Kitabı oku: «Das Terrain», sayfa 3
»Eine Galerie im Wind«, fuhr Viktor fort. »Das Gebäude wurde für einen Berührungssynästhetiker entworfen. So jemand spürt auf eigener Haut, wenn andere sich berühren. Der Wind in den Dünen beruhigt ihn.« Nach einer Pause fügte er, schon etwas vorsichtiger, hinzu, Wind sei die Berührung der Einsamen, dann verhaspelte er sich, flüchtete sich in technische Details, sprach über das Solardach und den Lehmputz des Hauses. Seine Stimme wirkte heiser, er streifte Irene nur mit halbem Blick.
»Schön«, sagte sie dünn und blickte Damion an. Kurz vor ihrem Abgang versicherte sie, die Begegnung sei ihr eine große Freude gewesen. Viktor schaute ihr nach und entschied, in einen Winkel zu verschwinden, in den das Licht dieses Abends nicht vordrang.
»Halt.« Damion griff nach seinem Arm. »Unser Team sucht einen Architekten.« Viktor starrte ihn irritiert an. »Du verkaufst dich miserabel, aber dein Ansatz könnte jemandem gefallen. Karte?«
»Nein, nicht dabei.«
»Hier.« Damion griff nach seinem Notizblock und zückte einen Füller aus der Innentasche seines Jacketts. »Schreib auf!«
Nur widerwillig kam Viktor der Aufforderung nach, setzte unter seinen Namen seine Telefonnummer.
»Adresse?«, fragte Damion unnachgiebig. Viktor fühlte sich ertappt. Sein Büro befand sich in desolatem Zustand. Er schrieb die Adresse auf und erklärte leise: »Das ist unser altes Studio, bald ist die Adresse nicht mehr gültig. Wir expandieren.« Damion nickte desinteressiert und verschwand in der Menge.
Viktor, plötzlich alleingelassen, blickte in all die fremden Gesichter um ihn herum, die ihm nun noch fremder erschienen als die Masken in den Kammern. Er vernahm das Klirren der Gläser, den heiteren Lärm. Er trank Wein. Stand immer noch allein da. Trank wieder Wein. Irgendwann sah er den Künstler, und mit dem Künstler die Nachhut an Neugierigen; er sah Benedetto, der gelöst mit einem jungen Mann tanzte. An der Tafel hockte ein Glatzköpfiger, entsprungen aus einem Gemälde von Marc Chagall, gezeichnet von linkischer Traurigkeit. Der Typ saugte am Halm eines Cocktails, wirkte einsam, allein, verloren, sein Blick heftete sich blöde an die Beinlinie einer jungen Frau. Der Krakenmann hielt in seinen Armen noch immer das gleiche Opfer. Viktor griff wieder zu seinem Kohlestift, zeichnete das Pärchen und retuschierte das Ergebnis; er verlieh den Tanzenden einen geheimnisvollen Ausdruck. Mit einem Ruck preschte er auf das Paar zu, streckte den Arm aus, wollte dem Mann die Skizze überreichen, die, seines Erachtens, eine zärtlichere, liebevollere Version zeigte, als die beiden sie in Wirklichkeit abgaben. »Was bist du denn für ein Freak?«, fauchte der Mann erbost und schubste ihn von sich. Viktor fiel zu Boden. Die Menge wich zurück. Er stand ungelenk auf, fiel noch einmal, befühlte die Innenseite seines Schenkels, seine Leiste schmerzte, sein Kopf drehte sich. Er entschuldigte sich lallend bei den Umstehenden und humpelte auf die Treppe der Eingangshalle zu, blickte noch einmal zurück und ging dann kopfschüttelnd und irgendetwas vor sich her brummend weiter hinaus auf die Straße. Er war auch an diesem Abend der Unmöglichkeit begegnet, sich selbst zu entkommen. Man kann da einfach nichts machen, dachte er noch, bevor die kalte Nacht seinen Atem sichtbar werden ließ.
34
STUDIO VIKTOR SØRLESS. Der Briefkasten sprang auf und Reklame quoll heraus. Viktor versuchte, die Sendungen aus der Luft zu fischen, musste aber hilflos zusehen, wie die Briefe, einer nach dem anderen, zu Boden flatterten. Es ist nicht mein Tag, dachte er sich, las die Post auf und verstaute sie gleich wieder im Briefkasten. Sein Blick blieb auf dem Firmenschild haften. Er musterte den skandinavischen Vokal in seinem Nachnamen, den Kreis mit dem aufstrebenden Strich. Das Ø symbolisiert in der Mathematik eine leere Menge, nach den vergangenen Tagen konnte er sich jedoch nicht mehr des Eindrucks erwehren, die Chiffre sei zum Zeichen seiner Gewöhnlichkeit geworden. Ein Durchschnittszeichen, mehr nicht. Er verließ den Hausflur zum Hinterhof hin, blinzelte draußen in die Mittagssonne, das Blau des Himmels war verheißungsvoll. Unter dem Druck leichter Böen neigten sich ein paar hohe schlanke Bäume einander zu, in den ersten Zweigen hing die Andeutung von Grün, wie ein Flüstern. Ein weiterer Frühling kündigte sich an. In ihm tat sich nichts auf.
Auf dem Sportplatz linkerhand spielten hochgeschossene Jugendliche mit nacktem Oberkörper Basketball. Gekonnt dribbelten sie den Ball über den Platz, schwangen sich in die Luft, versenkten ihn immer wieder im Korb. Ihre Rücken waren schweißüberzogen, trotz der noch frischen Jahreszeit. Viktor, der in den letzten Wochen eigentlich nur noch über dem Schreibtisch gebrütet hatte, gefiel die Leichtigkeit ihrer Bewegungen, die Anmut, mit der sie sich der Schwerkraft widersetzten.
Durch den Eingang zum Hintergebäude betrat er sein Büro. Augenblicklich erhob sich sein Partner Anton vom Schreibtisch. »Hey, wie war dein Wochenende?«, fragte er munter, erschrak aber sogleich über Viktors entstelltes Gesicht. »Du hast ein blaues Auge, was ist passiert?«
Viktor winkte ab. »Nicht der Rede wert.« Der Schmerz in seiner Leiste meldete sich zurück. Er humpelte an Anton vorbei hinein in einen vollgestopften Raum, den er als Labor hergerichtet hatte. Hier widmete er sich der Erforschung eines Werkstoffs, von dem er sich die Zukunft des Bauens erhoffte: Lehm.
Er legte seine Tasche neben die Messgeräte auf den Tisch und schlug mit dem Knöchel seines Mittelfingers auf einen luftgetrockneten Ziegel aus Nyanza. Er mochte den Klang wie auch die Farbe dieses Steins. Anton hatte ihn von seiner letzten Reise aus Ruanda mitgebracht. Auf den Regalböden lagen, sauber sortiert, unterschiedliche Lehmsteine. Er hatte sie alle geprüft, regelrecht auf Biegen und Brechen, und auf ihre Tauglichkeit für einen möglichen Einsatz unter klimatisch unterschiedlichen Bedingungen abgeklopft; er hatte sich mit Bodenkunde befasst, mit Gesteinsverwitterung; er träumte von einer Renaissance des Lehms, dem Baustoff der Natur, der in anderen Sprachen schlicht Erde hieß. »Mit Erde bauen«, sagte er sich immer. »Was für eine schöne Aufgabe.« Anstatt mit Zement, der in seiner Herstellung gewaltige Mengen Sand und Energie verschlang und als verarbeiteter Beton die Welt erstarren ließ.
Wenn es nach ihm ginge, würde Beton nicht als Fundament des modernen Lebens herhalten, um Zeit und Elemente zu zähmen. Aber seine Beständigkeit versprach, wonach sich die Menschen offenbar sehnten: gebaute Kontrolle. Doch Beton hinterließ Wunden. Durch ihn wurde die blaue und grüne Umwelt von Sekunde zu Sekunde grauer. Auf seinen Reisen durch Japan hatte er ein Land gesehen, das sich allmählich zumauerte. Dabei hatte er doch gedacht, Vertrauen in die Unbeständigkeit des Seins, beschrieben durch das Wort Mujō, wäre tief in der japanischen Kultur verwurzelt. »Es fühlt sich so an, als wären wir im Gefängnis, obwohl wir nichts Schlimmes getan haben«, hatte eine Austernfischerin in Yamada zu ihm gesagt und mit einem Kopfschütteln auf die häuserhohen Betonwälle vor ihrer Küste gedeutet. Sie sollen die Fluten aufhalten. Aber sie trennen die Menschen von ihrer Umgebung. »Ich kann das Meer nicht mehr sehen«, hatte die Frau noch hinzugefügt.
Lehm hingegen, Lehm bedeutete Leben. Er lag allen zu Füßen, unter der Erde, als Humus; im Grunde als Bindemittel einer humanen Bauweise. Lehm war in Wasser löslich und in natürliche Kreisläufe rückführbar. Warum wollte es die Welt nicht verstehen?
Anton betrat Viktors Büro. Es riss ihn aus seinen Gedanken. Viktor sah auf und sah die Brillengläser, die im Sonnenlicht funkelten. Anton wirkte wie ein neuzeitlicher Mönch auf ihn: das Haar kurz rasiert, ein schlichtes Hemd, blaue scharfe Augen hinter einer Brille, die unglaublich dünn wirkte, ja, fast unsichtbar. Viktor bemühte sich zu lächeln.
»Nur eine Morddrohung, diesmal«, sagte Anton und reichte ihm eine ausgedruckte E-Mail. Viktors Kehle schnürte sich zusammen, als er die Nachricht entgegennahm und durchlas.
»Leave our nature and scrap this awful building or I will kill you. Nobody wants it. Looks like a damn control tower, or a fucking bunker from WW2, what a fucking joke, yu fucking scum. Have yu no respect for our nature?«
Er zerknüllte das Papier und warf es in die Ecke. »Noch mehr Fanpost?«
Die beiden blickten sich wortlos an.
»Rechtsextreme Politiker haben sich eingeschaltet«, sagte Anton nach einer Pause. »Sie wollen das Bauvorhaben stoppen. Unser Wohnhaus sei eine Schande für die Natur – ihre Natur. Die Dänen, behaupten sie, hätten Millionen ausgegeben, um deutsche Bunker von der Westküste zu beseitigen, und jetzt komme ein ›Halbnazi‹ daher, und knalle ihnen einen neuen Schandfleck aus Beton vor die Nase.«
»Naturstein«, korrigierte Viktor. »Er stammt aus der Region. Ist das patriotisch genug?«
Anton zuckte mit den Achseln. »In ihren Augen verschandeln wir die Gegend. Der kleine Mann, fauchen sie, dürfe seine Häuser nicht ändern, geschweige denn umbauen, weil er sonst Ärger mit den Behörden kriegt. Aber wir – «, betonte Anton, »wir haben eine Baugenehmigung in den Dünen. Das sei, sagen sie, Verrat, wie die Windräder in West-Jütland.«
Viktor winkte ab. »Wir bauen nicht in, sondern an den Dünen. Außerdem hält der Bauherr zu uns. Er hat …«
»… heute abgesagt«, unterbrach ihn Anton und schob sich die Brille zurecht. Der vollkommen ruhig ausgesprochene Satz stampfte Viktor innerlich zu Boden.
»Wie bitte?« Er blickte Anton hilflos an.
»Zu viel Trubel! In mehr als 30 Ländern wurde über das Dune House berichtet. Gib das Stichwort einfach mal in eine Suchmaschine ein. Die ersten Leute fahnden schon nach dem Bauplatz. Er hat einfach Angst. Er will dort nicht mehr wohnen – und hat das Projekt abgeblasen.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, dass wir, nach der Abfindung, …«, Anton lächelte zum ersten Mal, »pleite sind.«
»Wir haben noch den Wettbewerb.« Viktor biss sich auf die Unterlippe, wollte verkünden, dass alles gut werde, die Worte blieben ihm aber im Hals stecken. Er schielte zur Silbermedaille der Architekturschule aus seiner Zeit in London. Sie strahlte keine Zuversicht mehr aus, sondern prangte mit dem verlorenen Glanz einer nicht eingelösten Zukunft verlogen an der Wand. Sein Partner trat einen Schritt näher auf ihn zu und strich mit dem Finger über den Lehmstein. »Du weißt, Gregor und ich bekommen ein Kind. Wir haben grünes Licht für die Adoption.«
Viktor hob beide Brauen. »Du wirst ein guter Vater sein«, sagte er ruhig, und fügte hinzu: »Oder eine Mutter, wie immer du möchtest.«
Anton blieb ernst. Ihm stand nicht der Sinn danach, die Atmosphäre mit Gelächter zu reinigen. »Ich mag deine Entwürfe«, sagte er stattdessen. »Den Atriumturm oder die Mensa auf den FäröerInseln, in der sich die Studenten verlieben sollen, um so das Problem der Abwanderung zu lösen. Etwas naiv …«
»… aber?«
»Wir müssen etwas Normales bauen«, wetterte er. »Mit Beton, wie alle anderen, nicht mit Lehm. Wir haben noch die Anfrage der Tanzschule. Sie wollen einen LED-Sternenhimmel haben, der sich individuell steuern lässt, ebenso wie die Spots und Lichtvouten.«
»Die Fata Andromeda«, entfuhr es Viktor. »Ich reiße lieber Decken ein, damit Menschen unter echten Sternen tanzen.«
»So«, sagte Anton leise, und die Worte kamen wie ein Seufzer über seine Lippen: »Das ist dein Problem: Arroganz. Je weniger Kunden wir haben, desto aufsässiger wirst du. Sanieren wir einfach ein Haus von reichen Leuten, das wäre …«
»Zeitverschwendung«, fiel Viktor ihm ins Wort. »Wenn wir damit anfangen, dekorieren wir Villen, und zwar ein Leben lang.«
»Irrtum. Wir haben kein Leben mehr«, blaffte Anton, nahm die Brille ab, und putzte die Gläser mit dem Zipfel seines Hemdes. Viktor wandte seinem Partner den Rücken zu und begab sich an seinen Schreibtisch. Durch die offenstehende Tür seines Büros sah er die Praktikantin aus Barcelona kommen. Jeden Morgen warf sie ihre Tasche auf den Boden, blickte sich dann forsch um, dann einem ihrer beiden Chefs in die Augen, dann kochte sie missmutig Kaffee: In diesem Ablauf der immer gleichen Gesten verbarg sich eine einzige Aufforderung – gebt mir endlich Arbeit!
Die Stille im Studioraum bedrückte Viktor, er schlich sich an den Zeichentisch und blätterte die letzten Entwürfe zum Dune House durch, das die Presse weltweit elektrisiert hatte, das aber nun, wie es aussah, niemals gebaut werden sollte. Er sah das Architekturmodell vor sich stehen und hielt inne; dort lag ein weiteres Modell im Maßstab 1 : 100, und ein noch genaueres im Verhältnis 1 : 50. Nur ein einziger Maßstab war ihm nicht geglückt: 1 : 1. Ein ganz normales Haus, kein Palast aus Pappe.
Er streckte den Rücken und wurde auf ein Objekt auf seinem Schreibtisch aufmerksam. Er nahm es in beide Hände, besah es sich genauer: Eine nicht gerade kleine Statue, ihre Beine waren zum Lotussitz verschränkt, sie thronte auf einem Sockel voller kryptischer Inschriften.
»Was hat es damit auf sich?«, rief er ins Studio.
»Interessant, dass dir das Ding jetzt erst auffällt. Du musst ganz schön verpennt sein.« Anton schlurfte langsam auf Viktor zu, stand schließlich vor ihm, in der gebeugten Haltung eines schlaksigen Hünen, und reckte betont langsam den Zeigefinger empor. »Darf ich vorstellen? – Das … ist Xochipilli. Bei den Azteken die Göttin des Tanzes, der Blumen und der Künste.«
Viktor lächelte. »Und sie kommt?«
»Kam per Post. Mach sie auf.«
»Auf?« Er fingerte an der Statue herum. Sie wog schwer in seinen Händen. Er hob sie hoch, wendete und prüfte sie von allen Seiten – und wusste nicht wie.
»Hier.« Anton drückte auf einen Knopf am rechten Ohr der Statue. Ihr Schädel poppte auf. Viktor fischte ein Bündel Dokumente heraus, die er auf den Schreibtisch legte, sein Augenmerk fiel auf einen bedruckten Briefumschlag: Xinatli, die Vision.
»Öffne ihn und lies selbst! Dürfte dich interessieren«, sagte Anton.
Viktor räusperte sich, las dann laut vor: »Können wir noch berührt werden, wenn uns die Kunst nicht mehr berühren kann?« Er blickte auf, die Frage war groß, er fand sie sympathisch. Sein Studiopartner hatte bereits die Arme vor seiner Brust verschränkt und fixierte einen unsichtbaren Fleck an der Wand. Viktor las weiter. »Nie war die Kunst so frei. Vor allem in der westlichen Hemisphäre. Weder formale Kriterien noch Deutungen weisen sie in ihre Schranken. Sie kann zieren oder verstören. Sie pocht auf Autonomie, obgleich sie allein vom Markt entschieden wird, vom Magnetismus der Aufmerksamkeit. In einer Zeit schreiender Ungerechtigkeit, in einer Ära der Armut, Migration und Naturzerstörung erscheint dies überflüssiger denn je. Wir brauchen ein weitaus globaleres Verständnis von Kunst. Wir brauchen: einen Klimawandel im Geiste.« Viktor griff nach einem Stift, machte Randnotizen auf dem Briefbogen – und las weiter. »Zu selten riskieren Museen, aufs Ganze zu gehen und unser aller Zusammenleben durch neue Ideen voranzubringen. Es ist an der Zeit, dass sich Kunst am Leben inspiriert, nicht an seiner Entfremdung. Es ist ebenso an der Zeit, unserer kalt rechnenden Ökonomie eine erotisierende Ökologie gegenüberzustellen. Kunst kann eine nie dagewesene Beziehung mit der Natur eingehen, sobald sie ihrer Fülle, ja, ihrer poetischen Kraft nachgeht und den Zyklus von Wachsen, Vergehen und Werden verinnerlicht. Was würden wir über unseren Wirkungsrahmen als Mensch lernen können, wenn wir uns nicht mehr über die Natur erheben, sondern sie in unsere schöpferischen Möglichkeiten aufnehmen und in ihnen weitertragen? Xinatli soll ein neuer Außenposten sein, wo wir erforschen können, was für unser Leben das Miterleben bedeutet. Menschen jeglicher Herkunft sollen sich gegenseitig erfahren dürfen. Am Ende wird Xinatli nicht nur ein Ort sein, sondern eine lebendige Philosophie des Zusammenlebens im 21. Jahrhundert garantieren. Unterzeichnet. Fernanda Raíz.«
Viktor stockte. »Fantastisch! Aber wer ist diese Fernanda Raíz?«
»Tja.«
»Sag schon. Wer ist diese Frau?«
»Eine mexikanische Kunstsammlerin. Tochter von einem hohen Tier irgendeiner Bergbaufirma. Reiche Erbin – und ein Phantom. Sie scheut Auftritte in der Öffentlichkeit.«
»Wie kommt sie auf uns?« Viktor blätterte durch die übrigen Dokumente, hob kurz bedeutungsvoll die Hand, ließ sie wieder sinken, blätterte weiter, sah plötzlich den Namen Damion auf der Projektliste stehen und spürte ein flaues Gefühl im Magen.
»Wir sollen ein Gebäude im Dschungel entwerfen«, sagte Anton.
»Was?«
»Ein Museum. Im mexikanischen Dschungel«, wiederholte er ungeduldig. »Das hier ist die Ausschreibung für das Hauptgebäude der Sammlung und für ein sogenanntes Respirationszentrum, eine Art Hotel, vermute ich.«
»Wo befindet sich die Baufläche?«
»Das ist jetzt nicht dein Ernst!«
»Wo befindet sich die Baufläche?«
»Ich habe sie auf keiner Karte finden können, wohl an der Grenze zwischen Chiapas und Tabasco.«
»Sagt mir nicht viel. Ich war einmal in Yukatan und an den Stränden der Riviera Maya, mit Rebekka … Tja … Wer sind die Auftraggeber?«
»Eine Stiftung. Finanziert von Fernandas Holding.«
Viktor griff nach der Ausschreibung, las sie Zeile um Zeile mit lauter Stimme vor, die mit jeder weiteren Information kraftvoller, ja regelrecht lebendig klang. Schließlich blickte er zu Anton empor: »Unsere Chance, nicht wahr?«
Anton hielt die Arme noch immer vor seiner Brust verschränkt. »Was genau? Ein Museum im Dschungel? Ein Ort, der auf keiner Karte verzeichnet ist? Die Ausschreibung einer Bergbautycoon-Erbin, die sich irgendwann vor lauter Langweile dazu entschlossen hat, Kunst zu sammeln und nun auch noch einen auf grüne Weltverbesserin macht?«
»Wann läuft die Einreichung ab?«
»In zwei Wochen.«
»In zwei Wochen?«
»Dann müssten wir unsere Ergebnisse präsentieren«, erklärte Anton. »Vier oder sechs Leute. Fernanda Raíz kommt persönlich vorbei.«
»Gut«, sagte Viktor.
Anton stöhnte auf. »Schau dich mal um! Was siehst du?« Er ließ seine Hand mit der Brille durch den Raum wandern, ehe er nachsetzte: »Eine Streichholzschachtel. Unser Büro ist ein Witz! Ein schlechter Witz ohne Pointe! Wir sollen hier, genau hier, ein Gremium internationaler Investoren empfangen? Du bist einfach bekloppt!«
Viktor atmete durch. Es stimmte, sie probten noch immer Professionalität, er und sein Partner: Zwei Schreibtische und ein Zeichentisch, das Labor mit den Lehmsteinen, die Küche mit der Herdplatte, die nicht mehr heizte und neben dieser ein Kühlschrank, der nicht mehr kühlte, dazu ein Berg leerer Flaschen, die davon zeugten, dass er den Kaffee gerne auch mal mit einem Schuss Whisky verdünnte.
»Das hier ist eine Nummer zu groß für uns«, sagte Anton.
»Museen sind die Kathedralen unserer Zeit.«
»Und?«
»Dafür sind wir Architekten geworden.«
»Du bist ein Architekt ohne Bauwerke!« Anton machte wütend kehrt, drehte sich nach kaum zwei Schritten erneut zu Viktor um und brüllte ihn mit ausgestrecktem Zeigefinger an: »Du verblüffst nur, du erschaffst nichts, rein gar nichts!« Seine Nasenflügel bebten. »Das Leben spielt sich nicht auf Zeichenpapier ab. Was du bis heute allerdings nicht begriffen hast. Aber genau deswegen hat dich auch Rebekka verlassen!« Er hatte gesagt, was er zu sagen hatte und verließ mit hochrotem Kopf den Raum. Viktor griff nach einem Stift, hielt ihn lange aufrecht vor sich. Die Erinnerung an Rebekka tat noch immer weh. Er atmete auf und versuchte gedanklich abzutauchen. Vor seinem inneren Auge fokussierte er tropische Landschaften. »Ein Museum im Dschungel«, murmelte er.
Der Strich auf dem Papier kam zunächst zitternd, seine Hand aber wurde jetzt ruhiger und ein Umriss erkennbar. Ein Umriss, der nichts erkennen ließ. Brillant, dachte Viktor, brillantes Mittelmaß. Er sah das Gebäude nicht vor sich, er sah es verschwinden. Er sah den Grundriss als Grube, als gähnende Leere in sich selbst, und spürte, wie ihm das Wunder der großen Idee entglitt. Eine Idee, wie so viele in seinem Leben, die als Luftschlösser zerplatzten. Er sollte endlich Villen sanieren, wie es Anton vorgeschlagen hatte, gerade eben erst, er sollte endlich seine naiven Ansichten zur Ausnüchterung in die für Realismus zuständige Region seiner Hirnzellen stecken und besser spät als nie akzeptieren, dass das Leben leichter wird, wenn man seine Ideale über Bord wirft und sich einfach einreiht. Man kommt weiter, wenn man sich einreiht, und wenn man das nicht tut, bleibt man eben auf der Strecke. Existenzen enden nicht mit einem Knall. Sie zerfallen leise.