdreich sticht, metallisch klirrend, wenn die Spitze auf Steine trifft. Er summt eine Melodie von Schubert; ich versuche, sie auszublenden, indem ich mich auf das Brausen des Windes konzentriere, doch es gelingt mir nicht – seine Stimme klingt in meinem Kopf, hallt nach wie der dumpfe Laut des Körpers, als er in der Grube aufschlägt. »Wenn du mir helfen würdest, Alice, wär es bereits getan!«

Meine Gedanken rasen; ich wage nicht, mich umzudrehen. »In meinem Rücken kannst du tun, was du nicht bleiben lassen kannst – helfen werde ich dir nicht.«

»Mein Engel«, ruft er, und mich schaudert, »warum willst du es nicht begreifen?« Ich höre, dass er näher kommt, seine festen Schritte im Gras. »Sprich mit mir, Alice.«

»Reicht es dir nicht, dass ich dulde, was du tust? Du kannst doch nicht noch mehr verlangen!«

Er ist heran gekommen, ich höre ihn keuchend atmen. »Lass mich«, schreie ich, als er seine eiskalten Finger auf –

Die Schwärze zerbrach, graues Tageslicht.

Ich starrte in Eveline Suthers Augen, eine Hand hatte sie mir auf die Schulter gelegt. »Was ist mit dir«, fragte sie mich besorgt. »Wir haben dich schreien gehört.«

»Ich, ich habe …«, stotterte ich.

»Geht es dir gut?« Eveline schaute mich an. »Beim Herrn, du zitterst am ganzen Leib.«

*

»Besser, wir bringen Sie in die Pension zurück«, schlug mir Jason Suther vor, nachdem Eveline mich zur Grube geführt hatte. »Bei diesem Wetter erkältet man sich leicht, Misses Parry. Sie müssen dringend Ihre Kleider wechseln.«

»Wo ist denn Ihr Regenschirm?« Constable Johnson grub weiter, ohne aufzusehen. »Haben Sie keinen, Misses Parry?« Selbst bei dieser belanglosen Frage war sein Tonfall forschend; ich sah weg.

»Misses Parry?«, wiederholte er.

»Ja doch«, zischte ich überreizt und strich mein Haar beiseite. »Hören Sie, bevor ich gehe, muss ich mir die Schäden im Haus ansehen – allein.«

»Das hat doch bis morgen Zeit, Misses Parry.« Erneut spürte ich Evelines Hand auf meiner Schulter.

»Es geht mir gut, glauben Sie mir.« Ich versuchte ein Lächeln, als ich mich umdrehte. »Nur scheinen mir hier draußen Schwimmhäute zu wachsen.«

Ein artiges Lachen; sie nickte. »Ja … das geht wohl jedem von uns so.«

»Es wird nicht lange dauern«, versprach ich und ließ die anderen stehen.

Von hinten hörte ich Jason Suther flüstern: »Scheint sie alles sehr mitzunehmen, einer von uns sollte in der Nähe von ihr bleiben.«

»Tun Sie das, Mister«, sagte der Constable halblaut, aber der Wind trug seine Worte herbei. »In einer Viertelstunde kommen wir nach.«

*

Rasch beschleunigte ich meine Schritte, an der Rückseite des Hauses entlang zum Ostflügel. Jedes zweite Fenster war zerbrochen, manche der Scherben steckten noch im Rahmen, andere lagen im Gras verstreut – es knackte laut, wenn ich gedankenverloren auf eine drauftrat. Ein Riss im Mauerwerk hatte meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, armlang und zwei Finger breit; haarfeine Verästelungen gingen von ihm ab wie Wurzeln.

Mir stockte der Atem; die Unwetter, die Regengüsse, mussten tatsächlich das Fundament unterspült haben, sodass ein Teil des Gebäudes abgesackt war. Wie war das möglich gewesen, der Keller lag tief. Und wenn innen – oh, nicht auszudenken!

Ich hastete weiter, rannte zur Stirnseite. Der Himmel über dem Anwesen strahlte jetzt in rostroten Tönen, das Grau war gewichen, und alles wirkte überhell, obwohl die Sonne verborgen blieb. Ich spürte die Tropfen kaum, die auf mein Gesicht nieselten, als ich an Säulen und Regentraufe vorbei zum Dach hochstarrte – geblendet vom Licht.

Etwas schien die Wolken wie ein Strudel zurückzuziehen, wobei die Front des Hauses mehr in den Vordergrund rückte; die Fenster, die Tür blähten sich auf, ich konnte sogar das Namensschild lesen: Parry Manor, die Buchstaben von gelben Flechten bedeckt. Und dann hörte ich sie wieder, die Schreie, die mich schon so lange in meinen dunkelsten Träumen heimsuchten.

Mir wurde übel, ich taumelte.

Die Beine sackten mir weg.

*

Wie lange ich im Schlamm auf den Knien gelegen hatte, weiß ich nicht mehr, wenige Sekunden vielleicht, doch wie aus tiefer Trance stand ich schließlich auf, ordnete meine Röcke, ehe ich die Stufen des Hauses empor stieg. Die Tür war nicht verschlossen, so öffnete ich sie und trat ein.

Leer – ein dunkler Flur, von Schatten durchzogen. Ich konnte die blassen Flecken auf der Tapete ausmachen, dort, wo unsere Gemälde gehangen hatten, Landschaftsbilder und Ruinen von Dartmoor. Seitlich die Umrisse zweier Türen, zum Salon, zur Küche; und am Ende die Wendeltreppe.

Nur langsam tastete ich mich an den Wänden entlang, setzte einen Fuß vor den anderen. Mein Atem ging schnell, ich keuchte. Noch drei Schritte, zwei, und ich hatte die erste Tür erreicht.

Ich öffnete sie.

Auch der Salon war leergeräumt, allein der Sekretär stand noch am Fenster; jemand hatte ein Laken drübergeworfen, dessen Saum sich im Luftzug wellte. Dort hatte Paul abends gesessen, stumm über seine Forschungspapiere gebeugt – Auswertungen, neue Versuchsreihen; bis tief in die Nacht bereitete er sich auf seine Arbeit im Laboratorium vor.

Widerstrebend trat ich näher. Im Schatten glaubte ich, seine gekrümmte Statur zu sehen, seinen Kittel, seine Schultern, sein sprödes Haar, das ihm auf den Rücken fiel.

Ich höre ihn atmen, keuchen; nein, unmöglich – das kann nicht sein.

Da bewegt sich etwas.

Er dreht sich um, und ich sehe seine Wangen, farblos, ausgehöhlt, sein Gesicht, seine Lippen, oh, diese furchtbaren Lippen! Und plötzlich die Schreie; sie dringen aus dem Boden, hallen durchs Zimmer – Schreie von Tieren, Menschen, die er vom Spital beschafft.

Paul steht auf; ich weiche vor ihm zurück. »Nein«, kreische ich, starr vor Schreck. »Wehe, du fasst mich an!«

Sitzt er dort, steht er vor mir? Lächelt er mich an? Seine dunklen Konturen verschwimmen, als er zu mir spricht: »Eine Welt ohne Schmerz, wäre das nicht herrlich, Alice?«

»Lass mich in Frieden damit!«

Ja – er lächelt; jetzt sehe ich es genau. Sein kaltes, blutleeres Lächeln. »Warum willst du es nicht verstehen, Alice? Keine Schmerzen zu haben, heißt, den Tod nicht länger zu fürchten.«

»Hohles Gerede! Dein moralischer Standpunkt hat sich verschoben«, antworte ich fest. »Du bist fanatisch geworden, Paul.«

Er hebt das Kinn, und sein Lächeln verblasst. »Rede nicht so altklug daher, ich muss es tun, ich muss! Wer könnte es denn sonst tun, außer mir?«

Alles Schatten – über mir, unter mir, um mich herum. Ich zwinge mich zurück zur Tür. »Ich höre sie schreien, Paul, Tag und Nacht. Du folterst sie zu Tode dort unten!«

Kommt er näher? Er kommt näher. »Wie sollte ich sonst lernen, den Schmerz zu begreifen?«

»An hilflosen Opfern, Paul?«

»An Alten, Schwachsinnigen«, brüllt er aus der Dunkelheit her. »Sie sterben für wahres Menschenheil.«

Ich kann nicht verhindern, dass ich auflache. »Was? Das ist also deine Philosophie? Ich werde dem Ganzen ein Ende setzen. Verlass dich darauf!«

»Komm zu mir, Alice, meine Liebe. Ich brauche dich; bitte, sei mir ein Halt.« Seine blutleeren Lippen, bleich im Schatten, seine Hand vorgestreckt.

Doch ich habe die Tür schon erreicht und stoße sie auf, um zur Küche zu laufen.

Oh Gott, diese Schreie!

Diese grausigen Schreie im Kopf!

*

Ich muss völlig außer mir gewesen sein, als mich Jason Suther im Hausflur fand, – wild schreiend; erst eine Ohrfeige brachte mich zur Besinnung. Ich brach in seinen Armen zusammen.

»Wem werden Sie ein Ende setzen, Misses Parry?«, fragte er mich. »Bitte, reden Sie mit mir!«

Ich packte seinen Arm, zerrte ihn zur Wendeltreppe. »Es ist dort im Keller. Holen Sie Constable Johnson und Kerzen.«

Wenig später stiegen wir die Stufen abwärts. Unten roch es nach Schimmel und Feuchtigkeit, der Geruch nahm zu, während wir dem Gang weiter folgten. Die Türe erschien im flackernden Licht.

»Dieser Raum steht halb unter Wasser«, erklärte der Constable, nach vorne deutend. »Was sollen wir dort bloß finden?«

Ich antwortete nicht. Stattdessen nahm ich Jason Suther die Fackel ab, die er von draußen mitgebracht hatte. Ich atmete tief durch, mein Geist war klar, dann öffnete ich die Tür und schaute in den Raum: Er war leer, sein Boden mit Schlammwasser bedeckt; ohne zu zögern, stieg ich drei Stufen abwärts und hinein.

»Was tun Sie, Misses Parry?«, rief Constable Johnson. »Das Wasser reicht Ihnen bis zum Knie.«

Da! Risse, die den Stein gesprengt hatten, auch an der Stelle, wo – Langsam hob ich meine Fackel an, um die Stirnwand abzuleuchten. »Sehen Sie das?«, fragte ich, ohne mich umzudrehen.

»Wo?«, fragte Jason Suther; er schien nervös. »Von hier erkenne ich nichts.«

»Warten Sie«, flüsterte ich und kämpfte mich durchs Wasser, zur Wand hinüber. Ich schloss die Augen und streckte die Hand vor. Meine Nägel griffen in den Spalt und lösten ein großes Stück Putz heraus, das glucksend im Wasser versank.

Ein Keuchen, ein Stöhnen, jetzt konnten sie den eingemauerten Leichnam sehen:

Es war Paul.

Die Wahrheit kam endlich ans Licht.

Seit diesem Tage sind meine Schreie verstummt. Parry Manor; man schrieb mir ins Gefängnis, es wurde abgerissen.

Das Uhrwerk

Der Schlüssel wog schwer in meiner Hand. Ich musterte seinen Schaft und den breiten Messingbart und mir fiel auf, dass feine Linien ins Metall geätzt worden waren.Im Dämmer meiner Schreibstube hatte ich diese Verzierung nicht weiter bemerkt,doch jetzt, wo ich bei Tag auf den Stufen zum herrschaftlichen Wohnsitz meines Onkels stand, schimmerten die Kreise und Arabesken wie gereinigtes Quecksilber. Eine kunstvolle Arbeit. Warum hatte sein Dienstbote mir den Schlüssel gebracht? Der beigelegte Brief – eigentlich war es nur ein verknickter Zettel gewesen – gab mir nur wenige Anhaltspunkte, weshalb Gustav von mir verlangte, ohne Umschweife zu seinem Landsitz hinauszufahren:

Lieber Cornelius,Weimar, 23.9.1874

es ist mir wirklich unangenehm, Dich mit einem dringlichen Aufruf behelligen zu müssen. Ich weiß, wie sehr Dich Deine medizinischen Studien zurzeit einspannen, aber widrige Umstände zwingen mich dazu, Dich unverzüglich zu mir zu bitten.

Gustav Berling

P.S.: Dreimal links, einmal rechts

Das klang ernst. Anderntags hatte ich meinen Koffer gepackt, war am Flügeltor aus der Kutsche gestiegen und den Kiespfad zum Herrenhaus hinaufgeschlendert, das mein Onkel, wie ich sah, arg verkommen ließ: Welker Efeu überrankte die Balkone der Oberetage, die unteren Erkerfenster, früher bunt schillernde Glaskunstwerke, wirkten trübe und schmutzig; außerdem bemerkte ich ein Loch im Dach, es fehlten mehrere Tonschindeln – dort kam der Holzgiebel durch.

Hatte Gustav etwa Schulden, dass er die Reparaturkosten nicht aufbringen konnte? Als Uhrmacher war er schon vor Langem in den Ruhestand getreten, mit einem stattlichen Vermögen, soweit mir bekannt. Merkwürdig, etwas stimmte hier nicht. Und was wollte er von mir?

Wir beide hatten längere Zeit kein Wort miteinander gesprochen – nicht, weil wir im Streit auseinander gegangen wären, es lag an meiner Doktorarbeit, die mich seit Monaten zum Einsiedlertum verdammte; alles, was ich in den letzten Wochen zu Gesicht bekommen hatte, waren Kolben, Bunsenbrenner, Chemikalien gewesen. Die einzige lebende Seele in meiner Nähe brachte mir täglich das Essen, meine Haushälterin Elise; andere soziale Kontakte vernachlässigte ich sträflich. So gesehen kam mir dieser ungeplante Besuch doch sehr gelegen. Etwas Abstand zu meinen Forschungen konnte ich dringend gebrauchen – drei Tage Urlaub, sofern mich mein Onkel mit offenen Armen empfing. Mehr aber nicht.

Die Fronttür war erwartungsgemäß abgeschlossen, und so schob ich den Messingschlüssel ins Schloss, drehte ihn zweimal im Uhrzeigersinn, bis ich mich der letzten Zeile des Briefes entsann und den Schlüssel wieder herauszog, um ihn erneut hineinzustecken. Dreimal links, einmal rechts – ein lautes, metallisches Knirschen drang zu mir durch, dann hörte ich einen Mechanismus anlaufen, offenbar Zahnräder, die ineinandergriffen, ehe die Türe wie von Geisterhand aufschwang. Vor mir befand sich die Eingangshalle, ein holzgetäfelter Boden, Vasen aus Porzellan, weiter hinten graue Gemälde im Schatten. Zögernd trat ich ein.

*

Drinnen war es totenstill, kein Ticken oder Klacken, kein Pendel, das schwang. Sofort fiel mir auf, dass die Standuhr fehlte – ein wahres Monstrum aus Gusseisen, mit barockem Gehäuse und einem Zifferblatt so groß wie ein Teller, Dutzende Zentner schwer. Warum hatte sie mein Onkel aus dem Haus geschafft? Möglicherweise an einen Sammler verkauft?

Eine leichte Unruhe befiel mich, während ich an der leeren Stelle vorbeischritt, wo sich die Silhouette der fehlenden Uhr auf der Tapete abzeichnete, ein heller, fast weißlicher Fleck; Jahrzehnte hatte sie dort gestanden, nun war sie plötzlich verschwunden.

»Gustav?«, rief ich halblaut, mich dem Rauchsalon nähernd. Ich stieß die Türe auf und ging am Piano vorbei zu den Lehnsesseln am Kamin. Das Feuer war nahezu ausgebrannt, nur blasse Zungen leckten über die knackenden Scheite. Tiefe Schatten, die Vorhänge waren zugezogen. Ich stellte den Koffer ab.

»Gut, dass du gekommen bist.« Der Tonfall seiner Stimme wirkte kraftlos, dumpf und kratzig und seltsam weit fort.

Und als ich den Sessel passierte, ihm die Hand reichen wollte, traf mich beinah der Schlag: Gustavs Kopf, sein Hals, seine Schultern waren dürr und eingefallen – Haut und Haare glänzten wächsern wie bei einer Spielzeugpuppe oder schlimmer: wie bei einer Leiche, die man einbalsamiert hatte. Ein Schauer kroch mir den Nacken herunter.

»Mein Gott, du bist schwerkrank. Hast du deinen Leibarzt konsultiert?« Aus diesem Grund hatte er mich also herbeigerufen, und das, obwohl er wusste, dass ich weder einen Doktortitel noch größere Berufserfahrung vorweisen konnte. Außerdem befassten sich meine Forschungen mit dem Zelltod, nicht mit der Heilung von Krankheiten. Ich ergriff seine Hände, sie waren eiskalt. »Wie ist dein Zustand, Onkel? Hat dich schon jemand untersucht?«

Mechanisch hob Gustav eine Hand und deutete auf den zweiten Sessel. »Bitte, setz dich.«

Er war kaum wiederzuerkennen. Sein Gesicht schien wie gelähmt, eine Maske – kein Muskel rührte sich unter der wächsernen Haut. Auch wenn ich auf diesem Gebiet kein Experte war, vermutete ich einen Schlaganfall oder ein schweres Leberleiden. »Du musst unverzüglich ins Spital. Wo ist dein Dienstbote Heinrich? Er soll dich –«

»Hör mir genau zu«, unterbrach er mich heiser. »Ich habe etwas Furchtbares getan, von dem ich dir beichten will, ehe es zu spät für uns ist. Bitte, es kostet mich Kraft, also unterbrich mich jetzt nicht.«

Ich zögerte, dann setzte ich mich, lehnte meinen Rücken ans Polster. »Na schön, was möchtest du mir erzählen?«

Schläfrig drehte Gustav den Kopf, betrachtete meine Brust mit glasigen Augen. Er schien unendlich müde; die Lippen bewegten sich kaum, während er sprach:

»Soweit ich zurückblicken kann, übten leblose Dinge eine weit größere Faszination auf dich aus als lebende. In deiner Kindheit hast du Schmetterlinge gejagt, um sie auf Kork zu spießen, seltene Steine gesammelt oder tote Hasen seziert. Du warst schon immer der Forscher und ich habe dein Talent unterstützt, auch weil ich mich in dir widerspiegeln konnte: Was für dich Muskeln und Sehnen, waren für mich Zahnräder und Metallfedern; mit Leidenschaft habe ich meine Uhren hergestellt, die mir ein bescheidenes Vermögen einbrachten.«

»Ja, Onkel.« Ich wusste nicht, was ich sonst antworten sollte. Worauf wollte er hinaus? Immer noch starrte er auf meine Brust, völlig unbewegt. Mir kam der schreckliche Gedanke, dass Gustav vielleicht bald sterben würde. War es das, was er mir im dramatischen Vortrag beibringen wollte: dass er unheilbar krank war? Soweit mir bekannt, hatte er die Siebzig längst überschritten.

Seine Halswirbel knackten, als er den Kopf zum Kamin drehte. »Lieber Cornelius, ich habe in den letzten Jahren viel Zeit alleine verbracht. Ava, meine zweite Frau ist mir, wie du ja weißt, durch diese furchtbare Schwindsucht unter den Händen weggestorben. Mein Sohn Karl wurde in der Schlacht bei Sedan erschossen. Und du warst mit deinen Forschungen beschäftigt. Als alter Mann fühlt man sich leicht einsam, kommt dann auf seltsame Ideen, gefährliche Vorhaben, denen man nachgeht, oder sollte ich besser sagen: denen man schnell verfällt. Ich habe viel gelesen in diesen Jahren, mich mit Sachen beschäftigt, die besser –«

»Worauf willst du hinaus?«, ging ich gereizt dazwischen. Geduld gehörte nicht zu meinen Stärken.

Doch Gustav fuhr einfach fort, als hätte er meine Frage überhört: »...interessierten mich Newtons astronomische Lehren, seine allumfassende Weltenmechanik, deren Teile – Planeten, Monde, aber auch der Mensch – nur als Zahnräder eines komplexen Räderwerks erscheinen. Der Kosmos als Maschine gedacht, deren Mechanismen festen Regeln folgen. Eine Weltenuhr, Cornelius. Verstehst du, was ich damit ausdrücken will?«

»Nein«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. Auf Gustavs Wangen bemerkte ich ein rotes, fiebriges Glühen, das aber auch vom Feuerschein herrühren konnte. Ich räusperte mich. »Wir –«

»Mit dem geeigneten Wissen und Werkzeug kann man also jeden Zustand der Weltenmaschine ermitteln, in der Gegenwart, aber auch in Vergangenheit und Zukunft. Man kann seinen eigenen Tod betrachten.«

Irgendwo klackte es mechanisch. Ich horchte nach dem Ursprung des Geräuschs. Nichts. »Du hast Fieber, Gustav, du delirierst. Wir sollten dich schleunigst zu Bett bringen.«

Anstatt zu antworten, hob Gustav die Arme, die er matt auf beiden Lehnen niederlegte. »Newton war Okkultist, wusstest du das? Sein Gravitationsgesetz hat ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben. Und: Er verstand das Universum als eine vom Allmächtigen entworfene Geheimlehre. Das Rätsel, so glaubte er, würde sich dem Initiierten durch reine Geisteskraft offenbaren. Ich konnte mir eine Abschrift seiner obskuren Schriften über Alchemie und Mystik beschaffen. Dann habe ich weitergeforscht. Und es ist mir tatsächlich gelungen, eine Apparatur nach kosmischem Vorbild zu entwerfen, zu bauen und in Gang zu setzen. Aber mir wurde kein Blick in die Zukunft geschenkt ...«

Er machteeine längere Pause. Das Feuer prasselte. »Nein, diese Maschine hatte eine andere Wirkung, eine gänzlich fatale, die ich nicht mehr abwenden kann: Das Jüngste Gericht wurde eingeleitet. Das Reich der Toten steht offen.«

Was sollte ich darauf erwidern? Selbstverständlich waren seine Worte lächerlich, ein hanebüchener Unsinn, den er im Fieberwahn daherfaselte. Aber ich wollte ihn nicht aufregen, das wäre Gift für seinen jetzigen Zustand gewesen. Sein Zustand war besorgniserregend – so ausgemergelt und kränklich er in seinem Sessel kauerte, die leblosen Augen starr aufs Feuer gerichtet.

»Lieber Onkel«, begann ich, doch wieder kam ich nicht dazu, meinen Satz zu beenden. Ich hörte ein metallisches Knirschen.

»Natürlich glaubst du mir nicht, hältst alles für das Geschwafel eines senilen Mannes. Also tu mir einen Gefallen: Bleib bis zur Dämmerung im Haus. Untersuche die Räume, die Kammer der Uhren, meine Werkstatt, und du wirst feststellen, dass hier vieles nicht mehr mit rechten Dingen zugeht. Es gibt ... seltsame Erscheinungen, grauenhafte Bilder, die –« Gustav brach ab. Wieder ein Klacken, das offenbar unter dem Teppich hervordrang.

»Gut, ich werde bleiben«, sagte ich und stand auf. »Man kann dich ohnehin nicht –«

»Lass mich allein. Erst am Abend erwarte ich dich zurück.« Dann schloss er die Augen und rührte sich nicht mehr.

*

Noch gut zwei Stunden, bevor es dämmern würde. Draußen hatte das Licht bereits nachgelassen und ein gräulicher Schleier lag auf den Möbeln der Eingangshalle, die ich durchschritt, um mir die Uhrensammlung im Obergeschoss genauer anzusehen. Es behagte mir nicht, Gustav unten im Rauchsalon alleine zu lassen, andererseits schien er dringend Schlaf zu brauchen. Sollte er sich etwas ausruhen – denn ich hatte mir fest vorgenommen, ihn gleich am nächsten Morgen in ein Spital einzuweisen.

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