Kitabı oku: «Vergessen und Erinnern»

Yazı tipi:

Franz Josef Zeßner-Spitzenberg

Vergessen und Erinnern

Studien

zur Theologie und Praxis der Seelsorge

94

Herausgegeben von

Erich Garhammer und Hans Hobelsberger

in Verbindung mit

Martina Blasberg-Kuhnke und Johann Pock

Franz Josef Zeßner-Spitzenberg

Vergessen und Erinnern

Menschen mit Demenz feiern

Gottesdienst im Pflegeheim

echter

Dieses Buch ist eine gekürzte Fassung der Dissertation mit gleichem Titel, die am Institut für Liturgiewissenschaft der Karl Franzens Universität Graz bei Univ. Prof. Dr. Basilius J. Groen im Herbst 2014 abgeschlossen wurde. Der volle Text mit Anhang ist frei verfügbar unter:

http://unipub.uni-graz.at/obvugrhs/content/titleinfo/308647


Die Veröffentlichung wurde möglich durch die finanzielle Unterstützung des CS Instituts für Gerontologie und Palliative Care der CS Caritas Socialis, Wien, und der Universität Graz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2016 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de


ISBN978-3-429-03839-7 (Print)
978-3-429-04820-4 (PDF)
978-3-429-06237-8 (ePub)

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Der Herr horchte auf

Und man schrieb von ihm ein Buch,

das alle in Erinnerung hält.

Denn seht,

der Tag kommt,

er brennt wie ein Ofen.

(Maleachi 3)

Der Tag kommt


Ein Buch vor Gott ist zu schreiben, ein Buch des Gedenkens. Namenlose werden genannt, an Vergessene wird erinnert. Erinnerung ist ein leichtes Spiel vergesslicher Alten. Vergangene Lieder werden neu entdeckt. Es ist alles leserlich.Und Er, wird Er es lesen? Wird Er sich erinnern an uns, arme Menschen?Werden unsere Tränen, unsere Ängste, unsere schweren Stunden, unsere schlaflosen Nächte Ihm erinnerlich sein?Der Tag wird kommen, so schaute ein Prophet. Feuer verbrennt wie Altpapier, die Last, die wir tragen. Aus der Asche steigt Heilung auf wie ein Vogel.

Joop Roeland1

1 Text auf dem Sterbebild des Autors Joop Roeland, + am 18.3.2010. Veröffentlicht in Fragmente, Zeitschrift der Gemeinde der Wiener Ruprechtskirche (2006). URL: http://www.ruprechtskirche.at/new/index.php?id=72#TagKommt (Eingesehen am 19.6.2014).

Vorwort von Agnes Zeßner

Eine komische Idee, dass die Frau das Vorwort schreiben will, sagt der Autor. Stimmt! Aber immerhin bin ich die erste (und oftmalige) Leserin dieser Arbeit. Ich habe ihre Entstehung miterlebt und kenne sie daher gut, warum sollte ich es also nicht versuchen. Vielleicht fürchtet unser Autor, zu sehr gelobt zu werden und das noch von der eigenen Ehefrau. Ja, wenn das jemand Fremder macht, eine Fachmannfrau, (die das Buch womöglich gar nicht gelesen hat, aus Zeitmangel versteht sich,) das ginge gerade noch. Ich wische diesen Einwand vom Tisch und mache mich aus purer Freude über das Gelungene fröhlich ans Werk.

Spätestens jetzt wird jede gemerkt haben, dass ich weder Wissenschafterin noch vom Fach bin, daher war meine wichtigste Forderung: „Schreib bitte so, dass es jede lesen kann. Es interessieren sich auch Menschen, die nicht studiert haben, für dieses Thema.“ Soweit ich beurteilen kann, hat sich der Autor mit Erfolg bemüht, diese Vorgabe zu erfüllen.

Ja, das Thema, dieses Thema, Demenz nämlich, ist eigentlich ein Schwieriges, oft Trauriges, Unangenehmes, jedenfalls eines, bei dem es einem schon schwer fallen kann, länger zu verweilen. Obwohl in dieser Arbeit nichts verharmlost oder beschönigt wird, lädt sie auf ungewöhnliche, unaufdringliche Art zu genau diesem Verweilen ein. ‚Türen‘ in verschiedene Richtungen werden geöffnet und ‚Gedanken(-aus-)flüge‘ aller Art gestattet, die es uns nicht nur beim Lesen, sondern auch im Alltag erleichtern, durchzuhalten. Wie schnell kommen wir ‚(Noch-)Gesunden‘ im Umgang mit Menschen, die an Demenz leiden, an unsere Grenzen? Wie langweilig und eintönig können Begegnungen mit Menschen verlaufen, die sich nicht (mehr) äußern können? Wie herausfordernd und mühsam kann ihre Pflege sein?

Da brauchen wir diese ‚Türen‘, durch die Seele und Geist in die Bereiche von Poesie und Musik, Prosa, bildender und darstellender Kunst eintreten können. Auch von dort kommt nämlich Hilfe bei der Deutung von Erlebtem, Trost und Stärkung in schwierigen Situationen. Ich schreibe diese Sätze als glaubender Mensch, der dankbar für alle Zugänge ist, die letztendlich unser Leben auf Gott hin öffnen.

„…und endlich deine Hoffnung, den Bodensatz des Kommunionweins einsam auszusaufen, der fatal schmeckte […] aber welche Himmel dann nach dem Trank des Bodensatzes in alle deine Glieder zogen…. Wahrlich jedesmal wieder will ich in Exk(l)amationen verfallen – aber warum macht mir und vielleicht Euch dieses schulmeisterlich vergnügte Herz so viel Freude? – ach es muss daran liegen, dass wir selber sie nie so voll bekommen, weil der Gedanke der Erden-Eitelkeit auf uns liegt und unseren Athem drückt und weil wir die schwarze Gottesacker-Erde unter den Rasen- und Blumenstücken schon gesehen haben, auf denen das Meisterlein sein Leben verhüpft!“

Diese Stelle aus dem Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wuz in Auental von Jean Paul hat mich beim ersten Lesen gepackt. Warum?

Hier wird sehr treffend der Zustand der Vorfreude geschildert. Seiner unmenschlichen Schule gerade entwachsen, malt sich das ‚Schulmeisterlein‘ seine künftigen Aufgaben aus. Unter anderem wird das Austrinken des Kommunionweines dazugehören. Aber nur selten, nämlich wenn der Kirchenpatron zugegen ist und statt des üblichen Weins, „… der Christi Trank am Kreuz nicht unglücklich nachbildete, Christi Thränen aus seinem Keller setzte“, wird Wuz diesen Hochgenuss haben.

Alles ist Zukunft, Verheißung und pure, durch nichts getrübte Freude. Durch sie wird die Gegenwart bereichert und verzaubert. Dass dieser Zustand weder für Jean Paul selbst, noch für die Leser so leicht zu erreichen ist, legt die unmittelbar folgende Bemerkung nahe. Trotzdem wirken diese Zeilen wie eine Einladung, sich dem Reichtum des Lebens zu überlassen und daraus Hoffnung für eine Zukunft zu schöpfen, die eigentlich die Gegenwart ist.

Diese Gegenwart, die den von Demenz betroffenen Menschen trotz aller Verluste bleibt, zu bergen und zu gestalten, ist das Anliegen dieses Buches.

Inhalt

Einleitung

I. Demenz als theologische Frage

1. Demenz

2. Demenz als Kritik an Engführungen im ‚heutigen‘ Menschenbild

2.1. Sein in der Begegnung (Dominik Becker)

2.2. Autonomie und Fürsorge (Walter Schaupp)

2.3. Einseitigkeiten einer „hyperkognitiven Gesellschaft“ (Stephen Post)

2.4. Die Seele Mensch (Doris Nauer)

2.5. Identität und Fragment (Henning Luther)

3. Erinnern und Vergessen als theologische und biblische Kategorien

3.1. Die Vielschichtigkeit des Phänomens Erinnerung

3.2. Erinnerung als „Theologische Basiskategorie“ (Johann Baptist Metz)

3.3. Schöpfen aus dem Schatz des Vergessens (Paul Ricœur): gegen ein reines Defizit-Modell von Demenz

3.4. „Wir sind die Ausgespuckten.“ Erinnern und Vergessen in der Bibel

4. Demenz – die „Theological Disease“

5. Gedächtnis als Schlüsselkategorie der liturgischen Feier

5.1. Liturgische Anamnese und die Gegenwärtigkeit der Lebensform Demenz

5.2. Caritas und Liturgie: Menschen mit Demenz im Mittelpunkt

II. Menschen mit Demenz feiern Gottesdienst im Pflegeheim

1. Das Pflegeheim als Ort der Versammlung christlicher Gemeinden

1.1. Das Pflegeheim: ‚Insel der Seligen‘ oder ‚Ort der Not‘?

1.2. Wo Gottesdienst feiern? Kapelle, Aufenthaltsraum, Speisesaal?

1.3. Wie kommen die Menschen zum Gottesdienst oder der Gottesdienst zu den Menschen?

2. Was ist ein Gottesdienst im Pflegeheim?

2.1. Vertrautes und Neues

2.2. Formen gottesdienstlicher Feiern im Pflegeheim

2.3. Taizé-Andacht für Menschen mit fortgeschrittener Demenz

2.4. ‚Spirituelles Singen‘ im CS Pflege- und Sozialzentrum Kalksburg

3. Das Volk Gottes im Pflegeheim

3.1. Die feiernde Gemeinde

3.1.1. Menschen in verschiedenen Phasen des Demenz-Prozesses im Gottesdienst

3.1.1.1 Unterschiedliche Bedürfnisse

3.1.1.2. Störungen als Signale

3.1.1.3. Gemeinsames Feiern oder eigene Gottesdienste für Menschen mit fortgeschrittener Demenz?

3.1.2. Die Rolle der ‚gesunden‘ Mitfeiernden im Gottesdienst für Menschen mit Demenz

3.1.3. ‚Anwesenheit‘ von Abwesenden

3.2. Leitungsamt und liturgische Dienste

3.3. Momente des Kontakts: Die Leiterin/der Leiter des Gottesdienstes und die Menschen mit Demenz

3.4. Liturgie im Pflegeheim als Frauen-Liturgie?

3.5. Evangelische und katholische Christinnen und Christen im PflegeheimGottesdienst

4. Musik, Symbol, Sprache: Wege zum Menschen und Wege zu Gott

4.1. Einschränkungen – Herausforderungen – Chancen

4.2. Musik

4.3. „Mit allen Sinnen“: offen sein für das Geheimnis

4.3.1. „Mit allen Sinnen“

4.3.2. Möglichkeiten und Grenzen von Symbolen

4.3.3. „Die schwächer scheinenden Glieder des Leibes“ (1 Kor 12,22) – Sakrament und Demenz

4.4. „Die wankende Brücke der Sprache“: Sprache und Sprachlosigkeit

4.4.1. Verbale und nonverbale Sprache

4.4.1.1. Demenz und Sprache

4.4.1.2. Verbale, nonverbale und paraverbale Kommunikation

4.4.2. Liturgische Sprache und Menschen mit Demenz

4.4.2.1. Schriftverkündigung und Predigt

4.4.2.1.1. Die Bibel im Gottesdienst mit Menschen mit Demenz

4.4.2.1.2. Die Predigt im Gottesdienst mit Menschen mit Demenz

4.2.2.2. Gebete und Lieder

III. Von der Zweckfreiheit des Gottesdienstes

1. MAKS: Spirituelle Runden als Teil einer Aktivierungstherapie für Menschen mit Demenz

2. Spiritualität und Demenz, Gesundheit und Wohlergehen: Auf der Suche nach Zusammenhängen

3. Macht Religion gesund?

4. ‚Heilung‘ und Gottesdienst im Pflegeheim

5. Beobachtete Wirkungen von gottesdienstlichen Feiern

6. „Liturgie ist kein Mittel, das angewandt wird, um eine bestimmte Wirkung zu erreichen.“ (Romano Guardini)

7. Gratuität des Gottesdienstes im Verständnis von Taizé

IV. Schlussbemerkungen und Ausblick

Bibliographie

Anhang: Der Anhang, auf den im Text laufend verwiesen wird, ist nicht Teil dieses Buches. Er ist im Internet abrufbar unter http://unipub.uni-graz.at/obvugrhs/content/titleinfo/308647 (Seitenzahlen I – CCXXXIV)

Einleitung

Am 11.5.2013 besuchte ich im Wiener Burgtheater eine Vorstellung der Wiener Festwochen: In Romeo Castelluccis Performance Sul concetto di volto nel Figlio di Dio (Über das Konzept des Angesichts von Gottes Sohn) geschieht nichts anderes, als dass ein mit Anzug und Krawatte für den Weg zur Arbeit gekleideter Mann versucht, seinem an Demenz leidenden Vater die Windel zu wechseln. Die Situation eskaliert immer mehr. Am Ende ist die ganz in weiß gehaltene Wohnlandschaft voller Kot und beide Männer, der eine nackt, der andere mit beschmierter Business-Kleidung, vollkommen verzweifelt. Diese Szene tiefster Entwürdigung und Verzweiflung stellt Castellucci vor die Reproduktion eines die ganze Bühne überragenden, wunderschönen Jesusgesichts des Renaissancemalers Antonello da Messina. Zum Schluss kommen Kinder auf die Bühne und bewerfen Jesusgesicht mit Handgranaten. In diesem Augenblick begann direkt neben uns ein Pfeifkonzert und laute Rufe, ohrenbetäubend gemeinsam mit dem Lärm der Handgranaten: „So eine Schweinerei!“, „Das ist keine Kunst!“. Ein Freund, der mit mir die Vorstellung besuchte, war überzeugt, auch dieser Protest wäre Teil der Inszenierung. Er diskutierte mit den jungen Leuten und musste einsehen, dass es wirklich eine Gruppe von jungen Katholikinnen und Katholiken war, die ihrer Empörung Ausdruck verliehen. Unter ihrem lautem Protest endete das Stück damit, dass hinter dem zu diesem Zeitpunkt zerstörten Gesicht Jesu ein Satz lesbar wurde, der abwechselnd zu lesen war als: „You are my shepherd.“ und „You are not my shepherd.“

Nach der Vorstellung sprachen wir vor dem Theater noch eine Weile mit den Jugendlichen: Was motiviert Christinnen und Christen gegen dieses Stück zu protestieren. Handgranaten auf das Gesicht Christi? Ja, das wohl auch. Im Gespräch wurde aber doch deutlich, dass es vor allem darum ging, dass menschliches Elend so schonungslos vorgeführt wird. Menschen, die ein Kreuz um den Hals tragen, wollen einen nackten alten Mann voll Kot auf der Bühne nicht sehen. Und doch provoziert christlicher Glaube bis heute genau damit: „Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit“, so Paulus im 1. Korinther-Brief (1,23). Das Stück Sul concetto di volto nel Figlio di Dio provoziert auch mich mit der Frage: Hältst du es aus? Bleibst du da? In welchem Antlitz erkennst du das Gesicht des Sohnes Gottes?

Ich schreibe dieses Buch als Seelsorger in einem Pflegeheim. Szenen wie die von Castellucci dargestellte sind Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, nicht fremd. Lotte Hochrieder habe ich Ende 2012 kennengelernt, nachdem sie ins Pflege- und Sozialzentrum Rennweg eingezogen war. Zu diesem Zeitpunkt lebte sie schon in einem fortgeschrittenen Stadium von Alzheimer-Demenz. 2005 wurde sie noch zur stellvertretenden Vorsitzenden des Pfarrgemeinderates ihrer Pfarrgemeinde gewählt. Damals hat sie im Pfarrblatt geschrieben:

„So bin ich im Laufe der Jahre in das Pfarrleben hineingewachsen und habe verschiedene Aufgaben und Verantwortung übernommen. In Zeiten, wo es mir nicht gut ging, habe ich Halt in der Pfarrgemeinschaft gefunden. Das Vertrauen der Asperner freut mich, da sie mich bereits zum zweiten Mal als Stellvertretende Vorsitzende des PGR gewählt haben. […] Eines ist mir wieder ganz klar geworden. Gott geht mit mir Wege, die ich nicht vorausplane. Doch entscheidend ist, diese Wege mitzugehen wie ein Kind, das seinem Vater die Hand reicht zum Mitgehen. Zuerst innerlich ein wenig widerspenstig, aber dann doch voll Vertrauen. Er ist ja mein Vater und er hat mich unendlich gern. Was ich mir wünsche, ist eine große Bereitschaft für dieses ‚Leben in Fülle‘, das Gott mir – uns – immer wieder anbietet.“2

Zwei Jahre nach Ende der Pfarrgemeinderatsperiode, für die sie gewählt wurde, kann Lotte Hochrieder solche Gedanken nicht mehr formulieren. Sie kann kaum noch sprechen und geht unermüdlich den Gang des Wohnbereiches, in dem sie ihr Zimmer hat, auf und ab. Den Weg durch diese Jahre zu gehen, „an der Hand des Vaters“, muss sehr schwer gewesen sein und ist es bis heute, besonders für die Menschen, die Lotte Hochrieder nahestehen. Wie kann man ihre Worte von damals heute verstehen? Dem Beobachter könnten zynische Gedanken kommen über den Vater, der seinen geliebten Kindern diese Art von „Leben in Fülle“ beschert.

Alte, pflegebedürftige Menschen sind eine gesellschaftliche Gruppe, die in vielfacher Weise in Gefahr ist, vergessen und übersehen zu werden, und das, obwohl ständig vom Wachstum dieser Gruppe die Rede ist: Die Wirtschaft interessiert sich für sportliche Aktiv-Senioren und Seniorinnen als kaufkräftige Gruppe (Stichwort ‚erfolgreiches Altern‘) und prägt ein Bild des Alters, das Krankheit, Verfall und Tod ausblendet. Wenn der zuständige diözesane Fachbereich von ‚Altenpastoral‘ in ‚Seniorenpastoral‘ umbenannt wird, wie in der Erzdiözese Wien geschehen, deutet das in die gleiche Richtung. In der politischen Diskussion sind alte, pflegebedürftige Menschen primär als Kostenfaktor präsent. Und aus Kirchengemeinden verschwinden Menschen, wenn der gesundheitliche Zustand sich verschlechtert – oft gemeinsam mit ihren pflegenden Angehörigen, die keine Zeit mehr haben, diesen Kontakt zu halten. Unter meinen Kolleginnen und Kollegen in der Seelsorge erlebe ich auch, dass Arbeit auf der Psychiatrie, in Intensiv- oder Palliativstationen eine höhere Reputation genießt als die Arbeit in der Geriatrie. Ganz ähnlich geht es Pflegenden und anderen Berufsgruppen in diesem Bereich.

Die Präsenz in Zeitschriften, Filmen und Büchern hat Demenz gesellschaftlich ins Gespräch gebracht, auch interessant gemacht. „Die Demenz nimmt zu, kriecht aus allen Ecken der Gesellschaft, wird zum Medienstar“, konstatiert der Theologe und Soziologe Reimer Gronemeyer. „Talkshows, Filme, Erfahrungsberichte – und vor allem Projekte, Projekte, Projekte und noch mal Projekte. Das Thema Demenz wird gerade in einer medialen Massenschlacht enttabuisiert. Aber die eine Frage, die tabuisierte, die verheimlichte Frage: ob die Demenz etwas mit der Gesellschaft, in der wir leben, zu tun hat – die darf nicht gestellt werden.“3

Peter Pulheim und Christine Schaumberger fordern eine Bekehrung von Seelsorge und Theologie zu Menschen mit ‚Demenz‘. Sie schreiben dazu: „Menschen mit ‚Demenz‘ sind in zweifacher Hinsicht vom Vergessen bedroht: Sie werden marginalisiert und ‚unsichtbar‘ gemacht, und sie verlieren ihr Gedächtnis und ihre Erinnerungen. Die Kirche steht daher in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass diese Menschen, ihre Erfahrungen und Erinnerungen nicht verloren gehen. Wenn Menschen mit ‚Demenz‘ und ihre Erfahrungen in Gemeinden und theologischen Texten fehlen, steht die Kirche als Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft auf dem Spiel.“4 Vergessen werden diese Menschen leicht, und da ihre ‚Krankheit‘5 das Vergessen ist, ist es für sie schwer bis unmöglich, sich selbst eine Stimme zu geben und ihre Situation selbstbestimmt in die Hand zu nehmen. Mit Peter Pulheim und Christine Schaumberger halte ich es für eine politische, eine gesellschaftliche, eine pastorale und eine theologische Notwendigkeit, sich diesem Thema verstärkt zuzuwenden, und mit diesem Buch möchte ich einen Schritt in diese Richtung tun.

Problemstellung und Aufbau

Ich habe für dieses Buch den Ansatz bei der Liturgie gewählt: In meiner täglichen Arbeit als Seelsorger im Pflegeheim feiere ich regelmäßig mit Menschen Gottesdienst, die einer Predigt nicht folgen können, die kein Gesangbuch lesen können, die die Fähigkeit zu sprechen und Sprache zu verstehen teilweise oder ganz verloren haben. Meine Aufgabe ist es dabei, darauf zu achten, dass die besonderen Bedürfnisse der Gemeindemitglieder in der Art, wie gefeiert wird, ernst genommen werden. Kann Liturgie ermöglichen, dass Menschen, die vieles, fast alles, vergessen haben, auch in ihrer Demenz erfahren: „Der Herr ist mein Hirte“? Bietet der Gottesdienst eine Möglichkeit, dass Lotte Hochrieder auch heute noch etwas von dem spüren kann, was sie vor einigen Jahren als gesunde Frau im Pfarrblatt geschrieben hat: „Er ist ja mein Vater und er hat mich unendlich gern.“? Oder zumindest dafür, ihrer Verzweiflung und Verlassenheit einen angemessenen Ausdruck zu verleihen? Sind Gottesdienste in Pflegeheimen Orte und Zeiten, in denen für Menschen, die an Demenz leiden, „tatsächlich etwas von der tröstenden, hilfreichen und verstörenden Nähe Gottes aufscheint“6, wie es Doris Nauer formuliert?

Welche Fragen das Thema Demenz an theologische Reflexion stellt, möchte ich im Teil I behandeln. Wichtig ist mir in diesem ersten Teil, das Feld abzustecken, auch wenn die einzelnen Themen nur angerissen und nicht in ihrer Tiefe ausgelotet werden können. Als Folge einer Demenz vergessen Menschen immer mehr. Biologie, Medizin, Psychologie und Psychotherapie können Gründe und Ursachen dafür erforschen. Theologisch betrachtet ist die Frage, warum ein Mensch am Ende seines Lebens seine Erinnerungen verliert und im schlimmsten Fall Jahre in einem Pflegeheimbett „vegetiert“ (Naomi Feil verwendet diesen Ausdruck für das vierte Stadium der Demenz)7, eine Entfaltung der Frage nach Gottes Güte, die angesichts menschlicher Leiden fragwürdig wird. Es ist eine spezifische Entfaltung, die sich wesentlich von der Frage nach dem Leiden von Kindern, wie sie Camus in der Pest oder Dostojewskij in den Brüdern Karamasow stellen, unterscheidet, wo die Unschuld der Opfer die Frage zuspitzt. Oder von der Frage nach Gott angesichts der Shoah, die in ihrem unfassbaren Ausmaß die Deutungen radikal in Frage stellt, die das jüdische Volk im Lauf der Geschichte für seine leidvollen Erfahrungen gefunden hat8, und auch siebzig Jahre danach – vor allem im deutschen Sprachraum – den Denkrahmen für jedes Nachdenken über die Theodizeefrage bildet.

In der heutigen Zeit, in der Millionen Menschen als Folge einer ungerechten politischen und wirtschaftlichen Weltordnung zugrunde gehen, könnte man sagen, die Leiden alter Menschen in österreichischen Pflegeheimen wären ein vergleichsweise harmloses Problem. Das mag in globaler Sicht stimmen. Es ist aber immer ein Mensch, der leidet und hofft und betet. Im Rahmen dieser Arbeit sind es die alten Menschen mit Demenz in Pflegeheimen.

Das Spezifische der Frage nach Gott im Zusammenhang mit dem Altwerden und dem Verlust der geistigen Kräfte scheint mir in der Spannung der Begriffe ‚Vergessen‘ und ‚Erinnern‘ zu liegen, die darum den Titel dieser Arbeit bilden. Im Buch Jesaja und im Buch der Psalmen gibt es bekannte, sehr berührende Stellen, in denen (alte) Menschen Gott anrufen, sie nicht zu verlassen, und Gott ihnen das verspricht:

Jes 46,4: „Ich bleibe derselbe, so alt ihr auch werdet, bis ihr grau werdet, will ich euch tragen. Ich habe es getan, und ich werde euch weiterhin tragen, ich werde euch schleppen und retten.“ (Vgl. Ps 71,18; Jes. 49,15)

Oder Ps 27:10 „Wenn mich auch Vater und Mutter verlassen, der Herr nimmt mich auf.“

Eine alte Frau hält ihre Tasche fest, in die sie alles gepackt hat, was sie zu brauchen glaubt. Am Beginn des Demenzprozesses spürt sie, dass sie immer vergesslicher wird. Ihr ganzes Bemühen ist darauf gerichtet, dass es niemand bemerken soll. Einige Monate, vielleicht Jahre später hat sie vergessen, wer sie ist, erkennt ihren Sohn nicht mehr und spricht unverständliche Sätze. Noch später liegt sie im Bett, es ist nicht mehr möglich, sie in einen Rollstuhl zu setzen. Sie streckt ihre Arme aus und ruft nach ihrer Mutter. Ihre Mutter hat sie schon lange verlassen: Vor vielen Jahren ist sie gestorben. Daran kann die alte Frau sich nicht mehr erinnern, fühlt sich wie ein verlassenes Kind.

Der zweite und dritte Teil (II, III) beschäftigen sich mit konkreter Liturgie in österreichischen und deutschen Pflegeheimen und ähnlichen Einrichtungen, die ich besucht habe. Ich verwende den Ausdruck ‚Pflegeheim‘ bewusst unscharf als Sammelbegriff für Einrichtungen, in denen pflegebedürftige Menschen über einen längeren Zeitraum, in den meisten Fällen bis zum Tod, betreut werden. Ich problematisiere das Wort ‚Pflegeheim‘ in dieser Arbeit nicht. Der Begriff ‚Heim‘ ist durch katastrophale Zustände in Kinder- und Jugendheimen, aber auch Altenheimen in der Vergangenheit belastet. Die Aufarbeitung dieser oft verbrecherischen Zustände und die Bemühungen um Verbesserungen sind notwendig. Die Bemühungen um Verbesserungen müssen weitergeführt werden, auch die Diskussion darüber, ob solche Einrichtungen heute überhaupt noch zeitgemäß sind, ist zu führen.9 Wenig halte ich von beschönigenden Umbenennungen. Ein Heim wird nicht alleine dadurch besser, dass es Seniorenresidenz, Pflegewohnhaus oder Geriatriezentrum genannt wird. Wenn ‚Heime‘ für pflegebedürftige Menschen wirklich das sind, was das Wort bedeutet, nämlich Orte der Geborgenheit, Sicherheit, an denen Leib und Seele sich beheimatet fühlen können, wird es nicht mehr nötig sein, ständig neue Bezeichnungen zu suchen.

Teil II behandelt verschiedene praktische Themen der Liturgie in Pflegeheimen. Es geht um Räume, in denen Gottesdienste gefeiert werden, um verschiedene Formen von Gottesdiensten oder die Bedeutung von Musik und Symbolen für die Feier von Gottesdiensten mit Menschen mit Demenz.

Teil III stellt die Frage, welche Rolle liturgische Angebote im Rahmen der Institution spielen, ob – und wenn ja, in welchem Sinn – sie notwendiger Bestandteil eines umfassenden Verständnisses von Pflege und Betreuung sind.

Methode

Papst Franziskus sagt in Evangelii gaudium 234-235 über das Verhältnis von Idee und Wirklichkeit: „Die Wirklichkeit steht über der Idee. Die von der Wirklichkeit losgelöste Idee ruft wirkungslose Idealismen und Nominalismen hervor, die höchstens klassifizieren oder definieren, aber kein persönliches Engagement hervorrufen. Was ein solches Engagement auslöst, ist die durch die Argumentation erhellte Wirklichkeit.“10 Diesem Gedanken fühle ich mich methodisch verpflichtet.

Die Beschäftigung mit der Frage, was demenzgerechte Liturgie in Pflegeeinrichtungen heute ausmacht, basiert auf einer qualitativen empirischen Forschung in zwei Schritten. In einem ersten Schritt habe ich die zuständigen Referentinnen und Referenten für Seelsorge in Altenheimen in österreichischen und deutschen Diözesen angeschrieben und sie darum gebeten, einen kurzen Fragebogen an die hauptamtlichen Seelsorger und Seelsorgerinnen in diesem Bereich zu schicken.11

Die Rücklaufquote dieser Umfrage war gering: Es kamen aus Österreich acht Antworten von Pflegeheimseelsorgerinnen und –seelsorgern (einige Fragebogen kamen von anderen Personen beantwortet zurück, diese habe ich bei der Auswertung nicht berücksichtigt), davon einer aus der Diözese Innsbruck, zwei aus der Diözese Graz-Seckau und fünf aus der Erzdiözese Wien.

Direkt aus der Zielgruppe meiner Befragung kamen aus Deutschland nur fünf Antworten, obwohl ich mich bemüht habe, alle zuständigen diözesanen Stellen zu kontaktieren – eine aus Augsburg, eine aus Würzburg, eine aus Bentheim (Diözese Osnabrück), eine aus Köln, und eine aus Aachen.12

In einem zweiten Schritt habe ich Gottesdienste in Einrichtungen besucht und Gespräche mit an der Gestaltung beteiligten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen geführt. Insgesamt war ich in zwölf Institutionen, drei in Deutschland und neun in Österreich. Ich habe dabei acht Gottesdienste besucht und vierzehn Gespräche geführt und protokolliert. Meine Gesprächspartnerinnen und -partner waren neun hauptamtliche katholische Seelsorgerinnen und Seelsorger – unter ihnen ein Priester –, sowie ein pensionierter Priester, der in dem Heim wohnt und priesterlichen Dienst versieht, zwei Ärzte, je eine Musiktherapeutin, eine Sozialbegleiterin und eine Mitarbeiterin mit verschiedenen Aufgaben in der Betreuung mit Schwerpunkt auf Seelsorge und Sterbebegleitung. Eines der Gespräche konnte aus gesundheitlichen Gründen nur in schriftlicher Befragungsform durchgeführt werden.13

Die Auswahl der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner macht deutlich, dass hier eine Vorentscheidung getroffen wurde, die nur eine von vielen möglichen Varianten ist. Eine grundlegende methodische Schwierigkeit dieser Arbeit ist es, dass die Menschen, die eigentlich Auskunft geben könnten, ob Gottesdienste demenzgerecht sind, als Gesprächspartnerinnen zu komplexeren Themen nicht in Frage kommen.14 Ich hätte mich ganz auf die Beobachtung von Menschen mit Demenz beschränken können, wofür die Methode der dichten Beschreibung ein gutes Instrument gewesen wäre.15 Ich hätte Gespräche mit Menschen am Beginn des Demenzprozesses führen können, die durchaus dazu in der Lage sind. Ich hätte Angehörige miteinbeziehen können. Am besten wäre es gewesen, all das und noch mehr zu tun. Daran haben mich meine beschränkten zeitlichen Möglichkeiten gehindert.

Auf der Suche nach einer geeigneten qualitativen sozialwissenschaftlichen Methode haben mich die von Roland Girtler in seinen Methoden der Feldforschung vorgeschlagenen Vorgehensweisen überzeugt.16 Ihnen liegt ein stärker am Verstehenwollen als an „Unterscheiden, Vergleichen, Messen, Kategorisieren, Analysieren“17 orientiertes Wissenschaftsverständnis zugrunde, das ein Eintauchen in die Lebenswelt der Menschen, um die es geht, erforderlich macht. An seinem Forschungsplan orientiert habe ich Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen geführt, die professionell im Bereich der Seelsorge in Einrichtungen der Altenpflege tätig sind. Meine Hoffnung hat sich bestätigt, dabei auf Menschen zu treffen, die sich schon viele Gedanken darüber gemacht haben, wie gute Liturgie mit alten Menschen, die von Demenz betroffen sind, gefeiert werden kann. In ihren Einrichtungen habe ich als teilnehmender Beobachter Gottesdienste mitgefeiert und protokolliert.18

Als langjähriger Seelsorger im Krankenhaus und Pflegeheim gehe ich selbstverständlich mit einem ‚Vorverständnis‘ an die wissenschaftliche Arbeit heran und kann nicht so tun, als würde ich als distanziert agierender Wissenschaftler wissenschaftliche Hypothesen verifizieren oder falsifizieren. Girtler bemängelt, dass dieses „Vorverständnis bzw. Alltagswissen des Forschers […] bei den Verfahren, bei denen ‚Hypothesen aufgestellt und getestet‘ werden, kaum oder nicht reflektiert“ wird.19 Die Methode Girtlers ermöglicht es, das Vorverständnis als Ressource einzubringen, wobei natürlich „das eigene Vorverständnis einer dauernden Prüfung unterzogen wird“20. Der Forscher „muss die Demut aufbringen, sich überraschen zu lassen und von seinen vorgefassten Interpretationen abzurücken. Das ist allerdings erst dann möglich, wenn ein intensiver Kontakt zu den betreffenden Menschen besteht.“21

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