Kitabı oku: «Menschen mehr gerecht werden», sayfa 2
1 Einleitung
1.1 Zum Einstieg
„Die heutige klinische Psychiatrie versucht, die Religiosität des Patienten in ihrer existentiellen Bedeutung zu beachten“, so Rainer Tölle und Klaus Windgassen (2014, S. 12).4 Vier Jahre davor schrieb Peter Kaiser: „Das Erstarken der Psychiatrie als eigenständiges Fach, die historisch bedingte naturwissenschaftliche Abwendung von allem Spekulativen, die Psychoanalyse und schließlich die stürmische Entwicklung der Psychopharmakologie führten zu einer weitestgehenden Verdrängung religiöser Thematik aus der Psychiatrie.“ (Kaiser 2010, S. 92) Hat sich in diesen vier Jahren die Lage grundlegend verändert? Zweifel sind berechtigt …
Nicht nur in der Psychiatrie und Psychotherapie, bereits in der Psychologie scheinen – zumindest im deutschsprachigen Raum – Religiosität oder Spiritualität keine große Rolle zu spielen.5 Michael Utsch konstatiert für die Religionspsychologie in einem Forschungsüberblick:
Es ist erstaunlich, dass die Religiosität von der deutschsprachigen Psychologie so wenig wahrgenommen wird, drückt sich darin doch eine grundlegende kulturelle und individuelle Dimension des Menschen aus. Während die psychologischen Aspekte des Sports, der Werbung, der Musik oder des ökologischen Bewusstseins mittlerweile intensiv erforscht werden, wird die Religion von vielen Psychologen immer noch ignoriert. (Utsch 2008, S. 309)6
Dabei definiert ein klassisches Einführungswerk zur Psychologie von Philip G. Zimbardo und Richard J. Gerrig „Psychologie formal als die wissenschaftliche Untersuchung des Verhaltens von Individuen und ihren mentalen Prozessen.“ (Gerrig u. Zimbardo 2013, S. 2) Darf man Religiosität bzw. Spiritualität dabei von vornherein ausklammern? Der namhafte Sozialpsychologe Roy F. Baumeister urteilt: „Like television, money, sex, and aggression, religion is an important fact of life, and psychology cannot pretend to be complete unless it understands religion alongside these other phenomena.” (Baumeister 2002, S. 165) Ähnlich betont ein offizielles Handbuch der American Psychological Association (APA): „In fact, we would argue that a mainstream psychology that overlooks the religious and spiritual dimension of human functioning remains incomplete.” (Pargament et al. 2013a, S. 10)7
Im Bereich von Gesundheit und Krankheit wird ähnlicher Bedarf angemeldet. Für die Gesundheitswissenschaft allgemein kommt Florian Jeserich in einem Literaturüberblick zu dem Schluss: „Die systematische Erforschung von Religion(en) und Spiritualität(en) als potentiell gesundheitsrelevante Faktoren ist ein Desiderat in der deutschen Gesundheitswissenschaft.“ (Jeserich 2011, S. 143) Spezifisch für unser Thema formuliert die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in einem aktuellen Positionspapier:
Forschung über die Bedeutung von Weltanschauungen und Sinngebungsmodellen als Belastung und Ressource im deutschsprachigen Bereich ist sinnvoll und notwendig. Ein interdisziplinärer Dialog zwischen Religionspsychologie, Theologie und Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik ist erwünscht und notwendig. Folgende Forschungsthemen erscheinen u. a. wichtig: (1) Wahrnehmen von religiösen/spirituellen Bedürfnissen der Patienten, (2) Religiosität und Spiritualität als Behandlungshindernis und (3) Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe mit Seelsorge-Angeboten. (DGPPN 2016, S. 7)
Das Handbuch Religion and Psychiatry der World Psychiatric Association (WPA) beschreibt im Vorwort Psychiatrie und Religion als zusammengehörig: „Religiosity can be considered a normal personality trait and cannot be disregarded by psychiatrists, whatever their own ideas on religiosity might be. The entire soul/psyche, after all, belongs to their sphere of work.“ (Verhagen et al. 2010, S. xvii) Das Handbuch möchte Neugier wecken für die Schnittstelle zwischen „psychiatry and man’s tendency to provide life with a vertical transcendental dimension.“ (ebd.)
Die Bewältigung von schweren psychischen Störungen ist eine große Herausforderung für alle Beteiligten. Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung ersetzt dabei nicht das, was eine Person selbst zum Umgang mit ihrem Problem beitragen kann und muss. Allgemein spricht man hier von der persönlichen Krankheitsverarbeitung oder -bewältigung, die Fritz A. Muthny und Jürgen Bengel im Handbuch der Gesundheitspsychologie und Medizinischen Psychologie so definieren:
Die Belastungen setzen einen komplexen Verarbeitungsprozess in Gang (Krankheitsverarbeitung oder -bewältigung, Coping). Der Betroffene bewertet die Bedrohung durch die Krankheit und prüft, welche personalen und sozialen Ressourcen helfen, die Belastung zu mindern. Krankheitsverarbeitung ist nach Heim (1986) ‚das Bemühen, bereits bestehende oder erwartete Belastungen durch die Krankheit innerpsychisch (emotional/kognitiv) oder durch zielgerichtetes Handeln aufzufangen, auszugleichen, zu meistern oder zu verarbeiten‘. (Muthny u. Bengel 2009, S. 359)
Nach Erfahrung der Autoren stoße dieses Thema „bei Ärzten wie Pflegepersonal gleichermaßen auf großes Interesse“ und trage „viel zum Verständnis von Patienten bei.“ (vgl. ebd., S. 366) Zum Erleben und Verhalten gehört bei schweren Erkrankungen zumindest für einen Teil der Patienten auch die religiöse bzw. spirituelle Ebene mit vielerlei Aspekten, die in der Bewältigung eine Rolle spielen können: Fragen, Ringen, Suchen, Handeln und evtl. Erfahrungen von Beziehung mit anderen und dem Größeren (Transzendenten), von Halt oder Sinn.
Das Ziel einer Behandlung ist in der Regel die Wiederherstellung der Gesundheit, oft aber auch eine Genesung, die mit evtl. bleibenden Einschränkungen möglichst gesund umgehen kann. Heutige Definitionen von Gesundheit tragen dem Rechnung:
Im Anschluss an den französischen Medizintheoretiker Georges Canguilhem wird Gesundheit heute von Philosophen, Theologen und Medizinern als die Fähigkeit verstanden, auch Einbußen und Störungen der Gesundheit zu ertragen und durch ihre Integration in das eigene Lebenskonzept zu einer neuen »Norm des Lebens« im Sinne eines neuen Gleichgewichtes zu finden. (Schockenhoff 2009, S. 310) f.)8
Genesung im Sinne von „gut leben können“ mit bleibenden psychischen Problemen wird z. B. auch im Recovery-Ansatz ausdrücklich beschrieben (vgl. dazu Abschn. 3.2.6). Dazu bedarf es neben dem Abbau von Problemen auch der Aufmerksamkeit für vorhandene Ressourcen, welche sich für eine positive Bewältigung aktivieren oder verstärken lassen. Die persönliche Religiosität bzw. Spiritualität können dazu gehören – ohne sie deshalb für die Gesundheit komplett verzwecken zu wollen.9
1.2 Psychologische und therapeutische Interessen
Psychologie wie auch Psychiatrie haben ein Interesse, mit ihrem Tun positiv für menschliches Leben zu wirken: für Humanität, Heilung, die Entfaltung von Lebensmöglichkeiten. Mit dieser Option treffen sie sich mit der Caritas wie auch der Praktischen Theologie (dazu mehr in Abschn. 1.4). Nach Jacob A. Belzen ist Psychologie nicht wertneutral, sondern sie engagiere sich für die Förderung menschlichen Wohlergehens (human welfare) – wobei es freilich keinen Konsens gebe, worin dieses bestehe (vgl. Belzen 2009a, S. 207). Bernhard Grom versteht Religionspsychologie als „engagierte Wissenschaft“:
Aufgrund ihrer psychohygienisch-therapeutischen Grundausrichtung muss sich die Psychologie für das psychische Wohlbefinden und eine günstige Persönlichkeitsentwicklung der Menschen verantwortlich fühlen; darum soll die Religionspsychologie auch ermitteln, welche religiösen Einstellungen das Wohlbefinden und die Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigen oder fördern. (Grom 2007, S. 14)
In diesem Sinne will auch das bereits genannte APA-Handbuch mit einer größeren Beachtung der religiösen bzw. spirituellen Dimension dazu beitragen, die conditio humana zu verbessern: „Greater attention to the religious and spiritual dimension, we firmly believe, can enrich and vitalize our efforts to understand and enhance the human condition.“ (Pargament et al. 2013b, S. 18)
Der Psychiater und Psychotherapeut Daniel Hell (vormals Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich) gibt dem Zusammenwirken psychiatrisch-psychotherapeutischer Konzepte und spirituell-religiöser Konzeptionen die Überschrift „Differenzierung statt Spaltung“ (Hell 2013, S. 18). Im Blick auf Not und „Unheilsein des Menschen“ sagt er: „Psychotherapie und Seelsorge gehen nicht ineinander auf und sollten meines Erachtens nicht vermischt werden; sie lassen sich in der Praxis aber auch nicht völlig trennen.“ (ebd., S. 19) Unvermischt und ungetrennt – ein in der Theologie langbewährtes Prinzip! Hell sieht in solcher Rückbesinnung keinen „Gegensatz zur neurowissenschaftlichen Forschung“:
Je mehr wir über das Gehirn lernen, desto mehr erkennen wir auch den Einfluss von Lebensumständen und Erziehung auf Gehirnfunktionen und Gehirnstruktur. Wir werden von unserem Gehirn nicht nur gesteuert, sondern wir verändern unser Gehirn ebenso durch gezieltes Üben und durch bewusste Lebensführung. Offenbar ist die Zeit reif, menschliche Grundhaltungen und kulturelle wie individuelle Wertvorstellungen wieder ernster zu nehmen. Dazu gehören auch spirituelle und religiöse Fragen, die in Psychiatrie und Psychotherapie lange tabuisiert wurden. (ebd., S. 20)
Seiner Folgerung für die Psychiatrie und Psychotherapie kann man gut zustimmen: „Es gilt, die spirituelle Dimension ernst zu nehmen, ohne gleichzeitig die kritisch-wissenschaftliche Haltung aufzugeben.“ (ebd.) Ähnlich plädiert Peter J. Verhagen dafür, dass Wissenschaft und Religion nicht von vornherein als Gegner und Todfeinde zu betrachten seien, sondern Verbündete sein könnten gegen Nonsens und Aberglaube (vgl. Verhagen 2012, S. 356), es brauche dafür vernünftige Qualitätskriterien für die Reflexion und Haltung zu Psychiatrie und Religion – zugunsten der seelischen Gesundheit und zum Wohle aller (vgl. ebd., S. 357).
Zwei prominente Stimmen zur Psychotherapie sollen noch zu Wort kommen. Jacob A. Belzen sieht eine Analogie im therapeutischen Umgang zwischen dem Bereich Religiosität/Spiritualität und dem Bereich Sexualität: Psychologen wüssten, wie wichtig und schwierig es sein könne, in professioneller Weise über diesen Lebensbereich zu sprechen. Sie sollten sensibel sein für die jeweilige Relevanz, empathisch zuhören, sich Urteilen und Bewertungen enthalten, Fachwissen besitzen … Psychotherapeuten dürften hier so wenig ihre Klienten anleiten wie darin, wie sie ihr Geld ausgeben oder wohin sie in Urlaub fahren sollten. Aber während Therapeuten ausgebildet seien, über solch profane Themen wie finanzielles, sexuelles oder Ess-Verhalten zu reden, sei kaum jemand ausgebildet, mit moralischen, ethischen, religiösen und spirituellen Themen professionell umzugehen – eine analoge Qualität an Ausbildung für den Umgang mit diesen Themen lege sich darum nahe (vgl. Belzen 2004, S. 296).10
Der Freiburger Psychoanalytiker Tilmann Moser hat 27 Jahre nach seinem sehr bekannt gewordenen Buch Gottesvergiftung (1976) eine aktualisierte Sicht vorgelegt: Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott (2003). Darin legt er Psychotherapeuten nahe, „nach zwei Richtungen wachsam“ zu sein: einerseits für „ den düsteren Gott hinter einer Depression oder einer Angstneurose“, andererseits für die „Entdeckung einer religiösen »Substanz«, in welcher Form auch immer, die einen tragenden Grund bedeuten kann“. Deshalb sollten sie in ihren „Deutungen eher sehr zurückhaltend sein, um nicht ungewollt zerstörerisch zu wirken.“ (ebd., S. 11) Er sieht in „Gottesvergiftungen“ eine „sehr primitive Theologie am Werk“, „die Gott als Instrument der Erziehung und der Einschüchterung benutzt hat.“ (ebd., S. 23) Andererseits entdeckte er ein positives menschliches Grundgefühl, das er „Fähigkeit zur Andacht“ nennt (vgl. ebd.). Ihr komme in der kindlichen Entwicklung „eine wichtige Bedeutung für den Aufbau ihrer seelischen Welt“ zu. Es sei dann „entscheidend, wie diese Fähigkeit zur Andacht aufgenommen wird und welche Inhalte die Erwachsenen in dieses kostbare Gefäß hineingießen.“ (ebd., S. 24) Moser sieht die Ursachenzusammenhänge deshalb differenzierter als 1976 und verweist auf zirkuläre Prozesse, vorgegebene Dispositionen und destruktive Schleifen mit evtl. pathologischen Folgen (ebd., S. 71) f.). In der therapeutischen Arbeit mit Patienten, die scheinbar alles Religiöse weit hinter sich gelassen hätten, die widerwillig oder „höhnisch auf Fragen nach einer religiösen Vorgeschichte“ antworteten, entdecke er zum Teil, dass „die Abkehr von Religion […] keine wirkliche Erledigung oder Trennung“ war, sondern eher „einer Verschüttung“ gleiche, einer „Unterbringung Gottes oder der eigenen Frömmigkeit in einer schwer zugänglichen seelischen Deponie“, wobei er als Therapeut die Ahnung habe, „dass unter den wackelig gewordenen Fundamenten der Hilfe suchenden Person Gottesteile modern“ – dann gehe es „um eine Begegnung und Aussöhnung mit einer Gottes- oder Kirchenbeziehung“ (ebd., S. 72) f.).
Das Einleitungskapitel des Handbuchs Spirituality in psychiatry des Royal College of Psychiatrists meint ganz anschaulich und mit britischem Charme: Spiritualität samt ihren psychologischen Aspekten sei für alle Psychiater relevant, nicht als Zusatz in einem ohnehin überfüllten Curriculum, sondern als Gedanke im Hinterkopf, der manchmal auch weiter nach vorne komme (vgl. Sims u. Cook 2009, S. 1). Psychiater und andere Profis im Dienst der seelischen Gesundheit müssten „zweisprachig“ sein, die Sprache von Psychiatrie und Psychologie wie auch die „Sprache“ von Spiritualität fließend beherrschen, die mit Themen wie Sinn, Hoffnung, Werten, Verbundenheit und Transzendenz zu tun habe – und wie jede Sprache brauche diese ebenfalls Übung (vgl. ebd., S. 14).
1.3 Menschen gerecht werden
Der Psychiater Thomas Reuster spricht vom therapeutischen Bemühen, Patienten als individuellen Personen gerecht zu werden:
Psychotherapeuten haben den Ehrgeiz, ihren Patienten gerecht zu werden. […] Die Psychotherapeuten (vor allem tiefenpsychologischer Provenienz) glauben […], dem Patienten als Person und als psychische Einheit gerecht werden zu sollen. Sie wollen nicht ein bißchen verstehen, sondern möglichst ganz verstehen. Sie möchten weniger einem Problem, sondern einem Problem dieses Menschen gerecht werden. Dabei zeigen sie Teilnahme, Empathie, Solidarität. (Reuster 1999, S. 69)
Diesem Anspruch könne man natürlich auch bei bestem Bemühen nie ganz entsprechen, es gebe viele Möglichkeiten, falsch zu liegen oder sonst etwas schuldig zu bleiben (vgl. ebd., S. 70).
Für die DGPPN beinhaltet Gerechtigkeit u. a. „die faire Berücksichtigung sämtlicher individueller Besonderheiten in der Behandlung“ (vgl. DGPPN 2012b, S. 2).11 Mathias Berger spricht von der „Kunst der komplementären Beziehungsgestaltung“ und der hohen Relevanz einer idiographischen, „auf den einzelnen Patienten zugeschnittene[n] Vorgehensweise des Therapeuten“ (Berger 2013, S. 64).12 Giovanni Maio betrachtet in medizinethischer Sicht Krankenbehandlung als Dienst „für einen ganzen Menschen in all den vielfältigen Facetten seiner einzigartigen Lebensgeschichte.“ (Maio 2012, S. 395)13 Speziell für unser Thema zieht Klaus Baumann die Schlussfolgerung: Spirituelle Bedürfnisse und religiösen Glauben von Patienten in Psychiatrie und Psychotherapie zu respektieren und wertzuschätzen sei ein wichtiger Schritt, um den Patienten selbst, ihrer menschlichen Würde und ihrem inneren Leben gerechter zu werden (vgl. Baumann 2012, S. 114).14
Warum kümmert sich eine caritaswissenschaftliche Studie um dieses Themenfeld? Menschen mehr gerecht werden lautet der Titel dieser Arbeit: Einsatz für Gerechtigkeit ist ein zentrales Anliegen der Bergpredigt und für das Christsein von höchster Priorität (vgl. Schockenhoff 2014, S. 193). Christliche Ethik ist dabei „keine religiöse Sondermoral“, sondern lehrt
eine vernunftbegründete Moral des vollen, unverkürzten Menschseins, in deren Zentrum die Sorge um das Wohlergehen der Person und die Entfaltung ihrer Existenzmöglichkeiten steht. Der Einsatz der Christen für die größere Gerechtigkeit im Sinne Jesu führt nicht zu einer anderen oder besseren Moral, sondern dazu, dass Christen sich durch ein besonderes Engagement für alles auszeichnen, was nach menschlichen Maßstäben erstrebenswert und gut ist. (ebd., S. 193 f.)
Das biblische Verständnis von Gerechtigkeit meint nach Dietrich Ritschl gleichwohl mehr als nur Symmetrie, Ausgleich und Balance,15 sondern „gelingendes Leben“, „das Gesamt der lebensfördernden, heilenden Beziehungen“ (vgl. Ritschl 1991, S. 88). „Diese ‚neue Gerechtigkeit‘ verknüpft den symmetrischen Ausgleich mit Barmherzigkeit für den Bedürftigen und Zuspätgekommenen.“ (ebd., S. 89) Solch eine Option als tragender Beweg- und Hintergrund dürfte mit den oben genannten psychiatrischen und psychotherapeutischen Anliegen durchaus konvergieren. Benedikt XVI. beschreibt in seiner Enzyklika Caritas in veritate eine zentrale Verbindung von Caritas und Gerechtigkeit:
Wer den anderen mit Nächstenliebe begegnet, ist vor allem gerecht zu ihnen. Die Gerechtigkeit ist der Liebe nicht nur in keiner Weise fremd, sie ist nicht nur kein alternativer oder paralleler Weg zur ihr: Die Gerechtigkeit ist untrennbar mit der Liebe verbunden, sie ist ein ihr innewohnendes Element. Die Gerechtigkeit ist der erste Weg der Liebe oder – wie Paul VI. sagte – ihr „Mindestmaß“ […]. Die Nächstenliebe offenbart auch in den menschlichen Beziehungen immer die Liebe Gottes; diese verleiht jedem Einsatz für Gerechtigkeit in der Welt einen theologalen und heilbringenden Wert. (Benedikt XVI. 2009, Nr. 6)
Demnach dürfte es – zumindest „anonym“ oder unbewusst – mit Gott zu tun haben und in seinem Sinne sein, wenn man danach sucht, Patientinnen und Patienten noch besser gerecht zu werden.
1.4 Caritaswissenschaft als praktische Theologie
Caritaswissenschaft darf und will keine ungebührliche Einmischung auf fremdem Terrain betreiben. Psychiatrie und Psychotherapie sind ein eigener und autonomer Bereich, den die Theologie selbstverständlich achtet und respektiert.16 Sie will auch niemand vereinnahmen.17 Sie hat jedoch mit ihrer wissenschaftlich begründeten Perspektive Wichtiges in die Diskussion einzubringen. Der Bedarf an solch interdisziplinärem Dialog mit den Geisteswissenschaften wird da und dort auch von psychiatrischer Seite angemeldet.18
Die Caritaswissenschaft hat einen sehr komplexen wissenschaftlichen Gegenstand: Dieser schließe u. a. „den leidenden und den helfenden Menschen sowie die Art und Qualität ihrer Beziehung ein“.19 Ihre Arbeit erfolge in drei Schritten: Sie möchte „Theorie und Praxis von Caritas und Christlicher Sozialarbeit aus unterschiedlichen Perspektiven und Fragestellungen heraus“ 1. beschreiben, 2. erklären und 3. fördern bzw. konstruktiv verändern, wofür eine reflektierte Interdisziplinarität notwendig sei (vgl. Baumann 2015, S. 143).
Sie ist darin der Pastoralkonstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils verpflichtet: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“ (Gaudium et spes, Nr. 1) In dieser Solidarität ist ein umfassender Horizont gefordert: „Es geht um die Rettung der menschlichen Person, es geht um den rechten Aufbau der menschlichen Gesellschaft. Der Mensch also, der eine und ganze Mensch, mit Leib und Seele, Herz und Gewissen, Vernunft und Willen steht im Mittelpunkt unserer Ausführungen.“ (ebd., Nr. 3) Die Brücke zum Thema und Anliegen unserer Studie ist leicht zu schlagen. Die Ausführungen des Konzils zum karitativen Tun in Apostolicam actuositatem Nr. 8 mit dem Blick auf Menschen, die „von Drangsal und Krankheit gequält werden“, der Rücksicht „auf die personale Freiheit und Würde“, den vorausgehenden „Forderungen der Gerechtigkeit“, der Förderung der Selbsthilfe und Eigenständigkeit20 und der Zusammenarbeit „mit allen Menschen guten Willens“ (vgl. Apostolicam actuositatem, Nr. 8) sind eine weitere Orientierung. In dieser Richtung formuliert die Deutsche Bischofskonferenz: „Die Caritas meint den ganzen Menschen einschließlich seiner existentiellen Ängste und Sehnsüchte und Fragen und reduziert ihn nicht auf materielle Bedürfnisse.“ (Die deutschen Bischöfe 1999, S. 16)
Warum aber Caritas, also Nächstenliebe? Reicht nicht kompetente soziale oder therapeutische Hilfe? Benedikt XVI. betont in seiner Enzyklika Deus caritas est, es sei das Wesentliche, „das der leidende Mensch – jeder Mensch – braucht: die liebevolle persönliche Zuwendung.“ (Benedikt XVI. 2005, Nr. 28) Deshalb sei für den Dienst an den Leidenden berufliche Kompetenz grundlegend notwendig, darüber hinaus aber geht es ja „um Menschen, und Menschen brauchen immer mehr als eine bloß technisch richtige Behandlung. Sie brauchen Menschlichkeit. Sie brauchen die Zuwendung des Herzens.“ (ebd., Nr. 31) Mathias Berger, vormals Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Uniklinikum Freiburg, spricht im Kontext einer therapeutisch individuell angepassten Beziehungsgestaltung von der Forderung, „dass ein Therapeut seine Patienten mit so viel Engagement und Empathie behandeln sollte wie er es bei einem Familienangehörigen täte“ oder – auf ein Zitat Friedrichs II. zurückgreifend – „ex amore“ (vgl. Berger 2013, S. 64).
Praktische Theologie (PT) will dem Menschen dienen. Ihr Ziel ist, wie das Handbuch praktische Theologie sagt, „der Mensch in seinem Menschsein-Können, d. h. in einem individuellen und sozialen Leben, das der Würde des Menschen vor Gott entspricht.“ (Haslinger et al. 1999b, S. 395) Sie hat dabei „eine vorrangige Option für benachteiligte, arme, unterdrückte, in die Bedeutungslosigkeit abgedrängte Menschen […] eine vorrangige Ausrichtung an den Menschen, bei denen dieses menschenwürdige Leben-Können am meisten verletzt ist.“ (ebd., S. 396) PT möchte durch ihre Arbeit dazu beitragen, die Zuwendung Gottes und „Leben in Fülle“ (Joh 10,10) in konkreten Lebenskontexten erfahrbare Wirklichkeit werden zu lassen (vgl. ebd., S. 395). Dafür muss die PT von den Erfahrungen der Menschen und ihren wirklichen Fragen ausgehen (vgl. Haslinger et al. 1999a, S. 28) f.).21 Die Beachtung der Betroffenenperspektive ist eine konstitutive Komponente von PT (vgl. Fuchs u. Haslinger 1999, S. 220)22: „Deshalb ist es für eine diakonisch ausgerichtete Praktische Theologie wichtig, nicht nur die Notsituation, sondern auch die Art der Bedürftigkeit von den Betroffenen selbst definieren zu lassen.“ (ebd., S. 223)23
Stephanie Klein erinnert daran, dass Menschen, die zu den „Armen“ gehören, oft wenig Möglichkeit haben, „sich in der Gesellschaft, der Kirche und der Theologie sichtbar zu machen. Empirische Forschung kann dazu beitragen, deren eigene Deutungen, Hoffnungen, Definitionen und Perspektiven zur Sprache zu bringen und ihnen in theologischen wie auch in anderen Diskursen Relevanz zu verleihen.“ (Klein 2005, S. 103) Heinz Schott und Rainer Tölle sind überzeugt, dass „viele chronisch Kranke nolens volens Erfahrungen in der Psychiatrie gewonnen“ haben: „Sie können mitreden“ – Psychiater könnten viel gewinnen, indem sie auf diese hörten (vgl. Schott u. Tölle 2006, S. 503). Solche Anliegen teilt auch unsere Studie, indem sie Patienten selber befragt und versucht, die Relevanz ihrer Aussagen für die fachliche Diskussion deutlich zu machen.
PT möchte zu einer „angemesseneren, unverfälschteren Wahrnehmung“ der Lebenswirklichkeiten beitragen (vgl. Haslinger et al. 1999a, S. 27) und erkundet dazu empirisch gerade auch solche Bereiche, die in der humanwissenschaftlichen Forschung sonst zu kurz kommen, wie etwa „Fragen nach der gelebten Religiosität […]: nach den religiösen Vorstellungen und Gottesbildern von Menschen in verschiedenen biographischen und sozialen Lagen, nach ihren Hoffnungen, Suchbewegungen und Zweifeln, ihrer religiösen Sozialisation und Praxis usw.“ (Klein 2005, S. 102). Die in unserem empirischen Teil angewandten Methoden quantitativer Sozialforschung „sind geeignet, um die Verbreitung von Phänomenen zu erforschen“ (vgl. Klein 2015, S. 63) und betreiben in diesem Teil PT als Sozialwissenschaft (vgl. Mette u. Steinkamp 1983, S. 173). Nach Heinrich Pompey bedient sich Caritaswissenschaft „der Methoden der Sozialempirie. Sie fragt: 1. Was bedeutet der Glaube für leidende und suchende Menschen?“ (Pompey 2001, S. 189). Zu ihren Forschungsfragen gehöre: „Erweist sich der Glaube als Lebensquelle für notleidende, kranke, konfliktbeladene und suchende Menschen, und liefert er lebensförderliche Lebens-Wertoptionen bzw. Lebens-Sinnperspektiven?“ (ebd., S. 192) In unserem Fall ist das nicht etwa auf christlichen Glauben begrenzt, sondern fragt nach Werten, Sinn und möglichem Benefit in allen möglichen Weltanschauungen.
Damit wird auf der Basis kompatibler bzw. konvergierender Optionen24 zwischen Humanwissenschaften und Theologie in „interdisziplinären Suchbewegungen […] vor allem problembezogenes und Problemlösungs-Wissen“ produziert (vgl. Mette u. Steinkamp 1983, S. 170) f.).25 Nach Stephanie Klein erarbeite PT „nicht primär Lösungen für die Praxis“, sondern stelle „Wissen und Analysen für die Erarbeitung von Lösungen zur Verfügung“ (vgl. Klein 1999a, S. 263). In diesem Sinne wollen unsere Ausführungen niemandem eine „Lösung“ vorschreiben, sondern zum informierten Nachdenken über die aufgezeigten Phänomene und Aspekte anregen und einige Vorschläge zu Lösungsansätzen machen.
Was für Menschen wirklich hilfreich ist, lässt sich oft nicht leicht bestimmen. Jürgen Werbick sieht in seiner Theologischen Methodenlehre eine Aufgabe der „Diakonik“ (hier: Caritaswissenschaft) darin, in einen „produktiv ausgetragenen Konflikt der Hermeneutiken des Hilfreichen“ einzutreten und dafür empirisch zu erheben, „was der Lebens-Not von Menschen wirksam abhilft und von den Betroffenen wie den diakonisch Tätigen so empfunden wird, dass sie sich mit solcher Hilfe identifizieren können“ (Werbick 2015, S. 567). PT mische sich als „empirisch forschende Wissenschaft“ ein „in den interdisziplinären wissenschaftlichen Diskurs um die soziale Wirklichkeit“: „Sie macht die Theologie dort präsent und trägt aus theologischer Sicht zur Benennung der Probleme, zur Methodendiskussion, zur Theoriebildung, zur Findung von Lösungen und zum Streit um die Wirklichkeit bei.“ (Klein 2015, S. 64) Ihre Dokumentationen und Analysen seien „oft ein Politikum“, weil sie evtl. Missstände und Ungerechtigkeiten sichtbar machten (vgl. Klein 1999a, S. 264). Anwaltschaft für Benachteiligte gehört zu den Prinzipien von Caritas: Caritaswissenschaft müsse theologisch und sozialwissenschaftlich begründen, warum diese geboten und möglich ist (vgl. Haslinger 2004, S. 159). Anwaltschaft zielt nicht auf Gegnerschaft, sondern eher auf einen fruchtbaren Dialog und die Zusammenarbeit „mit allen Menschen guten Willens“ für das „Werk sozialer Nächstenliebe“ und Anliegen wie Gerechtigkeit und Frieden (vgl. Benedikt XVI. 2009, Nr. 57).26
Zwischen Empirie und Theorie besteht auf mehreren Ebenen ein – im besten Falle konstruktives – Spannungsverhältnis. Zunächst sind empirische Daten nicht einfach „neutrale“ Fakten: Gegen ein positivistisches Verständnis sind sie „nicht die Wirklichkeit selbst“, sondern voraussetzungsreiche Ergebnisse, die „auf die Prämissen, die zugrundeliegende Anthropologie und die methodischen Implikationen hin reflektiert werden“ müssen (Klein 2015, S. 62) f.).27 Des weiteren besteht in unserem Kontext die Frage, ob und wie in ethischen, therapeutischen oder theologischen Fragen Empirie auf die Theorie bzw. das übliche Denken einwirken kann. Die Medizinethiker Stella Reiter-Theil und Uwe Fahr betrachten (empirische) „Forschung über Ethik“, die Betroffene und ihre Anliegen mehr als nur anekdotisch einbezieht, als eine „notwendige Aufklärung und Selbstkritik.“ (vgl. Reiter-Theil u. Fahr 2005, S. 103) Reiter-Theil beschreibt in einem grundlegenden Artikel drei Muster der Beziehung zwischen dem Empirischen (bzw. empirisch beobachtbarer Praxis) und ethischen Normen: Diese könnten sich jeweils in eine Richtung oder auch gegenseitig infrage stellen (vgl. Reiter-Theil 2012, S. 426). So könnten z. B. empirische Studien, die eine überraschende oder bedenkliche Praxis nachweisen, Anlass sein für die kritische Bewertung einer bestimmten Norm, die dabei verteidigt, modifiziert oder zur weiteren Diskussion gestellt werden könnte. Für eine Modifikation brauche es aber robuste empirische Evidenz und möglichst interdisziplinäre ethische Argumentation (vgl. ebd., S. 432 f.). In diesem Sinne könnten empirische Ergebnisse unserer Studie zusammen mit den anthropologischen und ethischen Perspektiven durchaus ein Anstoß sein zur Weiterentwicklung sowohl von medizinethischen Richtlinien (die etwa im deutschsprachigen Raum im Blick auf Religion und Weltanschauung nur die Neutralität formulieren; vgl. Abschn. 3.3.1) wie auch von Standards der psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung (die etwa in den einschlägigen Lehrbüchern Religiosität bzw. Spiritualität weitestgehend ausklammern; vgl. Abschn. 6.2.1). PT erweist sich damit „in ihrer für die Praxis generativen Kraft als gegenwarts- und zukunftsträchtig“ (vgl. Kießling 2005, S. 123). Theologie hat eine prophetische Aufgabe, es gibt in ihr „einen auf Zukunft hin orientierten Praxisbezug, der die gegenwärtig vorfindbare Praxis als Korrektur und Herausforderung trifft“ und im empirisch Erkennbaren nach Potentialen sucht, die – wie in Jesu Gleichnissen – für überraschende theologische Perspektiven offen sein können (vgl. Fuchs 2000, S. 208).
Umgekehrt kann und muss auch die Theologie selber aus der Empirie lernen. Empirische Wahrnehmungen können Anlass sein für theologisches Nachdenken, für das Neu-Beachten oder die Neu-Interpretation von Glaubensthemen. Gute Theologie braucht „theologische Orte“ (loci theologici): Quellen und Fundstellen für Erkenntnis und ihre Vermittlung ins Heute.