Kitabı oku: «Das Feuer brennt»
Das Feuer brennt
Olympische Geschichten
F.A.Z.-eBook 60
Herausgeber: Frankfurter Allgemeine Archiv / Evi Simeoni
Redaktion und Gestaltung: Birgitta Fella, Hans Peter Trötscher
Projektleitung: Olivera Kipcic
eBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg
Alle Rechte vorbehalten.
Rechteerwerb und Vermarktung: Content@faz.de © 2020 Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main
Titelbild: vat252/stock.adobe.com
ISBN: 978-3-89843-594-9
Inhalt
Zur Eröffnung: Das Vorwort
Von Tokio bis Tokio
Dabei sein ist alles – Die Reporter
Wo ist meine Story?
Tokio 1964
„Ich muss, muss, muss!“
Mexiko-City 1968
Der schwarze Anti-Rebell
München 1972
Leuchten und Dunkelheit
Montreal 1976
Unter Blitz und Donnergrollen
Moskau 1980
Im harten Griff der Politik
Los Angeles 1984
Im Fegefeuer der Besessenheit
Seoul 1988
Das gestohlene Gold
Barcelona 1992
Gesprungen, gerettet, gefeiert
Atlanta 1996
Die Würde des Verfalls
Sydney 2000
Für immer ein Rätsel
Athen 2004
Ein Bund für immer
Peking 2008
Blitz und Schatten
Am Anschlag
461 Kilo Kummer
London 2012
Die traurige Wahrheit
Eruption der Qual
Rio 2016
Die singenden Männer
Krieg im Pool
Dabei sein ist alles – Die Sportler
Dabei sein ist alles
Die Abschlussfeier: Ein Ausblick
Wir brauchen Olympia
Zur Eröffnung: Das Vorwort
Von Tokio bis Tokio
Von Evi Simeoni
Was wäre eine Sportredaktion ohne Olympische Spiele? Das war sehr lange Zeit nur eine rhetorische Frage. Bis der 24. März 2020 kam, an dem bekannt wurde, dass die Olympischen Spiele in Tokio wegen der Corona-Pandemie um ein Jahr verschoben sind. Plötzlich musste auch die Sportredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung innehalten und sich selbst diese Frage ganz ernsthaft beantworten. Ja, was wäre sie dann? Ohne Olympische Spiele ist sie nur schwer vorstellbar. Vielen Leistungssportlern ginge damit ihr wichtigster Traum verloren, vielen Sportreportern trotz aller Kritik an Funktionären und Fehlentwicklungen ihre wichtigste Inspirationsquelle. Also beschlossen die erfahrenen Olympia-Reporter der Zeitung, zum ursprünglichen Termin ihre eigenen Spiele abzuhalten. Sie gingen in sich und holten Erfahrungen hervor, die teilweise jahrzehntelang in ihrem Gedächtnis geschlummert hatten. Und siehe da: Ein Highlight nach dem anderen erwachte zu neuem Leben, von Tokio 1964 bis zum verschobenen Tokio 2020. Die gröbsten Entzugserscheinungen wurden so gelindert, und, wie sich an der Resonanz zeigte, nicht nur bei den Reportern, sondern auch bei vielen Lesern. Denn das Feuer brennt. Und zwar immer.
Im neuen Nationalstadion in Tokio hätten am 24. Juli 2020 rund 60000 Zuschauer die Eröffnungszeremonie der Sommerspiele der XXXII. Olympiade erleben können. Foto: picture alliance/AP Images
Dabei sein ist alles – Die Reporter
Wo ist meine Story?
Dabei sein ist alles. Improvisieren aber auch. Der klassische Olympia-Reporter ist ein Flaneur, der unermüdlich dazulernt und ständig auf der Suche nach Orientierung ist.
Von Roland Zorn
Die Versatzstücke des großen Sportkinos Olympia sind an jedem Wettkampftag dieselben: Es geht um Siege, Ehre, Medaillenglanz in einer Arena, die aufgeladen ist mit Gefühlen, Pathos, persönlichem plus nationalem Ehrgeiz. Übrig bleiben am Ende der möglichst dramatischen Konkurrenz aber auch die heldenhaften Verlierer, an die sich das Publikum noch Jahre später erinnert. Und natürlich Tausende Athleten, die ihren persönlichen olympischen Moment hatten, der die öffentliche Aufmerksamkeit nicht einmal streifte.
Mittendrin in dem Tag für Tag ähnlichen Unterhaltungsprogramm zwischen den Stars, die ihre goldenen Momente bis zur Neige auskosten, und den Komparsen, die zur Gesamtkomposition Olympischer Spiele als Farbtupfer des großen Ganzen gehören, suchen schreibende Reporter nach ihrer Geschichte zwischen der Unmittelbarkeit des Erlebten und dem Stoff, der jenseits der global transportierten Fernsehbilderflut zur individuellen Nachverwertung taugt. Für sie geht es darum, aus evidenten Dramen Geschichten zu machen, welche günstigenfalls den Tag überdauern, und aus peripheren Begegnungen Skizzen, die den Geist dieser ganz besonderen Sommer- und Winterfeste spiegeln.
Sie sind, mal beschreibend, mal erklärend, mal einordnend, mal kommentierend, Mittler zwischen den Schauplätzen, an denen sich das Spektakel unmittelbar, mal laut, mal leise, programmatisch verdichtet, und den weit entfernten Orten, an denen Leser die olympischen Showacts nacherleben wollen. Für manchen olympischen Begleiter aber, für den das Dabeisein bei den Spielen alles ist, empfiehlt es sich trotzdem, möglichst behutsam und nicht über die Maßen kennerhaft mit den Erlebnissen umzugehen, die jeder der fünfzehn Wettkampftage in Hülle und Fülle bietet. Das Gros der für eine solche panathletische Show akkreditierten Autoren ist mit der Fülle der olympischen Sportarten nicht allzu vertraut. Das kann auch Momente hervorrufen, die einem zunächst peinlich sind, wenig später aber ziemlich komisch vorkommen.
So erging es mir bei den Olympischen Winterspielen 1992 in Albertville. Da gewann zu seiner eigenen Überraschung der Berliner Eisschnellläufer Olaf Zinke die Goldmedaille im 1000-Meter-Rennen. Pech und Glück zugleich für mich, dass ich an jenem 18. Februar als einziger F.A.Z.-Reporter im nahen Pressezentrum war und, perplex wie Zinke selbst, dessen Sieg am Bildschirm erlebte. Olaf Zinke? Wie sieht der bloß aus, dachte ich auf dem Weg zur Eisschnelllauf-Arena über einen Olympiasieger nach, den ich nicht auf dem Schirm hatte. Auf den Sprinter Uwe-Jens Mey, der drei Tage vorher den 500-Meter-Lauf erwartungsgemäß gewonnen hatte, war ich vorbereitet. Er war schon zu DDR-Zeiten ein Star seiner Szene wie auch die über 3000 und 5000 Meter fast unschlagbare Erfurterin Gunda Niemann, die sich in Albertville ihren Weg zum Doppelgold bahnte. Seit Jahren vertraut mit der internationalen Eiskunstlauf-Elite, hatte ich mich vor der Reise in die Savoyer Alpen mit der Vita dieser nun für ganz Deutschland startenden Koryphäen ihres Sports beschäftigt. Über das Leben und die Laufbahn des Olaf Zinke aber wusste ich nichts.
Und das bekam ich auf Anhieb zu spüren, als ich kurz nach dessen goldenem Moment an der Freiluftarena L’Anneau de Vitesse ankam. Flugs sah ich auch einen Athleten im deutschen Trikot, der aber mit meinem Eingangssatz „Herr Zinke, herzlichen Glückwunsch zur Goldmedaille“ nicht viel anfangen konnte. Warum auch? Ich hatte den Falschen angesprochen: Peter Adeberg, der in Albertville Rang fünf belegte. Eher mürrisch wies der andere Berliner auf die Verwechslung hin: „Ich bin nicht Herr Zinke, Herr Zinke steht dort drüben!“ Aha. Also begann die Annäherung an einen Olympiasieger, der als Außenseiter in das Departement Savoyen gereist war und dort seinen schönsten Tag auf der Eisbahn erlebte, mit einem Ausrutscher. „Herr Zinke“ bekam davon nichts mit und parlierte munter über sich und seinen olympischen Feiertag.
So viel zur olympischen Begegnung zweier Überraschter. Dass ich, bei den Winterspielen wegen meiner Eiskunstlauf-Expertise oft eingesetzt, im selben Jahr auch noch bei den flirrenden Sommerspielen von Barcelona dabei sein durfte, kam mir wie ein großes Geschenk vor, weil ich schon vier Jahre zuvor in Seoul das hochintensive Gefühl ausgekostet hatte, zwei völlig überdrehte, kräftezehrende Wochen zwischen schierer Begeisterung über eine Fülle großartiger Leistungen und blankem Entsetzen über den Jahrhundert-Doping-Sündenfall Ben Johnson erlebt zu haben. Immer an einem Ort und doch stets mobil und woanders zu sein, ständig auf der Suche nach Orientierung bei sonst weniger im Rampenlicht glänzenden Disziplinen wie dem Ringen oder dem Sportschießen zu bleiben und zwischendurch bei den olympischen Superstars vorbeischauen zu dürfen, das kam mir als olympischem Gelegenheitsbeobachter wie der Blick durch ein riesiges Kaleidoskop vor.
Andererseits habe ich dann auch schnell gewusst, dass es für mich als journalistischen Flaneur entlang der olympischen Schaubühnen und Marktplätze nicht zuerst darum ging, immer mehr Knowhow über die Sportart X oder Y anzusammeln. Wichtiger war das Gespür für die Haupt- und Nebendarsteller der gigantischen Show und für das olympische Flair, das die einzelnen Wettbewerbe überstrahlte. Die südkoreanische Hauptstadt Seoul, nur fünfzig Kilometer entfernt von den koreanischen Brüdern aus Nordkorea, das damals die Spiele boykottierte und ähnlich bizarr-stalinistisch anmutete wie heute, nutzte ihre olympische Premiere vor allem dazu, um der Welt des Sports ein guter und auf alles präzise vorbereiteter Gastgeber zu sein. Seoul funktionierte.
Das zur Feier der Spiele um einen pittoresken Stadtstrand bereicherte und auf den genuinen Reiz dieser mediterranen Kapitale setzende Barcelona machte dagegen vier Jahre später aus der einmaligen Gelegenheit ein katalanisches Weltfest, das pure Lebensfreude und mediterranen Genuss an zwei Partywochen im Zeichen des Spitzensports verströmte. Die Stadt, die sich als Kontrapunkt zur spanischen Hauptstadt Madrid versteht, blühte, lebte und bebte rund um die Uhr, während Seoul und die dort versammelten Olympier zwischenzeitlich vom Skandal um den anabolaufgepeppten Sprinter Johnson erschüttert schienen. Barcelona dagegen verdiente sich an jedem seiner sonnigen Festtage eine Goldmedaille ob seines chronischen Stimmungshochs, das Menschen und Athleten auf dem gemeinsamen Weg auf einer Rolltreppe hoch zum Wettkampfolymp, dem Hausberg Montjuïc, mit seinen vielen Wettkampfstätten vom Olympiastadion zum Palau Sant Jordi, auskosteten. Dort fühlte auch ich mich in einem olympischen Flow: unermüdlich unternehmungslustig.
Beim Turnen, vor 28 Jahren noch eine der von mir begleiteten Kernsportarten, war ich zwar wie zu Hause, als ich den von sechs Goldmedaillen gesäumten Triumphzug des Weißrussen Witali Scherbo mit erkennbarer Begeisterung beschrieb. Fast wohler jedoch fühlte ich mich bei Sportarten, die ich bis dahin noch nie von nahem beobachtet hatte. Beim Fechten zum Beispiel, einem besonders raffinierten sportlichen Waffenkampfduell zwischen Attaque und Riposte, die ich am Fernseher nie und an der olympischen Planche nur schwer ergründen konnte. Wer da getroffen hatte oder schwer getroffen wurde, war für mich nur an den Lichtern zu sehen, die im Fall des Falles aufleuchteten. Was ich aber in Barcelona mitbekam, wo die deutschen Florettdamen die Goldmedaille durch eine 6:9-Finalniederlage gegen Italien verpassten, waren die auch jenseits der sportlichen Kampfbahn hörbaren Sticheleien zwischen der nach ihrer Mutterschaft gerade noch rechtzeitig zurückgekehrten Anja Fichtel-Mauritz, der zweifachen Olympiasiegerin von Seoul, und ihren Mitstreiterinnen, unter denen die Tauberbischofsheimerin Zita Funkenhauser eine besonders spitze Zunge hatte. Als fast alle Reporter nach dem Wettkampf den Star Anja Fichtel-Mauritz umlagerten, zischte Zita Funkenhauser: „Sollen sie doch alle zu ihr gehen. Ich werde auch mal Mutter. Aber knapp nach den Olympischen Spielen.“
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Eine deutsche Silbermedaillengewinnerin bei den Seouler Sommerspielen vier Jahre zuvor ging mit ihren Erfolgserlebnissen ohne große Worte ziemlich still um: die Radrennfahrerin Jutta Niehaus. Die Pedaleurin, die völlig überraschend Zweite im Straßenrennen wurde, erfüllte so gar nicht das Klischee der vom eigenen Triumph überrumpelten Medaillengewinnerin. „Ich komme mir vor wie nach einem normalen Rennen“, kommentierte die Rheinländerin ihren größten Tag als Sportlerin, als wäre sie bei einem Kriterium irgendwo in Deutschland Zweite geworden. Der Versuchung, Jutta Niehaus zu etwas mehr Begeisterung zu verhelfen, widerstand ich in jenen Momenten zum Glück. Reporter sollten den Respekt aufbringen, Athletinnen und Athleten auf der Suche nach dem eigenen Glücksgefühl bei sich selbst zu lassen.
Wie hell eine Bronzemedaille leuchten kann, erlebte ich in der Kabine der Olympiamannschaft des Deutschen Fußball-Bundes mit. Sie schaffte es 1988 als einzige aus der Bundesrepublik Deutschland, dank des 3:0-Sieges über Italien im Spiel um Platz drei, den Traum von Olympia zu einer Abenteuerreise mit Gewinn zu machen. Beseelt vom olympischen Geist und an den letzten Tagen beflügelt vom ganz besonderen Spirit des Olympischen Dorfs, genossen die zwei Jahre später als Weltmeister gefeierten Bundesligastars Frank Mill, Jürgen Klinsmann, Thomas Häßler und Karl-Heinz Riedle im Kreise ihrer Mannschaftskameraden ein Gemeinschaftsgefühl, das sie 1990 in noch intensiverer Weise beim Weltmeisterschaftstriumph in Italien umhüllte. Mill, der damals Kapitän der von Hannes Löhr trainierten Olympia-Auswahl war, schwärmt heute noch von zwei unvergesslichen Wochen in Südkorea. „Diese Eindrücke vergisst du nicht“, sagt er beim Blick zurück auf seine einprägsame olympische Episode.
Und so ergeht es auch olympischen Zeitungsreportern, die in ihrem steten Drang und Eifer zu einem Teil der olympischen Bewegung werden, mögen sie auch hier und da auf dem rastlosen Weg zwischen Nähe und Distanz zu den Protagonisten an ihre eigenen Grenzen stoßen und Sieger mit Besiegten verwechseln. Egal. Sie waren dabei und haben zu spüren bekommen, dass sie sich dem ganz besonderen Reiz dieses größten und atmosphärisch dichtesten Sportfest der Welt nicht entziehen können. Warum auch?
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.07.2020, Nr. 170, S. 28
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Tokio 1964
„Ich muss, muss, muss!“
Willi Holdorf war der erste deutsche Olympiasieger im Zehnkampf. Sein Zusammenbruch nach dem 1500-Meter-Lauf 1964 in Tokio ist legendär geblieben.
Von Hartmut Scherzer
Wie betrunken torkelt Willi Holdorf auf den letzten zehn Metern. Der „Sterbende“, so die dramatische Metapher des französischen Journalisten Edouard Seidler in seiner preisgekrönten Reportage über die Olympischen Spiele 1964 in Tokio, taumelt quer über die Aschenbahn. Der wie ums Überleben kämpfende deutsche Athlet erreicht die Ziellinie hart an der Balustrade. Dann bricht er zusammen.
Der Este Rein Aun im roten Trikot der Sowjetunion hebt den Sieger auf, der nichts vom Goldgewinn weiß. Noch halb bewusstlos und noch immer schwankend, klammert sich Holdorf an ihn. Ich habe die Szene von der Pressetribüne im Medji-Nationalstadion aus beobachtet. Weil es ein „German final“ sei, hat der amerikanische Sportchef der Nachrichtenagentur United Press International (UPI) seinen deutschen Reporter zusätzlich – und erstmals – zu den Leichtathleten geschickt. „The balding German“ (balding = schütteres Haar) führt nach dem ersten Tag. „He could win.“ Chancen hatte auch Hans-Joachim Walde. Es ist der frühe Abend des 20. Oktober, kühl und feucht. Am Himmel hängt der gelbe Vollmond. Das Flutlicht ist eingeschaltet. Nur ein paar tausend schweigsame Japaner haben ausgeharrt. Deutsche Olympia-Teilnehmer und die Jungen und Mädchen des deutschen Jugendlagers machen sich lautstark bemerkbar.
„Es muss ein Sadist gewesen sein, der den mörderischen 1500-Meter-Lauf an das Ende des Zehnkampfes gesetzt hat“, kommentiert die Frankfurter Journalisten-Legende Richard Kirn die finale Qual. Seidler hat das „Happy End“ wunderbar beschrieben: „Aun sagt zu Holdorf: ,Olympic champion – you olympic champion.’ Holdorf sah ihn fragend an, blieb aber stumm und brach abermals zusammen. Aun wartete lange. Er blieb wie ein Wachposten bei seinem siegreichen und ausgepumpten Rivalen. Dann hob er ihn ein zweites Mal auf und sagte ihm noch einmal, dass er gewonnen habe. Holdorf verstand ihn jetzt und lächelte ihm zu. Von Aun gestützt ging er einige Schritte auf den Rasen zu, wo der alte Meister Yang noch immer ausgestreckt lag. Jetzt richtete auch er sich auf, er war vielleicht noch erschöpfter. Yang hängte sich bei seinem jungen Bezwinger ein, und beide wankten fest umschlungen und taumelnd auf den Ausgang zu. Der olympische Zehnkampf klang mit einem ,Ballett zweier Betrunkener’ aus.“
Yang Chuan-Kwang, 31 Jahre alt, startete für Formosa, wie Taiwan damals hieß, studierte und trainierte seit Jahren an der University of California in Los Angeles (UCLA). Rafer Johnson, der hünenhafte afroamerikanische Olympiasieger von 1960, war sein Trainingskamerad. C. K. Yang, Achter 1956 in Melbourne und Zweiter in Rom hinter seinem Freund, war der große Favorit gewesen. Für Tokio wurde aber kurzfristig eine neue Punktwertung eingeführt, um mehr Ausgeglichenheit bei den zehn Disziplinen zu schaffen.
Ungünstig für Yang, dessen Weltrekord von 9121 auf 8089 Punkte schrumpfte. Er konnte nicht länger seine Wurfschwäche durch seine Sprungstärke ausgleichen – wie mit 4,84 Meter (Bestleistung) im Stabhochsprung. Im Kampf um die Medaillen hatte er kaum noch Chancen und wurde auch nur Fünfter. Willi Holdorf siegte mit der persönlichen Bestleistung von 7887 Punkten – als erster Deutscher. Der Vorsprung vor Aun: knappe 45 Punkte. Er beendete die Hegemonie der Amerikaner, die seit 1932 alle sechs olympischen Zehnkämpfe gewonnen hatten. Großen Wert legte Holdorf stets auf den Vergleich, „dass ich auch nach der alten Wertung Olympiasieger geworden wäre“. Mit 8119 Punkten.
Willi Holdorf ist der „König der Leichtathleten“, mit 7887 Punkten gewann er die Goldmedaille im olympischen Zehnkampf. Über die Bronzemedaille freut sich ein weiterer Athleten der gesamtdeutschen Mannschaft: Hans-Joachim Walde. Silber ging an den für die Sowjetunion startenden Esten Rein Aun. Foto: picture alliance / dpa
Dank Satellitenübertragung schaut die Welt zu – erstmals sogar in Farbe.
Ausgerechnet in Yangs Spezialdisziplin, der drittletzten, droht Holdorf zu scheitern. Die Latte liegt in 4,10 Meter Höhe. Zweimal hat er sie heruntergerissen. Bei einem dritten Fehlsprung würden nur 3,70 Meter zu Buche stehen. Holdorf (Bestleistung 4,30 Meter) weiß: „Schaffe ich die Höhe nicht mehr, kann ich eine Medaille vergessen.“ Ihm sei „der Arsch auf Grundeis gegangen“, erzählte er mir bei einem Besuch in Achterwehr. Bundestrainer Friedel Schirmer habe ihm signalisiert, zum Anlauf den rechten Fuß zurückzunehmen. Walde, direkt bei ihm, rät: „Setze den rechten Fuß vor.“ Holdorf hört auf den Kameraden und genießt das „erlösende Gefühl, wenn man unten im Schaumgummi liegt und sieht, wie die Latte oben bleibt“.
Das Hightech-Zeitalter ist angebrochen. Durch Satellitenübertragung kann die ganze Welt zusehen – erstmals sogar in Farbe. Die vollelektronische Zeitmessung hat Premiere. Die aktuellen Zwischenstände im Zehnkampf aber müssen noch anhand der Wertungstabellen erstellt werden. Fieberhaft rechnen Schirmer und Heimtrainer Bert Sumser nach dem Speerwerfen die Situation vor dem 1500-Meter-Finale aus. Eine riskante Rechnung: Maximal 17 Sekunden – 14 wären sicherer – darf Holdorf langsamer sein als Aun. Bei 18 Sekunden ist der Este Olympiasieger.
Wer könnte das nun folgende Drama besser schildern als Willi Holdorf? In seinem 1965 erschienenen Buch „König der Athleten“ lässt er den Leser mit ihm leiden, sich quälen – und kämpfen: „Ich nehme gleich die Spitze, achte auf gleichmäßige, raumgreifende Schritte. Natürlich versuche ich, das Tempo zu drosseln. Ich spüre noch den Stabhochsprung in den Beinen. Doch Aun merkt sofort, was ich versuche, und geht vorbei. Er will ,sein’ Tempo laufen. Ich spüre, wie gegen Ende der ersten Runde meine Kräfte nachlassen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich die restlichen zweieinhalb Runden noch schaffen soll. Hans-Joachim geht vorbei. Damit nimmt er mir den Wind. Bei 800 Meter sehe ich Aun weit vorn. Wenn ich noch gewinnen will, muss ich unbedingt zulegen. Bei jedem Schritt spüre ich die Schwere meines Körpers. Doch ich muss schneller werden – ich muss, muss, muss! Hans-Joachim macht mir Platz. Ich gehe vorbei. Ich höre weder die Rufe der Zuschauer noch die Zeit, die mir mein Trainer zuruft. Ich sehe nur noch Aun. Leicht wie eine Feder läuft er vor mir her. Nein, er fliegt. Es ist wie ein Wunder – die Entfernung bleibt konstant. Das gibt mir Auftrieb. Jetzt wird die letzte Runde eingeläutet. Wir haben etwa 100 Meter Abstand. Ich sehe, wie der Russe schneller wird. Ich versuche, den Abstand zu halten. Meine Beine sind schwer wie Blei. Ich muss mich zu jedem Schritt zwingen.“
In Tokio beendet Holdorf seine Karriere, was er später bereut.
„Plötzlich finde ich mich auf der Zielgeraden wieder. Eben verschwindet Aun im Ziel. Meine letzte Chance. Ich werfe den Kopf zurück und versuche einen Endspurt. Kurz vor dem Ziel verlassen mich die Kräfte. Ich wanke schräg hindurch – sehe die Bahn auf mich zukommen und falle der Länge nach hin. Ich kann es nicht fassen. Das Rennen ist zu Ende. Ich bin erlöst. Ich will liegen, nur liegen und mich ausruhen.“ Der Rückstand: 12 Sekunden, die Gold wert sind.
Zur anschließenden Siegerehrung – barfuß nach Zehnkämpfer-Brauch und ohne Trainingsanzug – springt Holdorf aufs Treppchen, rutscht aus und wäre fast auf Willi Daume gestürzt. Der deutsche Spitzenfunktionär hängt ihm die Goldmedaille um den Hals, dann Rein Aun das silberne und Hans-Joachim Walde das bronzene Schmuckstück. Horst Beyer, der Sechste, schwärmt: „So schön hat Musik noch nie in meinen Ohren geklungen, wie Beethovens Ode an die Freude.“ Die Mannschaft trat 1964 noch gesamtdeutsch auf, mit neutraler Hymne und Fahne (die olympischen Ringe auf Schwarz-Rot-Gold). Auf der anschließenden Pressekonferenz – eine eher interne deutsche Plauderrunde – fragt Holdorf plötzlich: „Wo ist Aun?“ Der Este fühlte sich nicht gefragt und war davongeschlichen.
In Tokio beendete Willi Holdorf mit 24 Jahren seine Karriere, was er vier Jahre später in Mexiko bereute: „Die neue Kunststoffbahn wäre mir entgegengekommen. Ich war ja ein bisschen schwer und habe tiefe Löcher in die Aschenbahn getreten.“ Dennoch gewinnt er 1968 eine Silbermedaille – als Leverkusener Trainer von Claus Schiprowski im Stabhochsprung. Von da an zieht sich die Zwei als rote Zahl durch sein bewegtes Leben: zwei Ehen, zwei Söhne, zwei Diplome (Sport- und Fußball-Lehrer), EM-Zweiter im Zweierbob, zwei Schlaganfälle, zwei Knieoperationen, zwei neue Gelenke. Die außergewöhnliche Eins steht für den Bundesliga-Trainer von Fortuna Köln.
Der Zehnkampf, klagte Holdorf, habe leider an Bedeutung verloren.
Willi Holdorf ist am 17. Februar 2020 80 Jahre alt geworden. „Ich habe achtzig Jahre lang Glück und Spaß gehabt. Da kann es mir jetzt auch mal nicht so gut gehen“, sagte er am Telefon, als wir uns vier Monate später für den 29. Juni um 11 Uhr bei ihm zu Hause in Achterwehr bei Kiel verabredeten. Wir kannten uns näher, seit er von 1965 bis 1967 in dem Taunusort Ober-Erlenbach lebte, als Immobilienmakler den Lebensunterhalt für seine Familie verdiente und für die „SGO“ in der Bezirksliga Rechtsaußen spielte.
Ländliche Idylle umgibt das Dorf vor den Toren Kiels. Die weiße Traumvilla am Ende der abschüssigen Straße überstrahlt die dunkelroten Klinkerhäuser. Danach grünt nur noch weite Natur. Holdorf, als Sportler und Trainer ein Leverkusener, war bekennender Holsteiner. Geboren in Blomesche Wildnis bei Glückstadt an der Elbe, verbrachte er seinen Lebensabend mit seiner zweiten Frau Sabine in der Abgeschiedenheit und Beschaulichkeit von Achterwehr. Er legte zum Gespräch im großräumigen, hellen Wohnzimmer mit Panoramafenster ein Buch auf den Couchtisch, das im Oktober 2014 zum 50. Jahrestag seines historischen Triumphes von Tokio erschien. „Der Titel gefällt mir nicht“, sagte er. „Da steht die Welt still.“ Ein Zitat, das Holdorf im Interview mit dem Autor so dahingesagt hatte.
Das Gesicht war hager und ernst. Kaum ein Lächeln. An den epischen Wettkampf 1964, an jedes Detail, konnte er sich erinnern, „als wäre es gestern gewesen“. Er redete klar, aber ohne Emotion. Mit seiner Frau wollte er zu „Tokyo 2020“ fliegen. Wegen Niklas Kaul, weil er dem Weltmeister zutraute, nach 56 Jahren als dritter Deutscher – nach ihm und Christian Schenk 1988 für die DDR – Olympiasieger zu werden.
Der Zehnkampf habe leider an Bedeutung verloren, klagte Holdorf. Wie wahr: Der zweite Sieg des Amerikaners Ashton Eaton in Rio 2016 ging völlig in der Erwartung des 200-Meter-Finales mit Usain Bolt unter. Doping? „Ich bin froh, dass zu unserer Zeit das kein Thema war.“ Der Amateurstatus war das Problem.
Nach einer knappen Stunde fragte ich nach seiner Gesundheit. Die Antwort war ein Schock. „Nicht so gut. Ich habe ein Karzinom am Übergang der Speiseröhre zum Magen. Ich werde künstlich ernährt. Das kannst du ruhig erwähnen.“ Den Krebs, vor einem Jahr erkannt. Willi Holdorf nahm sein Schicksal sehr gefasst. „Meine Frau macht sich mehr Sorgen als ich. Die meisten schaffen die achtzig nicht. Ich bin der Einzige der ersten sechs von Tokio, der noch lebt. Von dem Amerikaner Herman weiß ich das allerdings nicht.“
Zum Abschied umarmte ich Willi Holdorf auf dem Sofa und flüsterte ihm ins Ohr: „Kämpfe wie vor 56 Jahren!“ Er antwortete ruhig: „Ja. Wenn es geht, will ich nächstes Jahr zu den Olympischen Spielen nach Tokio fliegen.“ Er starb an einem Sonntagabend, nur fünf Tage nach meinem Besuch.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.07.2020, Nr. 155, S. 30
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