Kitabı oku: «Darwin schlägt Kant», sayfa 12

Yazı tipi:

6.5Das erkenntnisleitende Interesse

»Erkenntnisleitendes Interesse« ist ein Begriff der Frankfurter Schule. Er steht im Zentrum einer von Jürgen Habermas formulierten umfassenden Gesellschafts- und Wissenschaftskritik. [29; 30] Die Bezugssysteme, auf die sich Wissenschaften stützen, sind durch Wertungen und Interessen geprägt. Sobald man die wissenschaftlichen Erkenntnisse auf diese Bezugssysteme bezieht, »zerfällt der objektivistische Schein [der Wissenschaften; F. U.] und gibt den Blick auf ein erkenntnisleitendes Interesse frei«. [29, S. 155]

In einem allgemeineren Sinn beschreibt das erkenntnisleitende Interesse den Einfluss, den eigene Interessen darauf ausüben, was wir für wahr halten. Sichtweisen, die uns nutzen, haben eine sehr viel größere Chance, vehement als Wahrheit vertreten zu werden, als solche ohne einen persönlichen Nutzen.

Diese Verzerrungen erfolgen manchmal bewusst. Häufiger sind sie aber das Ergebnis psychischer Mechanismen. Sie stellen dann einen Spezialfall der Ausrichtung unserer Urteile an einem bequemen und/oder vertrauten und/oder emotional stimmigen psychischen Erleben dar. Nicht, dass man es nicht wissen könnte, dass sich die Urteilsbildung an eigenen Interessen ausrichtet und durch sie beeinflusst wird. Aber es sind all die dienstbaren Verzerrungsmechanismen des RSG-Modells am Werk, diesen Zusammenhang in die weite Ferne einer bestenfalls nur punktuell aufflackernden Ahnung zu schieben, ihn ansonsten aber umzudeuten und zu verschleiern. Dabei ist die Wissenschaft mit ihren hohen moralischen Ansprüchen vor dem Einfluss offensichtlicher oder verdeckter Interessen alles andere als gefeit.

Zwei Beispiele:

Man kann auf den jahrzehntelangen Kampf von Lobbyisten der Tabakindustrie verweisen. In von den Tabakkonzernen finanzierten Studien wurde lange Zeit bestritten, dass Rauchen gesundheitsschädlich sei. Als diese Position nicht mehr aufrechtzuerhalten war, entstanden jahrelang von gleicher Seite in Auftrag gegebene »hochwertige wissenschaftliche Studien« mit der Aussage, dass zumindest Passivrauchen keine Gefahr darstelle. Es wurde gelogen, es wurden Anwälte eingespannt und Medien manipuliert, um unliebsame Wahrheiten zu unterdrücken. Der Umgang mit Kritikern grenzte an mafiöse Methoden (vgl. Kap. 8.7).

Die Steuerung von Forschungsvorhaben und -ergebnissen findet über die Auswahl von Studien statt, die realisiert werden, über die Vergabe von Forschungsgeldern, über Fortbildungen oder schöne Hochglanzprospekte. Dafür gibt es viele Belege. Henry Thomas Stelfox untersuchte Wirksamkeitsnachweise von Calciumantagonisten – Medikamente, die u. a. bei der Behandlung von Bluthochdruck und Angina pectoris eingesetzt werden. »96% der Autoren, die in ihren Studien zu positiven Ergebnissen […] kamen, waren […] finanziell unterstützt worden.« Bei Autoren, die sich kritisch zur Verwendung äußerten, waren es nur 37 Prozent. [31, zitiert nach 19, S. 31]

Was zeigen uns diese Beispiele? Unvollständige, selektierte Informationen, die Objektivität vorgaukeln, aber zu völlig verzerrten Resultaten führen können. Also die WYSIATI-Regel in Reinkultur. Runde, stimmige Geschichten, die bequem oder nützlich sind, die Vermeidung kognitiver Dissonanzen, ein Denken in bequemen, ausgetretenen Pfaden, das fehlende Bewusstsein von Schwächen und Grenzen naturwissenschaftlicher und speziell statistischer Methoden, die Tendenz zur Generalisierung und vieles mehr. Alles typische Elemente des RSG-Modells.

Die Wissenschaft ein Ort objektiver Glückseligkeit? Alles andere als das. Sie ist durch die gleichen Fehlerquellen und Verzerrungsmechanismen geprägt, die untrennbar mit der menschlichen Vernunft verbunden sind. Auch die naturwissenschaftliche Methode ist hier keine Ausnahme. Ihre besondere Gefahr liegt genau darin, dass sie von vielen als eine solche Ausnahme und als Königsweg zu objektiver Erkenntnis propagiert wird. Genau deshalb bietet sie eine gute Grundlage für verhängnisvolle und hartnäckige Fehlbeurteilungen.

6.6Das Hamsterrad dreht sich immer und überall

Thomas S. Kuhn, der von Hause aus Physiker war, schrieb 1962 ein Buch über wissenschaftliche Revolutionen, das als eines der wichtigsten Werke der Wissenschaftstheorie gilt. [32] Er unterscheidet Phasen der Normalwissenschaft von wissenschaftlichen Revolutionen. Bei wissenschaftlichen Revolutionen kommt es zu einer Änderung zentraler Paradigmen.

Dabei sollte nicht vergessen werden, dass die wissenschaftliche Revolution von heute der Normalbetrieb von morgen ist. Dieser Normalbetrieb von morgen schwebt stets in der Gefahr, durch die wissenschaftliche Revolution von übermorgen in der Zukunft nur noch mit Kopfschütteln zur Kenntnis genommen zu werden. Die Phase der Normalwissenschaft ist diejenige, in der Aristoteles und all seine Schüler merkwürdige Lehren über physikalische Sachverhalte verbreiteten, ohne sich der Merkwürdigkeit bewusst zu sein. Es ist die Phase, in der Christoph Kolumbus fest davon überzeugt war, in Indien gelandet zu sein, und vehement die Möglichkeit bestritt, dass er selbst einen neuen Kontinent entdeckt haben könnte.

Die Wissenschaft bewegt sich im Normalbetrieb in einer Art Hamsterrad. Sie kann nicht unterscheiden, was sie mit ihrer aktuellen Weltsicht, den jeweils gut etablierten Werten und Theorien bzw. den vorherrschenden Paradigmen zutreffend identifiziert und erklärt und was sie mit ihren Paradigmen nicht einmal im Ansatz sehen kann und deswegen ignoriert, verdeckt oder verzerrt. Innerhalb des Hamsterrades geht alles logisch auf. Alles wirkt stimmig und rund. Die Kunst wäre es, aus einer hypothetischen Perspektive in der Zukunft einen Blick auf die Gegenwart werfen zu können oder irgendeinen anderen Weg zu finden, der uns in die Lage versetzt, aus einer theoretischen Außenperspektive auf das eigene Hamsterrad zu schauen. Die wenigsten Wissenschaftler wollen das. Denn sie bevorzugen es, sich auf ausgetretenen, vorgegebenen und deswegen sicheren Bahnen zu bewegen. Die wenigsten können das, weil es ein schwieriges Unterfangen ist, sich von den aktuell vorherrschenden Paradigmen so weit zu lösen, dass zumindest teilweise ein davon unabhängiger Blick ermöglicht wird.

Das betrifft aber nicht nur die Wissenschaft. Die Wissenschaft ist nur ein spezieller Anwendungsfall dieser Tendenz, die der menschlichen Natur zutiefst naheliegt. Wir mögen stimmige Geschichten. Wir vermeiden kognitive Dissonanz – mit all den beschriebenen Mechanismen und Konsequenzen des RSG-Modells. Daher kann es nicht erstaunen, wie langlebig die Irrtümer des Normalbetriebs der Wissenschaft sind. Denn sie befinden sich in einem sich immer wieder selbst bestätigenden Zyklus von selektiver Beobachtung und selektiver Erkenntnis auf dem Boden vermeintlich gesicherten Wissens und etablierter Normen und Werte. Solange die Menschen glaubten, die Erde sei eine Scheibe, machten sie jeden Tag eine Fülle persönlicher Beobachtungen, die diese Erkenntnis bestätigten. Man muss doch nur geradeaus schauen. Dann sieht man, dass man bis zum Horizont eine gerade Fläche vor sich hat. Das Meer, das Land, die Berge, alles basiert auf geraden Flächen. Nirgendwo sieht man etwas Rundes. So selbstverständlich es uns heute vorkommt, dass die Erde keine Scheibe ist, so selbstverständlich war genau das Gegenteil für die Menschen, die in den Zeiten lebten, bevor dieses Paradigma verändert wurde.

Übrigens nehmen die Anhänger der Theorie, dass die Erde doch eine Scheibe sei, aktuell stark zu. Dabei berufen sie sich mehrheitlich auf die Bibel, in der stehe, dass die Erde eine Scheibe sei, weshalb es gar nicht anders sein könne. So einfach ist das. Einige Anhänger dieser Theorie versorgen die Gemeinschaft mit empirischen Befunden aus eigenen Forschungen. Sie fahren mit dem Schiff auf dem Meer und mit dem Auto auf dem Land herum und berichten, nirgendwo am Horizont eine Krümmung gesehen zu haben. [33; 34] Es ist eine der fatalen Schattenseiten des Internets, dass diese und viele andere Absurditäten und Verschwörungstheorien auf dem Vormarsch sind und zunehmend Anhänger gewinnen.

Die Tendenz zu verzerrenden Einengungen auf nicht kritisch hinterfragte Paradigmen gilt selbstverständlich nicht nur für die Wissenschaft, sondern für alle Erkenntnisse und Sichtweisen. Teilweise handelt es sich um kollektiv vertretene Positionen, die für eine bestimmte Zeitepoche typisch sind. Im antiken Griechenland und im antiken Rom war Sklavenhaltung ein etabliertes Element der Gesellschaftsordnung. Das war so normal, dass kaum jemand Sklavenhaltung als merkwürdig empfunden hätte. Vielleicht wird es irgendwann in Zukunft einmal so sein, dass man auf uns kopfschüttelnd und mit Unverständnis blickt, weil wir unsere Ernährung zu einem großen Teil durch das massenhafte Quälen und Töten von Tieren sicherstellen.

6.7Skandal um Rosi

Gesellschaftliche Sichtweisen bzw. Paradigmen ändern sich fortlaufend. Manchmal handelt es sich um sehr grundsätzliche Dinge, manchmal geht es um Kleinigkeiten, die uns nicht bewusst auffallen.

Giorgio Vasari war ein 1511 in Arezzo geborener Architekt und Hofmaler. Er wusste die neuen Möglichkeiten des modernen Buchdrucks zu nutzen. Vasari verfasste Biografien über Leonardo da Vinci, Michelangelo und andere Künstler. Er hob vermeintliche Eigenheiten hervor und schuf damit den Typus des genialen, aber exaltierten oder sich an der Grenze zum Wahnsinn bewegenden Künstlers. Galten Künstler bislang eher als Handwerker, wurde nun ein Nimbus geschaffen, der einen regelrechten Starkult begründete. Das Beispiel zeigt, wie durch bestimmte Darstellungsweisen gesellschaftliche Wahrnehmungen und damit gesellschaftliche Realitäten geprägt und verändert werden können.

Wenn wir heute Kriminalfilme aus den 1950- oder 1960-Jahren sehen, dann ist es darin selbstverständlich, dass der Kommissar den Beschuldigten in einem Verhör mit seiner Zigarette oder Zigarre vollqualmt. Heute fällt uns das auf. Damals war es normal und ein Aspekt, der von den meisten Zuschauern gar nicht bemerkt wurde.

Sieht man sich heute einen James-Bond-Film aus den 1960er-Jahren an, dann scheinen manche Bemerkungen aus heutiger Perspektive in sexistisch anmutender Weise anzüglich. Die meisten Frauen in dieser Zeit nahmen die Rolle eines Dummchens ein, das den Meisterspion umgehend und vehement anhimmelte und ihm sofort zur Verfügung stand. Das alles ist heute ein wenig subtiler dargestellt.

Im Kanton Aargau in der Schweiz bediente im Herbst des Jahres 1968 eine gewisse Rosemarie in der »Rose«, der Dorfkneipe des Ortes Baldingen. Rosemarie gelangte damals zu nationaler Berühmtheit. Was war der Grund? Sie bediente in einem Minirock, der nach heutigen Maßstäben nicht einmal besonders knapp ausfiel. Die Schweizerische Boulevardzeitung »Blick« titelte süffisant: »Beiz dank dem Mini-Streit bumsvoll!« (Beiz: schweizerisch für Kneipe), und in der Tat drängelte sich die Kundschaft, um sich von der legendären Rosemarie in der »Rose« bedienen zu lassen. Die Gemeindeverwaltung sah Ordnung und Sitte in akuter Gefahr und drohte damit, die »Rose« zu schließen. Denn man habe beobachtet, dass die Röcke immer kürzer geworden seien, und erachtete die Kleidung von Rosemarie als »unschicklich und unsittlich«. Sie grenze »an den verbotenen Tatbestand des Animierens«. Eine Szene, die sich nicht heute in Saudi-Arabien oder bei uns im Mittelalter ereignete, sondern mitten in Europa vor gerade einmal gut fünfzig Jahren. [35]

Nehmen wir ein letztes Beispiel aus dem Filmbereich. Heutzutage sind sehr schnelle Schnitte in Spielfilmen und in der Werbung weit verbreitet. Das prägt die Sehgewohnheiten der Zuschauer. In den 1960er- und 1970er-Jahren waren längere Filmszenen üblich und zum Teil auch längere Dialoge. Nicht wenige Zuschauer empfinden lange Filmszenen oder längere Dialoge heute als langweilig. Das Gefühl der Langeweile kommt dadurch zustande, dass sie an die schnellen Einstellungswechsel, die hohe Kadenz von Filmschnitten und an kurze, auf rasche Pointen ausgerichtete Dialoge gewöhnt sind. Das führt dazu, dass es schwieriger ist, längere Szenen oder längere Dialoge auszuhalten. Den Betroffenen wird aber zumeist nicht auffallen, dass sie einem Wahrnehmungsparadigma unterliegen. Sie werden häufiger aufgrund dieses Wahrnehmungsparadigmas, das sie internalisiert haben, die heutige Machart von Filmen interessanter und die frühere als langweiliger wahrnehmen. Die Vorteile und Möglichkeiten, die mit längeren Filmszenen und längeren Dialogen verbunden sind, und die Nachteile, die mit kurzen, sehr schnell wechselnden Szenen und kurzen Dialogen einhergehen, entgehen den meisten so trainierten Zuschauern.

Paradigmen sind demnach längst nicht auf die Wissenschaft beschränkt. Sie kommen in Form von Wahrnehmungsgewohnheiten, Theorien, Überzeugungen, kulturellen Gewohnheiten und Normen, anerkanntem expliziten und impliziten Wissen vor. Der Prägung durch diese Paradigmen kann niemand vollständig entgehen. Es lohnt sich aber, sich der Existenz und der prägenden Bedeutung der aktuellen Paradigmen bewusst zu sein. Es kann sich um Paradigmen handeln, die die gesamte Menschheit betreffen, bestimmte Gesellschaften, bestimmte Gruppen oder auch nur einzelne Personen. Es gibt Paradigmen, die eine überzeugende und nachhaltige Substanz haben. So ist zum Beispiel die Erkenntnis, dass die Erde sich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, ein solches nachhaltiges Paradigma. Aus heutiger Sicht hat es gute Aussichten, dauerhaft Bestand zu haben. Es ist im Einzelfall aber aus der Gegenwart heraus oft schwierig zu beurteilen, welche der geltenden oder auch nur individuell akzentuierten Paradigmen eine ähnlich dauerhafte Substanz besitzen oder sich in späteren Zeiten als falsch herausstellen werden.

7Pragmatisch-phänomenologische Betrachtungsweise

Wir haben uns ausgiebig mit Schwachstellen von Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen beschäftigt. Das RSG-Modell beschreibt den Subjektivierungsprozess, der jede Menge Mechanismen beinhaltet, die geeignet sind, Realität zu verzerren und in eine subjektiv stimmige Wirklichkeit zu transformieren. Besonders heikel sind alle Formen der Ordnung, wie sie zum Beispiel als Regeln, Konzepte, Theorien oder Organisationsformen vorkommen. Denn sie haben eine starke Generalisierungstendenz, durch die sie aufgrund einer sich selbst verstärkenden Eigendynamik zum Selbstzweck werden. Das alles spielt sich im archaischen Spannungsfeld der beiden evolutionären Pole der menschlichen Natur (egoistische Selbstbehauptung bzw. Wille zur Macht versus evolutionäres Kooperationspotenzial) ab. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es Vorgehensweisen gibt, die den möglichen Risiken Rechnung tragen.

Ich favorisiere in diesem Zusammenhang eine Haltung, die ich als pragmatisch-phänomenologische Betrachtungsweise bezeichne. Da der Begriff »phänomenologisch« Spielraum für zahlreiche Interpretationen lässt, will ich versuchen, den Kern dieses Vorgehens nachfolgend zu beschreiben.

Von zentraler Bedeutung ist es, die Augen aufzumachen, hinzuschauen, genau zu beobachten, Informationen zu registrieren, und all dies, ohne die Wahrnehmung schon von vornherein durch das enge Raster einer implizit vorhandenen Urteils- bzw. Vorurteilsstruktur zu zwängen.

Eine große Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Fokussierung auf die Praxis. Bei jeder Theorie ist zu prüfen, welche Konsequenzen und Wirkungen sie in der Praxis hat. Diese Perspektive ist ein wichtiges Korrektiv, um Fehlentwicklung in theoretischen Ordnungsprinzipien erkennen zu können. Wenn eine Regel, ein Konzept, eine Theorie oder eine Organisationsform in der Praxis schädliche Wirkungen hat, dann spricht das gegen das theoretische Ordnungsprinzip. Es ist dann falsch, unvollständig oder zumindest missverständlich. In jedem Fall kann das Ordnungsprinzip dann nicht unverändert aufrechterhalten oder sogar unkritisch erweitert werden. Der neugierige und gleichzeitig nüchterne Blick auf die Praxis, auf den Alltag, auf das Konkrete und Banale ist ein wichtiges Element des pragmatisch-phänomenologischen Ansatzes.

Dieses Element soll beispielhaft anhand der Theorie der Psychosomatik verdeutlicht werden.

7.1Beispiel für theoriegeleitete Fehlentwicklungen: Der Fluch der Psychosomatik

Die Theorie der Psychosomatik ist ein Beispiel dafür, wie ein ursprünglich sehr plausibler Grundgedanke zu einer sich immer weiter selbstverstärkenden Fehlentwicklung führte. Einerseits saugten sich viele Autoren wilde, eigenlogische Konzepte aus den Fingern, andererseits führte die Theorie im Alltag zu vielen schädlichen Wirkungen.

Eigentlich geht es um einen sinnvollen Gedanken. Dazu habe ich an anderer Stelle ausgeführt: »Körperliche und psychische Vorgänge sind eng miteinander verknüpft. Das gilt auch für körperliche Symptome oder Erkrankungen. Wir alle wissen, wie psychische Zustände intensive körperliche Veränderungen hervorrufen können. Empfinden Sie Angst, reagiert der Körper auf vielen Ebenen. Ebenso verändert er sich eindrucksvoll, wenn Sie ausgeprägte Freude spüren.« [19, S. 186]

In vielen Studien konnte gezeigt werden, wie stark psychische Faktoren und innere Glaubenssätze körperliche Reaktionen beeinflussen und auch zur Heilung von Krankheiten beitragen können. [U. a. 36] Es ist das Verdienst der Psychosomatik, auf diese Zusammenhänge hingewiesen zu haben. Lange Zeit ging man aber nicht der Frage nach, welchen konkreten und individuellen Nutzen man aus diesem Ansatz für Patienten erzielen kann.

»Die frühen Theoretiker, ihres Zeichens Anhänger klassischer Therapieschulen, begannen nach alter Manier, defizitorientierte Kataloge zu erstellen. Mochten die hinter den Krankheiten entdeckten Persönlichkeitsdefizite auch komplex erklärt werden, so handelte es sich doch um nichts anderes als um hypothetische eindimensionale Kausalerklärungen: Wenn Bluthochdruck, dann aggressionsgehemmt, wenn Duodenalgeschwür, dann ›pseudo-unabhängig‹. [37; 38]

So glaubte beispielsweise Mirsky bei Ulkus-duodeni-Patienten an eine erhöhte Sekretion von Pepsinogen von Geburt an. Darum verlaufe die orale Phase unbefriedigend und es entstehe die auch von anderen Autoren beschriebene ›orale Fixierung‹. Werden in der analen Phase gegen die oralen Abhängigkeitsbedürfnisse anale Reaktionsbildungen produziert, so sei die typische ›Ulkus-duodeni-Dynamik‹ entstanden. Wird dieser unbewußte Konflikt im späteren Leben aktiviert, dann entstehe das Geschwür. [39]

Später fand man heraus, daß 50% der Ulkus-duodeni-Patienten normale Pepsinogenwerte zeigten. Das gab zur Vermutung Anlaß, daß bei diesem Teil der Patienten eine andere Psychologie zugrunde liegen oder aber bei ihnen die Psychologie schlicht eine weniger bedeutsame Rolle spielen könnte.

Das klassische Psychosomatikkonzept geht davon aus, daß ein körperliches Symptom in irgendeiner Form eine innerpsychische Abwehr bedeutet, also eine unteroptimale innerpsychische Konfliktlösung. Die körperliche Erkrankung wird damit in die Nähe eines Verdrängungsprozesses gerückt. Etwas, das im Bewußtsein nicht erlebt wird, sucht sich eine Ausdrucksmöglichkeit in körperlichen Symptomen. Gegenüber diesem klassischen Kausalschluß geht eine alternative Betrachtungsweise von einem anderen Entstehungszusammenhang aus. Körperliche Symptome werden durch negative Kognitionen und Konzeptionalisierungen in einen Teufelskreis sich verstärkender, negativer Wechselwirkungen geschickt. [40]

In diesem Ansatz wird der Zusammenhang zwischen Gefühlen, Kognitionen und körperlichen Symptomen nicht in einem derart einfachen Kurzschluß eines kausalen Beziehungsgefüges gedacht. Vielmehr beinhalten die Entwicklungen unspezifische Aktivierungen bestimmter Hirnregionen und vielfältige physiologische Regulationsprozesse. In einer zirkulären Eigendynamik führen sie zu Somatisierungserscheinungen.

Nun mag man sich in der Theorie über verschiedene Ansätze streiten. Wir wollen aber einen Blick auf den praktischen Behandlungsalltag werfen. Die Psychosomatikidee verwandelte sich in der Praxis endgültig zum Fluch. Differenzierte Psychosomatikkonzepte drangen erst gar nicht in den Alltag. Hier wurde die vereinfachende Verdrängungsidee – körperliches Symptom = verdrängte unbewußte Konflikte –, über die sich so viele tiefenpsychologische Experten ausgelassen hatten, als eine nie weiter hinterfragte oder zu konkreten Handlungskonzepten führende Idee dankbar aufgenommen. Ausgehend von einem ursprünglich konstruktiven und potentiell hilfreichen Ansatz über eine fragwürdige theoretische Ausrichtung erwachte die Psychosomatik so im Alltag nur zu oft in der Gestalt eines zähnefletschenden, destruktiven Ungeheuers zum Leben.

Denn in der Praxis warteten schon viele (Möchtegern-)Therapeuten darauf, ein Instrument in die Hand zu bekommen, um alte besserwisserische Haltungen auf neue Bereiche ausdehnen zu können.

›Das ist doch psychosomatisch! Das hat eindeutig psychosomatische Ursachen!‹

Kennen Sie solche Sätze? Waren sie jemals der Startschuß, dem Patienten verständnisvoller entgegenzutreten, sich mit ihm auf einen aussichtsreichen Weg der Weiterentwicklung zu begeben?

Das habe ich selten gesehen. Im Gegenteil offenbarten viele Haltungen und Einstellungen, die mit dem Psychosomatikkonzept verbunden sind, im Alltag ausgesprochen destruktive Wirkungen. Es sind aber genau diese hinter den Worten stehenden Haltungen und Einstellungen, die Einfluß auf den Patienten und seine Behandlung ausüben. Sie zeigen sich in Gestik, Stimme und Mienen von Mitarbeitern, in ihrem Verhalten gegenüber Patienten. Sie werden handfest sichtbar, in den Planungsentscheidungen zum Umgang mit dem Problem des Patienten und in der weiteren Managementstrategie.

Nehmen wir die Haltung der Nützlichkeitspsychologie ein und stellen die entscheidende Frage: Was nutzt die neue Theorie in der Praxis, welche Konsequenzen zeigen sich im Alltag? Schauen wir nun mit Röntgenblicken hinter die wohlklingenden Worte der Psychosomatik, dann müssen wir ein erschreckendes Bild betrachten.

Psychosomatik ruft im Alltag oft eine merkwürdige Vorwurfshaltung gegenüber dem Patienten hervor: ›Das ist doch psychosomatisch …‹. Sie führt schnell zu ärgerlichen oder gar feindseligen Haltungen der Mitarbeiter. Sie läßt bei den Profis ein Gefühl des tiefen Wissens über den Patienten entstehen. Man glaubt etwas zu wissen, was dieser nicht zu erkennen vermag. Das Symptom ist entschlüsselt und hat einen tiefen Blick auf die Abgründe des Patienten freigegeben. So baut sich eine gesteigerte Asymmetrie zwischen Mitarbeitern und Patient auf, die mit unterschwelliger Geringschätzung und Respektlosigkeit einhergeht. Die Erkrankung wird weniger ernst genommen, und Symptome erhalten weniger Aufmerksamkeit. Es läßt sich eine Reihe destruktiver Haltungen finden, die mit der Psychosomatikidee verbunden werden.

Hierzu einige Übersetzungen: ›Das ist psychosomatisch …‹, kann im praktischen Umgang bedeuten:

1. Das Lehrer-Schüler-Muster:

›Ich weiß die Ursache für deine Symptome, die du nicht erkennen willst (kannst) …‹

Dieses Muster wird in verschiedenen Varianten gespielt:

›Ich weiß mehr über dich als du.‹

›Wir haben den Schlüssel (das ach so tiefe Verständnis) deiner Probleme in der Hand.‹

›Du mußt bei mir Therapie machen, mußt deine Persönlichkeitsdefizite anerkennen, nur dann kann dir geholfen werden.‹

›Wir können dir nicht helfen, aber wir wissen, warum es dir so schlecht geht.‹

2. Das Bestrafungs- und Schuldthema:

›Wenn du nicht an deinen Problemen arbeitest, bist du selber schuld, daß du krank bist.‹

›Wenn du nicht tust, was wir sagen, bist du selber schuld, daß du leidest.‹

›Wer psychisch so gestört ist, kein Wunder, daß der psychosomatisch krank ist.‹

›Wenn du nicht einsehen willst, daß wir recht haben, so bist du selber schuld, daß es dir so geht.‹

›Der kann doch nicht von uns Therapeuten erwarten, daß die Symptome verschwinden, er muß selber etwas tun.‹

Verschwinden die Symptome nicht, werden vielleicht gar stärker, dann hat der Patient nicht genug getan, nicht das Richtige getan, zu wenig an sich gearbeitet (frei nach dem Motto: Erfolge = Therapeutenkunst – Mißerfolge = Schuld des Patienten).

3. Entdeckung des sekundären Krankheitsgewinns:

›Der profitiert doch auf einem verschlungenen Weg von seinen Symptomen. Gut, daß wir das aufgedeckt haben. Der will doch krank sein.‹

4. Verminderte Aufmerksamkeit gegenüber der Krankheit:

Der Wunsch des Patienten nach körperlichen Untersuchungen wird feindselig, mißbilligend, ablehnend entgegengenommen. Schließlich ist es doch psychosomatisch. ›Will er das nicht endlich einsehen, statt uns mit seinen Klagen zu belästigen?‹

Das Weiterbestehen der Symptome wird ärgerlich zur Kenntnis genommen, so als habe der Psychosomatiker – als nicht echter Kranker – kein Recht auf Anteilnahme.

Zweierlei läßt sich am Beispiel der Psychosomatik beispielhaft und stellvertretend für andere Bereiche demonstrieren: Die Bedeutung grundlegender Glaubenssätze, Haltungen und Einstellungen, die sich in der praktischen Umsetzung hinter theoretischen ›Wortansammlungen‹ verbergen, entscheiden über die praktische Wirksamkeit. Wie ein Messer, mit dem man sich ein schmackhaftes Brot schmieren oder einen Menschen verletzen kann, ist die praktische Handhabung eines Instruments entscheidend dafür, ob es hilfreiche oder destruktive Wirkung hat. Zum zweiten zeigt die wissenschaftliche Diskussion, wie wenig diese entscheidende Seite die ›theoretischen‹ Theoretiker interessiert. Diese Theoretiker begnügen sich damit, daß ihre Gedanken auf dem Papier einen geordneten Eindruck hinterlassen. Jeder, dem die Psychiatrie am Herzen liegt, muß sich aber um den praktischen Alltag kümmern, in dem unsere Patienten leben. Hier haben sich Ideen zu beweisen, nicht auf blütenweißem Papier, das alles widerspruchsfrei zu schlucken bereit ist.« [19, S. 185–189]

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

₺811,49

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
732 s. 5 illüstrasyon
ISBN:
9783280090916
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi: