Kitabı oku: «Das Drama des Anthropozäns»

Yazı tipi:

Frank-M. Raddatz

Das Drama des Anthropozäns

Mit einem Gespräch mit

Antje Boetius und Hans-Jörg Rheinberger


Inhalt

Literatur

Anthropozäne Kartografierungen

Literatur

Biografie

Die Frage, warum ausgerechnet das Theater, das sich gerne als Seismograf preist, als mit unzähligen feinen Antennen ausgestattete, stets auf der Höhe der Zeit agierende Apparatur, mit dem Themenfeld der ökologischen Krise(n) seine Schwierigkeiten hat, ist leicht zu beantworten. Der Kosmos, den die Bühne eröffnet, ist vornehmlich sozialer Natur. Menschen geraten in – wodurch auch immer bedingten – Konflikten aneinander und verkörpern zugleich die mitunter tragische oder zwiespältige, jedenfalls zumeist nicht für alle Beteiligten gleichermaßen glückliche Lösung des Problems. Genau diese anthropozentrische Lesart der Welt steht in der Ära des Anthropozäns zur Disposition.

Das Argument ist von einem stofflichen Ansatz zu unterscheiden, wie ihn etwa der Theaterregisseur Tobias Rausch vorbringt, der bezweifelt, dass sich „Naturphänomene wie zum Beispiel das Artensterben oder Fluten, Dürren und Stürme zum bühnentauglichen Stoff machen“ (2019) lassen. Dem widerspricht, dass komplexe Geschehen wie Kriege seit Jahrtausenden von Aischylos, über Christoper Marlowe bis zu Heinrich von Kleist oder Bertolt Brecht dem Theaterspiel als Sauerteig dienen, ohne dass sich ein derartiger Inhalt abnutzt. Zudem besaß das antike Theater durchaus, wie das Tragödienmodell König Ödipus zeigt, die Möglichkeit, Erdbeben oder Pestausbrüche auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen, mithin zu subjektivieren. Zwar sind auch heute, wie der Name des anbrechenden Zeitalters besagt, die Verursacher des Anthropozäns in den Reihen der Hominiden zu suchen. Doch existiert momentan noch keine überzeugende theatrale Grammatik, die in Bewegung geratenen planetarischen Parameter – wie die Erderwärmung, den anhaltenden Verlust von Biodiversität, die schmelzenden Polkappen – in dramatische Kontexte zurückzubinden und als Folge von Handlungen bestimmter Figurengruppen darzustellen beziehungsweise in einzelnen psychischen Segmenten der Conditio humana festzumachen. Tektonische Verschiebungen auf dem Kontinent des Wissens bedingen, dass sich im Moment kaum ein Bogen von Euripides’ Tragödien, Shakespeares Königsdramen, den Trauerspielen des 18. Jahrhunderts, dem bürgerlichen und sozialistischen Realismus oder dem Epischen Theater zu dem sich verdunkelnden Zeithorizont schlagen lässt, an dem Mächte ihre Regentschaft ankündigen, die vom über zehntausend Jahre herrschenden holozänen Klimaregime aus betrachtet vollkommen unberechenbar erscheinen. Wie Ödipus ist James Watt, als er 1783 das Rätsel der Optimierung der Dampfmaschine löste und das Tor zum Industriezeitalter mit seinem unersättlichen Hunger nach Kohle und fossilen Energieträgern aufstieß, vollkommen unschuldig dem Schicksal auf den Leim gegangen. Wie die antike Tragödie wird auch das Anthropozän von einer „Dramaturgie der Blindheit“ (Foucault 2020: 45) orchestriert. Als eine keineswegs intendierte Folge löst die schottische Erfindung eine katastrophale Entwicklung aus, sodass aufgrund dieses von Aristoteles’ Tragödientheorie hamartia genannten Fehlers die gesamte menschliche Spezies wenige Generationen später irreversibel aus dem holozänen Zeitfenster gestoßen wird.

Aber man muss nicht auf die Antike rekurrieren, um hybride, aus Mensch und Geologie zusammengesetzte Konstruktionen, auf der Bühne zu entdecken. So findet sich in der neuzeitlichen Dramatik an äußerst prominenter Stelle platziert eine anthropogen induzierte Naturkatastrophe. Ein Sturm bespielt das erste Bild von William Shakespeares gleichnamigem Drama. Auch wenn Klaus Theweleit darauf hinweist, dass The Tempest jeder „Glaube an die Erfaßbarkeit […] durch lückenlose Datenerhebung“ (Theweleit 2020: 195 f.) abgeht, glaubt Rausch, dass die in Bewegung geratenen ökologischen Parameter „ein viel zu abstrakter, nur über statistische Häufungen und naturwissenschaftliche Vermittlungen zu beschreibender Gegenstand [seien], um ihn szenisch anschaulich zu erzählen“. Jede kompetente Beschreibung einer alarmierenden Entwicklung stellt auf der Bühne nichts anderes als einen Botenbericht dar, ganz gleich, ob er von den Schlachtfeldern der Geschichte oder aus der Welt der Wissenschaft stammt. Allerdings verzeichnen die Bühnen gegenwärtig nicht einmal ein vermehrtes Aufkommen von szientifisch grundierten Kassandra-Figuren. Ebenso wenig kann Rauschs Befund: „Eigentlich fehlt alles, was in Begriffen des Theaters als ‚Vorgang‘, ‚Konflikt‘ oder ‚Zuspitzung‘ zu beschreiben wäre“ angesichts der theatergeschichtlichen wie der empirischen Faktenlage zugestimmt werden. Wenn auch (noch) nicht auf der Theaterbühne, geraten die politischen Akteure doch nahezu tagtäglich bei der Debatte aneinander, wie ökologische Zielsetzungen mit ökonomischen Interessen korreliert werden sollen oder können. Dass diese Konfrontationen über kurz oder lang an Schärfe zunehmen dürften, scheint absehbar. Auch eine damit verbundene politische Kontinentaldrift rückt immer stärker in den Bereich des Möglichen. Die Klimakatastrophe impliziert Konflikte von historischen Ausmaßen, welche die nächsten Generationen beschäftigen werden. Was heute emittiert wird, existiert noch in mehr als 120 Jahren, da es sich bei der Atmosphäre genauso wie beim Ozean um Speichermedien handelt, sodass die heute angestoßenen Transformationsprozesse Jahrhunderte in Anspruch nehmen werden. Evident geht mit dem anthropozänen Klimaregime ein neues Zeitregime einher, in dem sich die anthropozentrischen Skalierungen als inadäquat gegenüber den realen ökologischen Prozessen erweisen.

Mag sich momentan auf der Ebene des Erscheinungsbilds noch nicht allzu viel geändert haben und lässt sich ein geschmolzenes Stück Arktis wohl kartieren, aber nicht betrachten, so handelt es sich überdies bei den anthropozänen Problemstellungen mitnichten um Fragen sinnlicher Evidenz. Diese Schwachstelle jedes Dokumentartheaters basiert auf der unumstößlichen Tatsache, dass der Augenschein seit dem 17. Jahrhundert, seit den Analysen von Astronomen und Physikern wie zum Beispiel Nikolaus Kopernikus, Giordano Bruno, Galileo Galilei, längst nicht mehr die Basis des Weltverständnisses ist. Bereits 1931 konstatierte Brecht das Ende des Abbildungsrealismus: „Eine Photographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute“ (Brecht 1967: 161). Dessen Renaissance resultiert aus dem Umstand, dass das Projekt Geschichte im 20. Jahrhundert an den Sandbänken einer breiten oder unendlichen Gegenwart strandete, die aber erweist sich mit dem Anthropozän als Phase eines historischen Übergangs.

Im Anthropozän zeigt sich aufgrund von Simulationen, Messungen und Skalierungen der Wissenschaften, dass die Wetterereignisse nicht länger holozänen Charakter besitzen, sondern durch menschliche Aktivitäten hervorgerufen werden und/oder sich verstärken. Nicht die Phänomene haben sich verändert, sondern die Kausalitäten. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass ein Unwetter nicht mehr der Immanenz der Erdgeschichte entspringt, sondern aus der Kreuzung der geologischen Entwicklung mit den Aktivitäten der erfinderischen menschlichen Spezies hervorgeht. Diese Überschneidung der bislang unabhängig voneinander verlaufenden Vektoren macht, so Dipesh Chakrabarty, das Singuläre der heutigen Situation aus, wobei sich sogenannte untypische Phänomene signifikant häufen.

Zeigt sich das Anthropozän den Theatertieren als Black Box, resultiert dieser Umstand aus der Tatsache, dass nicht länger wie im herkömmlichen Drama der Mensch dem Menschen handelnd Grenzen setzt. Vielmehr bekommt es diese Primatenart im Anthropozän mit einem Amalgam aus geologischen Kräften und einer Entfaltung der in der Wissenschaftsgeschichte gespeicherten Potenzen zu tun. Im seit mehr als 11 000 Jahren andauernden holozänen Klimaregime waren die Rahmenbedingungen stabil, konnten sich Hochkulturen und Zivilisationen entwickeln, Aufschreibesysteme und Wissenschaften entworfen werden. Heute tritt eine anthropogen getriggerte Natur ihre Herrschaft an. In immer kürzeren Abständen muss die im Global Village ansässige digitale Moderne erfahren, dass ihre Immanenz von einem naturwissenschaftlich verifizierbaren Außen perforiert wird, welches nach Ansicht der Theoretiker der Postmoderne, die bis vor Kurzen das Sagen hatten, nicht einmal existiert. Epistemologisch können die Präsenzen der in Bewegung geratenen Sphären kaum mehr als Objekte gefasst werden. Vielmehr haben sie den Status eines Aktanten oder Quasi-Subjekts inne. Wie diese bislang unbekannte Art von Protagonisten in Szene zu setzen ist, gibt der Bühne momentan Rätsel auf. Zwar tragen die planetaren Kräfte seit der Initiative von Lynn Margulis und James Lovelock den griechischen Namen Gaia. Allerdings kommt diese Quasi-Göttin bislang in der jahrtausendealten Theaterliteratur zumindest nicht namentlich als Protagonist vor, sieht man einmal von dem lange überfälligen Godot ab, der offenbar gerade seine wirkliche Identität zu erkennen gibt. Im Märchen hilft es mitunter, den wahren Namen des Gegenübers zu kennen. Warum nicht auch bei Kartografierungen im Bereich des Theaters? Für die (Theater-) Kunst, die nicht ist, wenn sie sich nicht – in welchem Kontext auch immer – mit der Realität ihrer Gegenwart konfrontiert, geht es in diesem Fall ums Ganze. „Das Konzept des Anthropozäns enthält die spontanen minima moralia des gegenwärtigen Zeitalters: Es impliziert die Sorge um die Kohabitation der Erdenbürger in humaner wie nicht-humaner Gestalt“, fasst Peter Sloterdijk (2016: 42 f.) zusammen, was die Stunde geschlagen hat. Langfristig dürfte die Zukunft des Homo sapiens, einer Gattung, die biologisch zu der Familie der Menschenaffen zählt, von der Kooperation mit den nicht-menschlichen Spezies, Organismen und Landschaftsformationen abhängen.

Auch wenn sich Arbeitnehmerorganisationen und Konzernleitungen hartnäckig dagegen sträuben: Jetzt heißt es nicht nur auf den Theaterschiffen „Umsteuern!“, selbst wenn noch nicht ganz klar ist, was alles auf dem Spiel steht und wohin die Reise geht. Aber dass Gewohntes den Bach runtergehen wird, darf als sicher angenommen werden. Ebenso gilt es, sich schleunigst von Gewissheiten und Koordinaten des 20. Jahrhunderts zu verabschieden. Auf keinen Fall kann das Theater es sich leisten, den Beginn jener gewaltigen kulturellen Transformation zu verschlafen, die mit dem Anthropozän einhergeht. Die kulturelle Neuordnung wird allein durch die unhintergehbare Tatsache, dass das Klima wie die Weltmeere nicht an den nationalen Grenzen Halt macht, die globale Zukunft bestimmen.

Wo aber soll oder kann das Theater ansetzen, um diesen einsetzenden, unbedingt geschichtsmächtigen Transformationsprozess zu flankieren oder sogar voranzutreiben? Nachdem der Kosmos der Metamorphose in prähistorischer Zeit verlassen wurde, der Theatergott Dionysos nicht länger zwischen animalischer und menschlicher Gestalt changiert, der Beitrag nichtmenschlicher Mächte zu Wahrheitsoperationen eliminiert wurden, verweigern aktuell Elementargewalten wie das Klimabeben oder die Klimapest ihre Übertragung in theateraffine Ordnungen. Die Blockade wird offenbar dadurch ausgelöst, dass das Theater mit dem neuen Klimaregime ein Jenseits des Anthropozentrismus betritt, in dem nicht mehr die gleichen Regeln und Maßstäbe gelten wie in der holozänen Periode, als der Mensch zumindest temporär das Maß aller Dinge zu verkörpern schien. Zwar ließe sich die anthropozentrische Illusion noch eine Weile aufrecht erhalten, indem das Anthropozän programmatisch durch das Kapitalozän ersetzt wird. Allerdings wird diese bereits von Bertolt Brecht vorgenommene Besetzung der Rolle der bösen Buben mit der Profitgier nicht ausreichen, die nötigen Transformationen einzuleiten, um die dynamisierten Sphären zu beruhigen. Anstatt den Homo oeconomicus für das ökologische Desaster verantwortlich zu machen, wäre im öffentlichen Raum zu diskutieren, inwieweit ihm überhaupt Zurechnungsfähigkeit attestiert werden kann.

Vielleicht kann das Theater ohnehin nicht mehr leisten, als die Analysen der Erdsystemkunde zu repetieren. Solange es die Prognosen und Tatbestände nicht in Szene setzen kann, bleibt ihm nur, mit den Händen in der Hosentasche an der Seite zu stehen und zuzuschauen, wie mehr oder minder verzweifelte Wissenschaftler versuchen, eine abgestumpfte Öffentlichkeit wachzurütteln. Für das Theater kommt es darauf an, statt mit Ignoranz zu reagieren oder das Ende vom Lied zu pfeifen, unter anthropozänen Bedingungen den Kreis auszuschreiten, der mit der humanen Existenzform gegeben ist.


Baptiste Morizot beruft sich in seiner Philosophie der Wildnis auf den französischen Anthropologen Philippe Descola, um die herrschende Weltauffassung als die „unfreundlichste Kosmologie“ (Morizot 2020: 8) einzustufen. Einen weitaus glücklicher gestimmten Gegenentwurf bietet, so Claude Lévi-Strauss, der Mythos an, den diese Gallionsfigur des Strukturalismus mit der indigenen Bevölkerung Amerikas eine „Geschichte aus jener Zeit“ nennt, „als die Menschen und die Tiere noch nicht voneinander geschieden waren“ (Lévi-Strauss nach Morizot 2020: 16). Dem überragenden Ethnologen des 20. Jahrhunderts scheint unter dieser Prämisse

keine Situation tragischer, verletzender für Herz und Geist als die einer Menschheit, die mit anderen, auf ein und derselben Erde lebenden Gattungen koexistiert, […] und mit denen sie nicht kommunizieren kann. Man begreift, daß die Mythen es ablehnen, diesen Makel der Schöpfung für angestammt zu halten; daß sie in seinem Auftreten vielmehr das Ur-Ereignis der Entstehung eines „Wesens“ des Menschen und seiner Hinfälligkeit erblicken (Lévi-Strauss 2019: 201).

Der Mensch und seine Spaltung – zugleich Angehöriger einer biologischen Spezies zu sein, welcher sich die Natur als etwas Externes darstellt – gehen aus diesem anthropologischen Bruch hervor. Diesen Abgrund versucht der Mythos auf symbolischer Ebene zu heilen beziehungsweise zu überbrücken, während ihn der Monotheismus befestigt und vertieft.

Durch die Verwendung des Attributs „tragisch“ legt Lévi-Strauss eine Spur zum Theater und dessen Glücksversprechen. In Die Bakchen führt Theatergott Dionysos als Stier einen Dialog mit dem thebanischen König Pentheus, wie auch von der rätselaufgebenden Sphinx berichtet wird, dass sie problemlos mit dem Wanderer Ödipus in einen tödlichen Disput kommt, ohne dass Sophokles allerdings diesen Dialog fixiert hätte. Jenen kommunikativen oder anthropologischen Bruch revozieren auch die hybriden Satyrn, Mischwesen aus Mensch und Tier, die bei den alljährlichen Dionysien in Athen nicht fehlen dürfen. Das Theater hatte es sich in seinen Anfängen zur Aufgabe gemacht, den Riss zu heilen, der zwischen Mensch und Tier sowie zwischen dem Menschen und seiner eigenen Tierhaftigkeit verläuft. Nach dem Tod der Tragödie gerät diese Funktion aus dem Blick, sodass Heiner Müller in den 1980er Jahren einen Bogen zwischen dem „Auszug aus der Tierwelt“ (Müller Werke 8: 268) und jenen annihilierenden Aktivitäten schlagen kann, die auf die „Zerstörung des Planeten“ (ebd.) zielen, welche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vornehmlich, aber nicht nur, im Kontext militärischer Konfrontationen diskutiert wurden. Die anthropologische Fraktur gebiert in dieser Logik ein Paradox: Die Emanzipation von evolutionären Bindungen mündet in eine unfreundliche Kosmologie, die nach Heilungsversuchen im Bannkreis der Tragödie in eine zerstörerische, zur Auslöschung ihres ökologischen Apriori neigende wie ihre Mitwelt negierende Zivilisation führt.

Nach dem Scheitern des geschichtlichen Projekts im 20. Jahrhundert, das davon ausging, dass allein durch Umstrukturierung des ökonomischen Bereichs die geschichtlichen Verhältnisse grundlegend revidierbar wären, wirft die anthropozäne Bedrohungslage grundsätzliche anthropologische Fragestellungen auf. Ihnen muss sich die Bühne stellen. Diese Situation erfordert aber, wie der Rekurs auf die Tragödie zeigte, dass das Theater in diesem Kontext Singuläres einzubringen hat. Nicht in der Dauerfokussierung auf das soziale Feld, sondern in dessen Erweiterung besteht die Kernaufgabe des 21. Jahrhunderts. Postuliert Nicolas Bourriaud die Erzeugung von sozialem Kitt, da die relationale Kunst Begegnungen zwischen Menschen ermöglicht, trägt eine anthropozäne Bühne in doppelter Weise zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei. So kann die Aktivität jeder Bühne, die in irgendeiner Form vermittelt, dass es sich bei Natur um kein Luxusgut, sondern um das Apriori von jeglicher Form der Zivilisation handelt, als Intervention gelesen werden, den Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie zu beruhigen. Ein Konflikt, der falls eine Transformation hinsichtlich unserer Haltung gegenüber dem Erdplaneten blockiert bleibt, über kurz oder lang die Gesellschaft zerreißen wird. Desweiteren geht es im Sinne der Parole Donna J. Haraways: „Macht euch verwandt!“ (Haraway 2018: 15) darum, Brücken zwischen dem Homo sapiens und den nichtmenschlichen Akteuren zu bauen, was für die Kunst heißt, Annäherungen zu ermöglichen. Dabei rückt jenes von Morizot extrahierte Wissen ins Zentrum der Bühne, „dass wir in allererster Linie Lebewesen sind und erst dann Menschen. Ein Lebewesen, das das Gemeinsame im Unterschiedlichen sucht, die Schnittmenge, anhand derer sich unsere besondere Animalität erst bestimmen lässt: unsere menschliche Art und Weise, Lebewesen zu sein“ (Morizot 2020: 82 f.). Diese Umwertung der Werte intendiert einen radikalen Haltungswechsel. An die Stelle der Illusion einer Autonomie unserer Gattung muss eine symbiotische Praxis gegenüber dem undurchschauten und hochkomplexen Geschehen auf dem Planeten und seiner Bewohner treten. Dafür aber ist das Theater künstlerisch prädestiniert. Seit jeher destruiert dieses Medium Verkennungen und Verblendungen, verhandelt das Menschenbild seiner Epoche. Im Licht des Anthropozäns sieht es sich vor die historische Herausforderung gestellt, die ontologischen Grenzen und Hierarchien zu revidieren, die das Zoon politikon gegenüber den eigenen wie den anderen Exponenten des Bios errichtet hat. Universalgeschichte, für die Heiner Müller als Ausweg aus der anthropologischen Sackgasse plädiert, kann vor diesem Horizont nur heißen, eine planetarische Kultur zu begründen. Zu ihren vorrangigen Eigenschaften gehört die globale Anstrengung, die Erderwärmung zu regulieren, macht das Klima doch bekanntlich nicht an den nationalen Grenzen Halt, und neben den Angehörigen unserer eigenen Art Tiere, Pflanzen, Landschaften als unverzichtbare Partner auf Augenhöhe anzuerkennen.


Versandete das Projekt Geschichte im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, setzte es überraschend und unter vollkommen veränderten Bedingungen nur wenige Wochen nach der Jahrtausendwende im Februar 2000 in Cuernavaca, Mexiko, erneut ein. Der 1995 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Atmosphärenchemiker Paul Crutzen startete ein mehrere Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende umfassendes historisches Projekt, als er bei der Jahrestagung des International Geosphere-Biosphere Programme zwar nicht mit dem Schuh, aber mit dem geologischen Fußabdruck des Menschen auf den Tisch haute und den Begriff des Anthropozäns in die erdgeschichtliche Debatte einführte. Damit fand nicht nur der Ringkampf, in dem die Postmoderne die Moderne in einen anhaltenden Würgegriff nahm, ein abruptes Ende, sondern schlug die Todesglocke für das seit bald 12 000 Jahren für Stabilität sorgende Holozän. Neun Jahre später veröffentlichte Dipesh Chakrabarty mit The Climate of History seine Thesen zu der Kreuzung von Menschen- und Naturgeschichte. Bruno Latour resümierte 2015 in Kampf um Gaia: Jetzt „kommt Geschichte wieder in Gang“ (Latour 2017: 250), denn schließlich „führt das Anthropozän die Geschichte wieder zurück in das Zentrum der Aufmerksamkeit“ (238). Selbst die begrifflichen Alternativen, die für den naturwissenschaftlich grundierten Terminus Anthropozän vorgeschlagen werden, liest er als Evidenz der

Wiederkehr der Geschichte […]: das „Anglozän“ (der Beitrag Englands und der Vereinigten Staaten am CO2-Ausstoß ist immer noch höher als der der Schwellenländer); das „Kapitalozän“ (Jason Moore, Capitalism in the Web of Life: Ecology and the Accumulation of Capital [2015]), nicht zu vergessen das entzückende „Chthuluzän“, das Donna Haraway in Staying with the Trouble (2016) vorschlägt. (ebd.: Fußnote 78)

Den verschiedenen Theoriebildungen mit unterschiedlichen Akzentuierungen ist gemein, dass sie begrifflich versuchen, ein zu großen Teilen noch unausgelotetes geschichtliches Phänomen zu fassen: Soll die Spezies langfristig überleben, muss ihre Existenzweise mit dem Habitat korreliert werden, welches die Erde ihren Bewohnern gewährt. Der Modus, in dem Geschichte reaktualisiert wird, differiert insofern grundlegend von früheren Entwürfen, als dass der Eintritt in das planetarische Zeitalter davon bestimmt sein wird, Technologien und Formen des Wissens zu entwickeln, die mit den ökologischen Sphären kompatibel sind, anstatt sie weiter zu destabilisieren. Die Erde beziehungsweise der Zielhorizont einer Bewahrung des bereits in Auflösung befindlichen holozänen Zustands löst als absoluter Referent religiöse oder geschichtsphilosophische Entwürfe ab, die mit utopischen oder metaphysischen Überschüssen in Form eines zu erreichenden Telos operierten: „In diesem Sinne ist GAIA ebensowenig ein Produkt des Zufalls wie der Notwendigkeit. Was bedeutet, daß sie sehr dem ähnelt, was wir schließlich als die Geschichte selbst wahrnehmen“ (187). Auch wenn die Menschheit an den Entwicklungen, die zum Holozän führten, keinen Anteil hat, handelt es sich aus Sicht sämtlicher Hochkulturen und Zivilisationen um ein erdgeschichtliches Apriori. Koordinaten wie der Erdplanet, die Geologie, die Evolution, die Entwicklung und der Zusammenhang der ökologischen Sphären und der historische Prozess mitsamt seinen Kulturräumen, Erfindungen, Kulturtechniken und Speicherformaten bilden im Anthropozän ein zusammenhängendes Feld, das zukunftsfähige Perspektivierungen samt einem umfassenden Paradigmenwechsel fordert.

Ganz oben auf der kulturgeschichtlichen Agenda steht, auch wenn das im Bewusstsein vieler politischer Akteure noch nicht angekommen ist, die Verabschiedung anthropozentrischer Positionen. So werden beispielsweise Skalierungen notwendig, die weit über die im Bereich der menschlichen Geschichte verwandten Maße hinausgehen. Bereits Walter Benjamin hat im letzten Abschnitt seiner Thesen Über den Begriff der Geschichte aus dem Jahr 1940 auf die enorme Diskrepanz zwischen kosmologischer und historischer Zeit verwiesen:

„Die kümmerlichen fünf Jahrzehntausende des homo sapiens“, sagt ein neuerer Biologe, „stellen im Verhältnis zur Geschichte des organischen Lebens auf der Erde etwas wie zwei Sekunden am Schluß eines Tages von vierundzwanzig Stunden dar. Die Geschichte der zivilisierten Menschheit vollends würde, in diesen Maßstab eingetragen, ein Fünftel der letzten Sekunde der letzten Stunde füllen.“ (Benjamin 1974: 703)

Obwohl heute das Alter des Sapiens etwa fünf Mal so lang, auf etwa 250 000 Jahre, angesetzt wird, tritt die Diskrepanz zwischen den zeitlichen Maßgaben der Biosphäre und den Zeit- und Operationshorizonten unserer Spezies deutlich hervor. Benjamin versucht den fehlenden Vermittler zwischen den Skalierungen mit einem Rückgriff auf theologische Motive zu überbrücken: „Die Jetztzeit, die als Modell der messianischen in einer ungeheueren Abbreviatur die Geschichte der ganzen Menschheit zusammenfaßt, fällt haarscharf mit der Figur zusammen, die die Geschichte der Menschheit im Universum macht“ (ebd.). Eine metaphysisch konnotierte Verlegenheitslösung, die gegen die Intention ihres Verfassers veranschaulicht, dass sich ein planetar fundamentierter Geschichtsbegriff im Gegenteil gerade nicht anthropozentrisch begründen lässt.

Angesichts der kosmologischen Skalierung steht die Bühne vor dem Problem, Perspektivierungen zu veranschaulichen, die das Zeitregime seiner menschlichen Protagonisten irreversibel sprengen und relativieren. Das Theater hat den anthropozentrischen Bannkreis bereits in der Spätmoderne überschritten. In Heiner Müllers post-revolutionärem Drama Der Auftrag (1979) gewinnt die Divergenz unterschiedlicher Zeiten mittels des Relais der Landschaft, „die keine andre Arbeit hat als auf das Verschwinden des Menschen zu warten“ (Müller Werke 5: 33), eine prägnante Kontur. Die Menschheitsgeschichte stellt nunmehr nur eine Momentaufnahme in dem kosmologischen Zusammenhang der „Big History“ (David Christian) dar, in der das Leben auch ohne menschliche Zuschauer oder Akteure weiter prozessieren wird.


Bereits in den 1960er Jahren rückte Müllers Produktionsstück Der Bau die kosmologischen Grenzen des Geschichtsbegriffs in den Blick. Ist der Horizont des Kommunismus für Brecht noch unhintergehbar, wissen Müllers Protagonisten, dass er nur eine temporäre Phase der Tiefenzeit darstellt:

Und morgen ist wieder ein Tag und übermorgen, ein Tag kraucht dem andern nach, ein Jahr stürzt ins andre und keine Uhr, die rückwärts geht, Zeit. […], einmal schlingt sie uns doch, sie scheißt auf vorn und hinten, morgen ist ihr gestern heute schon, weiß schwarz, in zehn Milliarden Jahren platzt sie selber, die Zeit hat bessre Zähne. (Müller Werke 3: 374 f.)

Die auf Arbeit basierte Geschichte besitzt als Instrument der Sinnstiftung nur bedingten Charakter. Ab Mitte der 1970er Jahre wird in dieser Logik die Landschaft zu einer der Geschichte opponierenden Kategorie der Müller’schen Imagerie. Der Anblick eines postindustriellen Settings löst während einer Amerikareise eine Art Epiphanie aus:

Meine Grunderfahrung in den USA war die Landschaft, zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich ein Gefühl für Landschaft, für den Raum. Die eigentliche amerikanische Dimension ist ja nicht die Zeit, sondern der Raum. Wir sind ziemlich weit durchs ganze Land gekommen: Kalifornien, New Mexico, Arizona, Nevada, Mississippi. Eine Dampferfahrt ins Mississippi-Delta, verrottete Bohrtürme, ganze Industrieanlagen, die halb im Sumpf steckten, verrostet, und dann am Ufer die verkommenen alten Plantagenhäuser. Das war schon seltsam, dieser Kapitalismus mit Rändern. In Europa hat er keine Ränder mehr, oder es ist da ganz schwer, die Ränder zu sehen. In Amerika sind die Ränder das Lebendige, überall gibt es noch nicht besetzte Landschaft, auch sozial noch nicht besetzte Landschaft. Landschaften, die nicht domestizierbar sind (Müller Werke 9: 222 f.).

Absurderweise beruht das postdramatische Theater, soweit es sich von der Müller’schen Écriture herleiten will, auf dem Missverständnis, dass die Implementierung der Landschaft in die Texte Gegenwartshorizonte affirmiert und verabsolutiert, während sie stattdessen ihre Grundspannung aus einer Skalierung der Erdzeit bezieht, die nicht in menschenzentrierter Geschichte als Operationszusammenhang aufgeht. Deswegen kann auch von einer Verabschiedung des Dramas im Spätwerk keine Rede sein, was Stücke wie Der Auftrag (1979), Anatomie Titus Fall of Rome (1984) oder der Monolog Wolokolamsker Chaussee I (1984) offenkundig belegen. Vielmehr führt die inspirierende, nahezu transzendente Landschaftserfahrung formal zu gravierenden Umbrüchen der Müller’schen Textur:

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