Kitabı oku: «Wu»
Maik Albrecht und Frank Rudolph
Wu
Ein Deutscher bei den Meistern in China
Palisander
Impressum
Der Verlag dankt Dr. Sven Hensel, Dr. Janett Kühnert und Norbert Wölfel vom Chemnitzer Karateverein sowie Jens Regner, Chemnitz, für die fachliche Unterstützung bei der Redaktion.
Die Bildrechte wurden nach bestem Wissen recherchiert. Die Fotos des Buches stammen von Norman »Siddhartha« Gerhardt, Rainer Knoblauch, Maik Albrecht und Frank Rudolph bzw. sind lizenzfrei.
Erstausgabe
1. Auflage März 2011
© 2011 by Palisander Verlag, Chemnitz
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlaggestaltung: Anja Elstner, unter Verwendung eines Fotos von Brianna Laugher (Lushan – ein Berg in der chinesischen Provinz Jiangxi)
Lektorat: Frank Elstner
Redaktion & Layout: Palisander Verlag
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013
ISBN 9783938305362
Gewidmet allen Lehrern der Kampfkunst,
besonders aber meinem shifu Li Zhenghua.
Maik Albrecht
Meister Li Zhenghua
Die Autoren
Maik Albrecht, Jahrgang 1981, praktiziert seit mittlerweile zwei Jahrzehnten die verschiedensten östlichen und westlichen Kampfkünste. Mit 20 Jahren ging er nach China und studierte dort chinesische Kampfkunst bei den letzten noch lebenden Meistern des alten Wushu.
2006 gewann er als einziger Ausländer in der chinesischen Profigruppe eine Goldmedaille bei der Wushu-Weltmeisterschaft in Zhengzhou. Im selben Jahr erhielt er den 4. Meistergrad (Wushu Duan) und war zu dieser Zeit der jüngste Ausländer mit einer solch hohen Graduierung. Albrecht besitzt einen Abschluss in Sinologie von der Universität Wuhan, die zu den besten der Welt gehört.
Maik Albrecht ist heute einer der führenden Chinaexperten und Kenner der chinesischen Kampfkünste weltweit. Er trainierte als einer der ersten Ausländer in China sogar Chinesen, unter anderem Mitglieder chinesischer SWAT-Einheiten.
Das ARD hat 2008 einen Dokumentarfilm über sein Leben in China gedreht: »Herr Albrecht macht Wushu – Ein Deutscher kämpft in China.« In China, wo er selbst von den Meistern der alten Generation als Kenner und Könner des Wushu anerkannt wird, gibt es zahlreiche Veröffentlichungen über ihn. 2009 drehte das chinesische Staatsfernsehen eine mehrteilige Dokumentation über sein Leben mit der Kampfkunst.
Maik Albrecht lebt in Wuhan, China. Er ist mit der Tochter seines Shifu (Lehrer-Vater) Li Zhenghua verheiratet.
Frank Rudolph, Jahrgang 1969. Nach mehreren Ausbildungen absolvierte er von 1993 bis 1996 ein Journalistikstudium. Tätigkeit als freier Mitarbeiter bei verschiedenen Zeitungen und Magazinen. Seit 1992 Veröffentlichungen über Philosophie, Geschichte, Kampfkunst und Kultur mit Schwerpunkt Asien und vergleichende Geschichte. Mehrere Studienreisen führten ihn nach China. Er verfasst Belletristik, Lyrik und Essais, des weiteren Biographien und Fachtexte zu den unterschiedlichsten Themen. Er lebt in Wolfsburg.
Frank Rudolph praktiziert verschiedene europäische und asiatische Kampfkünste. Gemeinsam mit Maik Albrecht gründete er das Albrecht-Rudolph Institute of Martial Arts Research (ARIOMAR).
Maik Albrecht (links) und Frank Rudolph.
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Zitat
Die Autoren
Motto
Geleitwort
Hinter Mauern
Einleitung
Eine kurze Darstellung des Wushu
Begriffe und Bedeutungen
Stilrichtungen und Schulen des Wushu
Grundlegende Klassifizierungen im Wushu
Innere und äußere Stile
Daoismus
Shaolin
Wushu heute
Ein Turnier- und Wettkampfsport
Wen Jingming – der erste Wushu-Professor
Wushu und die chinesische Oper
Wushu und Sport
Modernes und altes Wushu
Eine Geschichte des Niedergangs
Dehnung und Stand im alten und neuen Wushu
Traditionelles und heutiges Training
Die Meister und die Kulturrevolution
Ausgespähte Geheimnisse
Gongfu
Geschichten vom Gongfu
Die zweite Bedeutung von Gongfu
Yanchigong
Clausewitz und das Gongfu
Gongfu als beständige Mühe
Gongfu und Sport
Die Kultur des Wushu
Lehrer und Schüler
Die Tradition in der Gegenwart
Der Xiake-Geist
Dalei – Wettkampf auf Leben und Tod
Über die Effektivität der Kampfkünste
Die physische Verfassung
Die wahre Effektivität des Xingyi Quan
Cheng Jianping – mein älterer Wushu-Bruder
Faust ohne Faust, Sinn ohne Sinn
Kampfkunst und Selbstverteidigung
Die Scharlatane im Wushu
Die Tradition der Jianghu Pianzi
Die modernen Scharlatane
Ein neuer Bruce Lee
Jianghu – die Gesellschaft der Erfolgreichen
Die Meister von China
Zu Besuch bei Meister Li
Meister Zhang Kejian
Einblicke in die Vielfalt des Wushu
Xu Shiyou – Berater des Großen Vorsitzenden
Die Meister und das Sport-Wushu
Die beiden Meister Yuan
Meister Li Zhenghua und seine Lehrer
Der erste Lehrer
Der Xiake und seine Schüler
Meister Xiong Daoming
Wuhan und die Meister Kampfkünste
Zeng Tianyuan, der Meister des Leitai
Meisterschaft
Vom Wesen eines Meisters
Ein Meister der Kampfkunst
Die Realität der Kampfkunstmeister
Lu Zhishen
Die Schätze der chinesischen Kampfkunst
Die Stile des Wushu – Legende und Wahrheit
Zhou Tong und Yue Fei
Ein Streifzug durch die Welt des Wushu
Bekannte Stile
Einige kaum bekannte Stile
Stile aus der Provinz Hubei
Die Waffen des Wushu
Vorbemerkung
Die Waffen des Volkes
Waffenlose und Waffentechniken
Die Einteilung der chinesischen Waffen
Säbel und Schwert
Fransen und Blut
Die Technik des Yue Fei
Bewahrenswerte Vielfalt
Trainingsprinzipien im Wushu
Vorbemerkung
Der Vorzug der Jugend
Weichheit durch Härte
Das Training des Jin
Das Verdauen der Kraft
Kraftaufbau und Kraftausgabe
Trainingsmethoden des Wushu
Vorbemerkung
Die Dehnung in den chinesischen Kampfkünsten
Gong-Übungen
Die Trainingsmethode Zhan Zhuang
Weichheit als Ziel
Trainingsgeräte
Der Ursprung der Kraft im Wushu
Dantian – das Zinnoberfeld
Dipan – der Unterbau
Gesund durch Kampfkunst
Gesunder Körper, gesunder Geist
Dipan und Gesundheit
Die Bewegung Oyu
Kampfkunst für die Massen
Eine vertane Chance
Ein Wushu-Großvater
Yip Man und die Vermarktung des Wingchun
Vom Sinn und Unsinn der Graduierungen
Die Zergliederung der Kampfkünste
Was kostet ein Meistertitel?
Die Zeit der Karrieristen
Anhang
Die Kulturrevolution
Die Präfektur Hong’an und ihre Kinder
Der Landkreis der Generäle
Marschall Lin Biao
Dong Biwu – der Anführer der Huangma-Revolution
Li Xiannian – vom Zimmermann zum Präsidenten
Eine Liste ohne Ende
Auf dem Lande
Eine zweite Heimat
Die Yanyu
Schreibweise und Aussprache der chinesischen Begriffe
Anmerkungen
Vivere militare est.
Leben heißt kämpfen.
Geleitwort
武术起原中国,属于世界。
弘扬中华武术。
武术最高境界贡献于人类,和谐社会。
wu shu qi yuan zhong guo, shu yu shi jie.
hong yang zhong hua wu shu.
wu shu zui gao jing jie gong xian yu ren lei, he xie she hui.
Das wushu ist China entsprungen, es gehört jedoch der ganzen Welt. Fördert die (chinesischen) Kampfkünste.
Die höchste Stufe der Kampfkunst ist es, einen Beitrag für die Menschheit zu leisten, für eine ausgeglichene und harmonische Gesellschaft.
Li Zhenghua – 李正华, Wuhan, 1. Februar 2011
Hinter Mauern
Hinter einer Mauer wurde ich geboren und wuchs dort auf.1 Als die Mauer zusammenbrach, stürzte ich mich gierig auf die Welt der Kampfkünste. Der Koautor dieses Buches machte mich noch hungriger auf die Kunst des Kämpfens. Er inspirierte mich und riss viele Mauern in mir ein.
Vor zehn Jahren reiste ich in ein großes Land, das die größte Mauer der Welt besitzt – China. Diese Mauer wird nicht einstürzen. Hinter diesem Wall lernte ich einiges. Vor allem, dass von den Menschen immer Mauern errichtet werden, die alles voneinander trennen, alle Wissenschaften, alle Kampfkünste … Wir trennen Ost von West, wir trennen unsere Glaubensrichtungen und natürlich auch die Stile der Kampfkunst. Durch Mauern entstehen Abgrenzungen und werden Kriege hervorgerufen. Der Mensch mauert sich ein, geistig und körperlich. Doch es sollte immer unser Ziel sein, eigene Mauern einzureißen, dahinter zu schauen und so den Horizont zu erweitern.
Im Kampf bzw. im Krieg es ist das Ziel, Mauern zu durchbrechen und zu überwinden. Zu diesem Zweck haben Menschen Kampfkünste entwickelt. Die okinawanische Kampfform passai drückt dies sogar wörtlich aus.2 Und doch entstehen gerade dadurch neue Wälle, die man dann wieder durchbrechen und umstürzen möchte. Das ist der Kreislauf innerhalb von Mauern.
Auch Bücher mit ihren vielen Worten gleichen Mauern. Der Mensch ist begierig danach, diese Mauern abzureißen, um zu sehen, was dahinter ist. Doch oftmals entdeckt er nur neue Hindernisse. Schließlich aber erkennt man, dass es, mit freiem Geist betrachtet, gar keine Mauern gibt.
Maik Albrecht, Wuhan 2010
Einleitung
Kampfkünste gehören zur Evolution des Menschen wie der aufrechte Gang oder die Sprache. Sie sind eine Form der menschlichen Kultur, von Menschen geschaffen und ausgeübt, genauso wie Religion oder Philosophie.
Nach einem Jahrzehnt in China, zehn Jahren Training bei einigen der letzten noch lebenden echten Meister des chinesischen wushu, möchte ich hier meine Sichtweise und Gedanken zur Kampfkunst wiedergeben. Anhand meiner Erfahrungen möchte ich verständlich werden lassen, was wushu ist und was nicht. Doch es geht nicht allein um die chinesische Kampfkunst. Das Buch befasst sich auch mit der Thematik der Kampfkünste im allgemeinen und ist dadurch für jeden geeignet, der sich mit dieser Materie in irgendeiner Weise beschäftigt.
Ich will versuchen, einige wichtige Fragen zur Kampfkunst zu beantworten. Fragen, die bisher selten gestellt wurden und auch solche, die statt Antworten noch mehr Fragen lieferten. Was ist wushu, was ist gongfu? Was unterscheidet die Kampfkünste voneinander? Ist es überhaupt sinnvoll, eine Differenzierung vorzunehmen? Worin liegt der Unterschied zwischen einer modernen und einer traditionellen Methode? Was ist Kampfkunst und was Kampfsport? Wofür sind Kampfkünste gut bzw. sind sie eigentlich in unserer Zeit überhaupt noch für etwas gut?
All diese Fragen wurden bisher höchst unterschiedlich beantwortet, ungenau in einigen Fällen, gar falsch in anderen. Nicht zuletzt aus diesem Grund herrscht in der Welt der Kampfkunst heute ein heilloses Durcheinander. Dazu kommt, dass das Nichterkennen der Gemeinsamkeiten zu einem Konkurrenzkampf führt, der letztendlich allen Beteiligten schadet.
Lange bevor ich nach China ging, habe ich mich bereits mehr oder weniger intensiv mit verschiedenen östlichen und westlichen Kampfkünsten (Kampfsportarten) beschäftigt. Ich kann heute im Rückblick keine wirklichen, das Wesen betreffenden Unterschiede zwischen den verschiedenen Stilen erkennen, wo auch immer sie herstammen. Im Grunde geht es überall um das gleiche, die Ziele sind dieselben, nur die Form unterscheidet sich. Dennoch streitet man darum, was das beste sei. Ob es so etwas wie die »beste Kampfkunst« überhaupt gibt, ist zu bezweifeln.
Die Trainingsmethoden des traditionellen wushu sind die wirksamsten, die ich kenne, wenn es darum geht, seinen Körper gesundzuerhalten und eine flexible Kraft zu entwickeln. Die alten Wushu-Techniken sind sehr effektiv, und sie sind anders als das, was man heute als das »moderne wushu« bezeichnet. Doch halte ich beispielsweise die westlichen Boxtechniken gegenüber den Fausttechniken der meisten chinesischen Wushu-Stile (Südfaust, Langfaust) für überlegen. Letzten Endes hat es aber wenig Sinn, Vergleiche anzustellen, um festzustellen, welche Kampfkunst nun die Ehrung als die beste verdient. Solche Überlegungen führen nur selten zu etwas Gutem, dafür um so häufiger zu Neid, Frustration und Feindschaft.
Ein großes Problem stellt die Einführung von Neuerungen, für die es keine Notwendigkeit gibt, dar. Oft ist es ja so: Irgend jemand beschließt eines Tages, einen »neuen« Stil zu erschaffen oder einen »alten« so zu verändern, dass er »besser in die neue Zeit« passt. So ähnlich, wie es Nakayama Masatoshi mit dem shotokan tat. Ist dieser Jemand geschickt, eröffnet er bald eine Kette von Schulen, produziert eine DVD, schreibt ein Buch und verbreitet seine neue und »bessere« Lehre in der ganzen Welt. Bald wird niemand mehr den Ursprung erkennen und zu würdigen wissen. Jene Meister, die solch eine Entwicklung aufhalten könnten, nehmen die ganze Sache nicht ernst – bis es irgendwann zu spät ist. Schließlich passt sich die alte Garde sogar an oder geht buchstäblich in den Untergrund. Unser Neuling baut um seine Lehre herum eine ganze Welt auf mit Urkunden, Wettkämpfen, Meisterschaften. Und eines Tages geht er zu den alten Lehrern und erklärt ihnen, dass sie alles falsch machen und besser zu ihm in die Lehre gehen sollten. Wer das für ein Horrormärchen hält, der irrt. Das ist die moderne Welt der Kampfkunst.
Die Kampfkunstgemeinde ist heute in hohem Maße ein Marktplatz, auf dem es darum geht, seine Ware so teuer wie möglich an den Mann zu bringen, wo nur zählt, wer der Erste und natürlich der Beste ist. Der Verkauf von Titeln, Urkunden und Zertifikaten ist heute gängige Praxis. Wer sich nicht anpassen möchte, wem es nur um die Kunst geht, der wird unglaubwürdig gemacht, indem man einfach auf seine nicht vorhandenen »Ehrungen« verweist. Auch in China ist das nicht anders.
Meister Li, mein shifu, ist einer der wenigen Meister in China, die niemals auch nur einen Fen dafür ausgegeben oder Beamten geschmeichelt haben, um an eine Urkunde zu gelangen. Offen gestanden bezweifle ich bei vielen Meistern, dass sie ihre Grade durch Leistungen errungen haben, und bei einigen weiß ich sicher, daß dies nicht der Fall war.
Meister Li bekam eines Tages das Angebot, den seltenen Stil lusiquan in einem Video darzustellen. Dieser Stil ist auch in ganz China unbekannt, selbst bei den dortigen Wushu-Experten. Für dieses Video hätte mein Meister vom Staat einen noch höheren Grad bekommen. Er wäre dann der jüngste Träger des 8. Duan gewesen, den es China gibt. Diese Ehrung hätte nicht einmal auf Betrug, Macht und Geld beruht, sondern auf einer wirklichen Leistung. Doch selbst hier lehnte Meister Li ab.
Foto 1: Training in China (Zeitungsbericht über Maik Albrecht in einer der größten Tageszeitungen Chinas (Chutian Dushi Bao)).
wan bian bu li qi zong
Etwas wird hundertmal abgewandelt,
ohne wesentliche Veränderungen.
Eine kurze Darstellung des Wushu
Begriffe und Bedeutungen
Es ist immer schwierig, komplexe Begriffe von einer Sprache in die andere zu übertragen, vor allem dann, wenn die dahinterstehenden Kulturen sich bedeutend unterscheiden. Dies gilt auch für den Begriff wushu (武 术)3, der in der chinesischen Sprache alles Kämpferische umfasst. Wushu bezieht sich allgemein auf die kämpferischen Fertigkeiten, seien sie nun militärisch oder zivil. Der Begriff schließt das Training einer bestimmten Technik ebenso ein wie einen komplexen Stil. Er unterscheidet nicht zwischen waffenlosem und bewaffnetem Kampf. Auch die Pflege von Körper und Geist gehört dazu. Dies allerdings auf andere Art, als man im Westen oft glaubt; es geht dabei nicht im geringsten um irgendwelche esoterische Konzepte. Was im Okzident als wushu bezeichnet wird, ist den echten Meistern Chinas fremd.
Der Begriff wushu ist zwar alt, doch wurde er erst nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahre 1949 als Oberbegriff für alle chinesischen Kampfkünste gewählt. Davor gab es mehrere Bezeichnungen für die Kampfkunst, und wushu wurde hierfür sehr selten benutzt. Statt dessen verwendete man Begriffe wie wugong (武功), wuji (武击) oder auch einfach nur guocui (国粹).
Bevor ich etwas näher auf die alten Bezeichnungen eingehe, möchte ich das Wesen der Kampfkunst anhand der entsprechenden chinesischen Zeichen für wushu erklären. Das Wort setzt sich aus zwei Schriftzeichen zusammen, wu (武) und shu (术 oder 術). Wu bedeutet militärisch, kämpferisch. Es verweist auf etwas Grundlegendes, den Kampf. »Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König«, meinte Heraklit schon vor 2 500 Jahren, und der Römer Seneca erkannte: »Vivere militare est.«–»Leben heißt kämpfen.« In China lassen sich all diese Feststellungen durch das Zeichen wu ausdrücken. Aber wu besitzt noch eine viel tiefgründigere Bedeutung. Zunächst einmal setzt sich das Schriftzeichen wu ebenfalls aus zwei Zeichen zusammen. Das erste von ihnen heißt zhi (止) und bedeutet aufhören, eine Sache stoppen oder beenden. Das andere, ge (戈), bezeichnet eine alte Kriegswaffe, ähnlich unserer Hellebarde. Sie steht hier stellvertretend für Krieg. Und dieser Krieg soll durch einen entschlossenen und schnellen Kampf beendet werden. Dies bringt, vordergründig betrachtet, wu zum Ausdruck. Tatsächlich ist die Botschaft viel subtiler. Sie besagt, man solle aufhören die Hellebarde zu benutzen, ihren Einsatz beenden (zhidong ge, 止动戈). Jeglicher Kampf ist zu vermeiden. Das ist die tiefere Bedeutung des Zeichens wu. Interessanterweise wird diese Haltung durch die Figur des Kriegsgottes, Guandi (Guan Yu), ausgedrückt, den man oft in Asia-Restaurants sehen kann. Dieser Guandi hält seine Hellebarde (ji, 戟 oder ge, 戈) in den meisten Fällen halb auf dem Rücken und drückt damit aus, dass er einen Kampf vermeiden möchte.
Solch eine Philosophie wird jeder verstehen, der sich ernsthaft mit den Kampfkünsten befasst, egal ob sie aus dem Osten oder aus dem Westen stammen. Die Kampfkünste lassen den Menschen durch eine Lehre gehen, in welcher er sich mit seinen Urinstinkten, mit dem Kampf ums Überleben, beschäftigt. Durch den Reifeprozess, der während des jahrelangen Trainings eintritt, wird der Übende früher oder später auf das Paradoxon stoßen, dass er um so mehr üben muss, je weniger er kämpfen will. Aber er kann auch zu der Erkenntnis gelangen, dass es generell unnötig und sinnlos ist zu kämpfen. Im Werk des großen Militärstrategen Chinas, Sunzi4 (孙子), steht der Satz: »Bai zhan bai sheng, fei shan zhi san zhe ye; bu zhan er qu ren zhi bing, shan zhi shan zhe ye.« (百战百胜,非善之善者也,不 战而屈人之兵,善之善者也) –»In allen Schlachten zu siegen ist nicht die größte Leistung; die größte Leistung ist, den Widerstand des Feindes ohne Kampf zu brechen, zu siegen, ohne zu kämpfen.«
Das Land des Gegners wird also, wenn möglich, intakt eingenommen. Ist ein Konflikt unvermeidbar, so ist diese Lösung für alle Beteiligten die beste. Die Taktik der verbrannten Erde ist auch für den Sieger von Nachteil. Und wie schnell die Anwendung brutaler Gewalt zur eigenen Niederlage führen kann, beweist die Geschichte in unablässiger Folge. In China waren Kriegs- und Kampfkunst stets vom Daoismus geprägt. Diese pragmatische und vor allem wissenschaftliche Lehre durchzog alle Bereiche und ist ebenfalls in Sunzis Werk erkennbar. Das erklärt am besten die Ausgewogenheit seiner Strategien und Taktiken.
Der zweite Teil des Wortes wushu wird durch das Zeichen shu (术 oder 術) dargestellt. Shu bedeutet Kunst, Kunstfertigkeit. Der Begriff beinhaltet aber auch Taktik und die technischen Aspekte der Kampfkunst. Dieses Zeichen enthält keine tiefgründigeren Inhalte. Es ist ein vollkommen rationaler und fassbarer Begriff. Es geht nur um das reine Können. Deshalb hat der Begriff shu auch etwas mit gongfu (功夫) zu tun, denn gongfu bedeutet ebenfalls Können. So erklärt sich die alte Bezeichnung wugong für die chinesischen Kampfkünste. Auf den darin enthaltenen Begriff gong soll weiter hinten im Buch ausführlicher eingegangen werden.
Vor 1949 benutzte man für Kampfkunst auch den Begriff wuji. Das Schriftzeichen wu wurde ausführlich erklärt. Das Zeichen ji (击) hat eine sehr kriegerische Bedeutung. Es bedeutet attackieren oder zusammenprallen. Hieran erkennt man, worum es ursprünglich in der chinesischen Kampfkunst geht. Shu verweist hingegen auf eine künstlerische, teilweise auf Schönheit und Eleganz bedachte Anwendung. Dies ist vergleichbar mit den japanischen Kampfkunstbegriffen jutsu (術) und do (道). Während jutsu die anwendbare Technik bezeichnet, beinhaltet do, der Weg, das dahinterstehende philosophische Prinzip.
Ein anderer Begriff für chinesische Kampfkunst ist guocui. Guocui bedeutet »Essenz der chinesischen Kultur«. Man hat die chinesische Kampfkunst früher und auch heute noch stets als Essenz der nationalen Kultur verstanden. Dies hat jedoch nichts mit nationalistischem Gedankengut zu tun. Die Bezeichnung guocui geht viel mehr in die Tiefe. Am ehesten lässt sich der Begriff mit der symbolischen Bedeutung von Kronjuwelen vergleichen. Neben wushu werden auch andere Künste Chinas als guocui bezeichnet. Dazu gehören die Chinesische Oper, traditioneller Tanz und Musik und auch die Kalligraphie. Ursprünglich bildeten wushu, traditioneller Tanz und Kalligraphie eine Einheit. So kann man beispielsweise einige gemeinsame Elemente und Bewegungen erkennen, die sowohl in der klassischen Oper, im wushu, als auch in den traditionellen Tänzen enthalten sind. Auch die klassische chinesische Musik steht in enger Verbindung mit dem wushu; ein guter Rhythmus in der Musik ist genauso wichtig wie ein guter Rhythmus im Kampf. Synonym zu guocui wurde früher ebenfalls der Begriff guoshu (国术, Landeskunst) gebraucht.
Zwei weitere Begriffe, die in alter Zeit in China die Kampfkunst bezeichneten, waren wuyi (武艺) und shoubo (手搏). In vielen alten Büchern über die Kampfkunst wird man auf diese beiden Bezeichnungen stoßen. Der Begriff wuyi ist mit dem Begriff wushu verwandt. Yi (艺) bedeutet Kunst. Die Bezeichnung shoubo wird heute nicht mehr benutzt. Anstelle dessen verwendet man den Begriff quanfa (拳法), was soviel wie »Methode bzw. Gesetz der Faust« bedeutet. Quanfa und shoubo haben fast die gleiche Bedeutung. Allerdings ist shoubo eher ein militärischer Begriff. Früher war die Kampfkunst fester Bestandteil der militärischen Ausbildung. Sie war ein untrennbarer Teil des Krieges zu einer Zeit, als es noch keine Feuerwaffen gab. Shoubo bezeichnet den waffenlosen Zweikampf, der Hauptteil der Ausbildung der chinesischen Soldaten im alten China war.