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ZÜRICHS GERINGE WIRTSCHAFTSKRAFT
Die Jahrzehnte vor der Reformation im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert waren gekennzeichnet durch ein überwiegendes politisch-kriegerisches Interesse dieser urtümlich heldenhaften Eidgenossen. Die wirtschaftliche Kraft der einzelnen Orte des Bundes ging wegen der steten Kriege fast überall zurück. Die Dominanz der Kriegsmentalität, der Kriegsschrecken und die Kriegsopfer von mehreren Generationen vor der Reformation können nicht genug betont werden. In der publizistisch-populären Zwingli-Literatur liest sich die Schlacht bei Kappel im Jahre 1531 vielerorts so, als habe hier Zwingli in einer Zeit grosser und langanhaltender Ruhe im friedlichsten Land einen Krieg angezettelt, dem er dann selbst zum Opfer gefallen sei.
Während die St. Galler Leinwandindustrie ihre Stellung zu behaupten vermochte und in viele europäische Länder exportierte, hatte in der Limmatstadt Zürich das Gewerbe um 1500 nur noch lokale Bedeutung, das heisst, man exportierte kaum noch Güter. Die einst blühende Seidenindustrie war nun fast ganz verschwunden. Es blieb die gute Verkehrslage der Stadt zwischen den Alpenpässen zum Süden und den Städten im Reich. Die wirtschaftliche Situation war, trotz Vieh-, Getreide- und Salzhandel, so schlecht, dass fast alle gesellschaftlichen Gruppen Stagnation und sogar Rückgang wahrnahmen. Und das machte sie hellhörig und empfindlich.
Die Bauern klagten über die Abgaben und die Handelsbeschränkungen für ihre Produkte. Die Handwerker jammerten über steigende Lebenshaltungskosten, steigende Löhne der angestellten Gesellen und über höhere Materialpreise. Die reichen Pfründner bemerkten einen Vermögensrückgang und die Kaufleute wetterten über die Gebühren, Zölle und Steuern. Alle produktiv Tätigen waren unzufrieden. Nur die Soldherren, die «Pensionenritter», die dem Papst, dem Kaiser und den diversen Königen und Fürsten Schweizer Soldaten und Waffen verkauften, diese Pensionäre strichen fortwährend dicke Gewinne ein, liessen sich schmieren und bestechen, Hauptsache, der Gulden rollte.
Die Gesellenorganisationen in allen Berufen strebten danach, ihre Freizeit im Kreise ihrer Alters- und Berufsgenossen in eigenen Trinkstuben und Gesellenherbergen zu verbringen, sich von der Kontrolle ihrer Meister zu lösen und selbstständige Sicherungen für Krankheit, Tod und Begräbnis zu schaffen. Sie machten lediglich 10 bis 12 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Die Gesellen wurden aber immer stärker von Meister, Zunft und Stadt unter Kontrolle gestellt.
Die jungen Männer in der freien Schweiz waren so frei, das Interesse für eintönige Handels- und Gewerbetätigkeit oder die Feldarbeit zu verlieren und von sich zu weisen, sie fanden keinen Gefallen mehr an den bescheidenen, engen Verhältnissen in den Bergtälern der Innerschweiz, am langweiligen Handwerk oder an der Scholle hinter dem Wald. Unter diesen Bedingungen spross ein zynisches Verhältnis zum Vaterland, zur gebremsten und fehlgeleiteten Entwicklung des eigenen Landes, besonders bei denen, die gross mit dem Vaterland prahlten. Diese Entwicklung spürte der Student Zwingli und später noch verschärft der junge Priester auf dem Land schmerzlich. Man kam und ging, wie es gerade passte, man warf mit dem Geld um sich, das man mit dem Kriegshandwerk in fremden Diensten verdient hatte, man haute die geplünderte Beute auf den Kopf, egal, ob man ein körperlicher oder seelischer Krüppel war. So wurde der Reislauf (der Eintritt in fremden Dienst als Söldner) zum Hauptübel der Gesellschaft, und er beschleunigte die wirtschaftliche, soziale, politische wie moralischsittliche Verluderung. Dies ist nicht nur die Deutung Zwinglis und seiner Mitstreiter. Mehrmals, bereits einige Jahre vor Zwingli, wurden die sogenannten Blutsverkäufer bekämpft, die Reisläuferei wurde verboten und strengere Sittenmandate erlassen; die Verbote wurden nach kurzer Zeit wieder fallen gelassen. Das war überhaupt ein wichtiges Kennzeichen der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Vor-Zwingli-Zeit: Sittenmandate wurden immer und immer wieder erlassen, aber sie wurden kaum befolgt. Die Obrigkeit konnte sich nicht durchsetzen, was sich übel auswirkte auf das Gemeinwesen und somit auf die Gesellschaft der damaligen Zeit. Die sittliche Lage war katastrophal.
Ganze Stadt- und Staatshaushalte, vor allem in den inneren Orten, waren von den fremden Pensionen abhängig. Der französische König zahlte weitgehend die «Betriebskosten» dieser Gemeinwesen. Rom zahlte den Priestern bescheidene Unterstützungsgelder, um sie an das Papsttum zu binden. Von den unermesslichen Reichtümern, welche überall aus dem Volk herausgepresst und nach Rom abtransportiert wurden, verteilte man ein paar Gulden an die kirchlichen Statthalter, die dafür zu sorgen hatten, dass die römische Kirche im Dorf blieb.
Soldverträge und Reislaufen kamen der Allgemeinheit wirtschaftlich kurzfristig zugute, mochten die Schäden sonst noch so bedenklich ins Gewicht fallen. Die Gesellschaft war im gefährlichen Würgegriff «konformer Korruption» auf sämtlichen Gebieten. Die kirchlichen und behördlichen Missstände waren den ohnmächtigen Räten längst entglitten. Die Obrigkeit begann, kirchliche Befugnisse an sich zu reissen.
Man wollte zwar keinen Bruch mit dem Alten, man wollte behutsame Änderungen, unter eigener Regie. Die erwachte Zürcher Bürgerschaft wollte aus der Auslandsabhängigkeit herauskommen. Das ging nur, wenn es gelang, das eigene wirtschaftliche Potenzial zu entwickeln und zu stärken. Man wollte nicht mehr die eigene Haut oder das eigene Blut, dafür mehr eigene handwerkliche Artikel auf die internationalen Märkte tragen. Gegner dieses politökonomischen Willens der Handwerkermeister und Kaufleute in der Zünfterstadt Zürich waren die inländischen Kriegsdienstherren, und zwar, und das ist wichtig, lange vor der Reformation und vor Prediger Zwingli. Es fehlten Arbeitskräfte, weil die jungen Männer scharenweise auszogen auf die Schlachtfelder Europas. Die Lohnforderungen zu Hause stiegen, da die Männer im Waffendienst besser entlöhnt und zudem korrumpiert wurden durch die Möglichkeit, sich an brutalen Beutezügen zu beteiligen. Das Gemeinwesen zu Hause verrottete. Der Gegensatz zum Klerus und zum Adel wurde schärfer, zu gerne hätte man beide abgeschüttelt. Das Selbstbewusstsein der Gewerbetreibenden stieg. So wurden die Zürcher Zunftherren, die im Grossen Rat sassen, durch ihre wirtschaftspolitischen Interessen zu Gegnern des Solddienstes. Und ihr zentrales Bestreben war die Emanzipation von Papst, König und Kaiser, vor allem die Eindämmung der Macht und des Einflusses der römischen Kurie.
Das waren die Voraussetzungen dafür, dass dieser humanistisch gebildete Toggenburger Leutpriester, der in Einsiedeln durch seine evangelischen und antipapistischen Predigten von sich reden gemacht hatte, von den Zünftern und Räten nach Zürich geholt wurde. Er sollte die Emanzipationsbewegung der republikanischen Stadtgemeinschaft aus der bischöflichen Oberhoheit religiös und ideologisch untermauern und befördern. Der Mann ging mit einem solchen Schwung und mit solcher Radikalität zu Werke, dass die Bürger gezwungen waren, mitzuziehen.
SCHMERZHAFTER ADERLASS
Zwingli wird schon als Kind auch in seinem Tal die Beobachtung und die Erfahrung gemacht haben, dass junge Männer auf die Kriegsschauplätze zogen. Er wuchs damit auf, dass manche nie mehr nach Hause kamen. In seiner Familie wurde dieser für das Tal oft schlimme Aderlass wahrscheinlich besprochen. Seine Familie machte in diesem Geschäft mit eigenem Blut vorerst nicht mit. Aber die Landwirte unter seinen Brüdern liebäugelten immer wieder mit dieser Möglichkeit. Ulrich wuchs aber auch mit der sittlichen Verluderung in der Gesellschaft auf, er sah, wie die Mönche und Priester ganz selbstverständlich gegen alle sittlichen Regeln lebten, sich Mätressen hielten, in eheähnlichen Verhältnissen durch den Alltag gingen. Man kann natürlich sagen, dass dieser junge Mann von den gesellschaftlichen Zuständen geformt wurde. Und dieser Vorgang hielt an, radikalisierte sich, verfeinerte sich wiederum, aber blieb bei Zwingli eine Basis, die ihn nicht mehr losliess.
Es gibt von Ulrich Zwingli später eine Äusserung, dass seine Brüder nicht immer gefeit waren gegen die Verlockungen des fremden Solddienstes. Der Vater Zwingli wird in Wildhaus und im Thurtal den Kampf gegen den Solddienst geführt haben. Die Profiteure dieser Blutsverkäufe an die ausländischen Mächte argumentierten heuchlerisch mit dem europäischen Ruf nach den begehrten Schweizer Kämpfern durch die berühmten erfolgreichen Freiheitskriege des Bauernvolkes, übrigens auch jener des Toggenburgs gegen die Ansprüche des Abtes von St. Gallen. Aber diese Herleitung und Begründung eines miesen Geschäftes konnte man nicht gelten lassen. Der Solddienst war ja nicht allein moralisch verwerflich, er war auch wirtschaftlich schädlich, denn die jungen Männer verkauften sich an die fremden Herren und schlugen deren Schlachten, während sie zu Hause auf dem Arbeitsmarkt fehlten. Natürlich gab es auch Söldner, über deren Abwesenheit im Land viele froh waren. Denn nicht für alle gab es einen Platz und vor allem für viele keine Arbeit. Der Solddienst war also auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit.
Der kleine Junge Ueli wuchs in einer Gemeinschaft auf, in welcher die politische Aktivität fast naturgegeben war, in der Bischof, Kaiser, König weit weg waren, wo man keinem direkten Oberhaupt zu gehorchen hatte, in der es kaum ein Reichsbewusstsein gab, obwohl die eidgenössischen Orte nominell zum Heiligen Römischen Reich gehörten. Ueli hat als Jugendlicher aus der Entfernung den Schwabenkrieg erlebt. Aber vordergründig und bewusstseinsgestaltend war für ihn die Zugehörigkeit zur freien Eidgenossenschaft und zu einer freien Talschaft. Das war prägend für den jungen Zwingli, und das wurde tragend und bestimmend im republikanischen Politiker Zwingli. Politische Betätigung wurde quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Wer sich an den alltagspolitischen Prozessen nicht beteiligte, der wurde überfahren, die ehrenamtliche Verantwortung und Betätigung für das Gemeinwesen wurde früh geübt und führte ganz natürlich zu einem republikanischen Geist.
Der allererste Biograf, der Zeitgenosse und enge Mitarbeiter Zwinglis, der Humanist Myconius, der ihn überlebte, erwähnt übrigens den Einfluss der Bergwelt auf den späteren Reformator, ihre Schönheit und Gewalt und Kraft und «Erhabenheit». Dies habe ihn dem Himmel nähergebracht, vermutet Myconius idealisierend. Von Zwingli selbst gibt es nirgends eine Äusserung zur Bergnatur in seiner Jugend, wohl aber mehrere stolze Erwähnungen der Tatsache, dass er aus dem Bauernstand gewachsen ist. Noch ist im 16. Jahrhundert die freundlich-romantische Anschauung des Gebirges fremd, wohl wurde der Säntis weniger als Freund, schon gar nicht als zu eroberndes, zu besteigendes Massiv, sondern eher als Bedrohung und Gefahr erlebt. Die Äusserung von Myconius ist also erstaunlich erfinderisch.
Einige Male erwähnt Zwingli allerdings Naturkatastrophen, Verheerungen, meist als Metapher für politische Äusserungen und Verhaltensweisen in der Auseinandersetzung mit Gegnern. Er hat Wildwasserstürze erlebt, Berg- und Bachstürze, die auf den Alpweiden Verwüstungen anrichteten, Steine und Schutt mitführten und Weiden zerstörten. Oder er schilderte die gefürchtete Schneeblende oder Schneeblindheit, um die Verführung zu falschen Lehren symbolisch zu benennen und bildlich darzustellen. Der Junge hat grosses Getöse gehört, Steinklötze gesehen, wie sie mit den Bergrüfen mitgeschleppt wurden und Verwüstungen angerichtet haben, er hat mit angesehen, wie der sich stauende Strom die künstlichen Dämme durchbrach.
AUSBILDUNG
Schliesslich wurde der bald fünfjährige Knabe im Verlaufe des Jahres 1489 nach Weesen an den Walensee zum Onkel Bartholomäus Zwingli, einem Bruder des Vaters, gebracht. Ob es da tatsächlich eine Gemeindeschule gab oder ob der kleine Ulrich von seinem Onkel persönlich unterrichtet wurde, ist nicht bekannt. Ein Erlebnis wurde für den Jungen sicher der Walensee. Der Knabe wurde vor den Gefahren des Sees mehrmals ernsthaft gewarnt, offenbar ertranken immer wieder Kinder in dem nicht ganz zahmen See, was wir auch heute noch nachvollziehen können. Da wir so gar nichts wissen von Ulrichs Weesener Zeit, aber seinen weiteren Lebensweg kennen, darf man vermuten, dass es für den Jungen eine stille, sehr auf das Lernen konzentrierte Zeit gewesen sein muss.
Und 1494 wurde der zehnjährige Schüler nach Basel in die Rheinstadt gebracht, wo der mit der Familie Zwingli befreundete, noch sehr junge Gregor Bünzli, ein Sohn aus Weesen und mit Ulrichs Onkel gut bekannt, Lehrer war. Latein wurde gebüffelt, es wurde auf Teufel komm raus auswendig gelernt. Schüler durften oder mussten mit den Lehrern und untereinander ausschliesslich lateinisch reden. Hier wurde Ulrich in die lateinische klassische Literatur eingeführt, die ihm zeitlebens so wichtig und lieb war. In Basel lernte Ueli auch die Trivialfächer, also die Grundlagen des Triviums, die sogenannt unteren Fächer, nämlich Grammatik, Dialektik, Rhetorik.
Aber hier in Basel widmete sich der junge Zwingli ebenfalls intensiv und mit Leidenschaft dem musikalischen Handwerk. Basel war ein führender Platz in der humanistischen Harmonie- und Kompositionslehre. Die Dominikaner bemühten sich, den jungen Ulrich Zwingli ganz für die Musikpraktik im Kloster zu gewinnen. Sie unternahmen Anstrengungen, den musizierenden Scholaren zum Eintritt ins Kloster zu bewegen, wogegen Vater und Onkel Zwingli ihr Veto einlegten. Bei dieser Gelegenheit stellt sich die Frage, ob denn die Familie überhaupt klare Vorstellungen hatte, welchen Weg der Junge gehen sollte, ob sie einen Plan hatten, oder ob sie in erster Linie daran dachten, ihm die bestmögliche Ausbildung zu ermöglichen. Wohl wollten sie einen so hoffnungsvollen Filius nicht an ein Kloster verlieren, obgleich sie sicher nicht klosterfeindlich gesinnt waren. Die Ausübung der Musik jedenfalls, die in der humanistischen Bildung einen wichtigen Platz einnahm, hat denn von da an im ganzen Leben des Theologen und Reformators Zwingli immer eine zentrale und aktive Rolle gespielt. Da er der Musik mit theologischer Begründung in der Kirche, genauer im Gottesdienst, keinen Platz einräumte, hat das unzählige Zeitgenossen fast aller Zeiten dazu verleitet, aus Zwingli einen Musik-, ja einen Kunsthasser zu machen. Wir werden immer wieder einen Blick auf den Musiker Zwingli werfen dürfen oder müssen, denn er beherrschte mehrere Instrumente. Es gibt Biografen, die behaupten, Zwingli habe bis zu zehn Instrumente gespielt. Myconius, der Zwingli gut kannte, wohl auch mit ihm musiziert hatte, schrieb: «In der Musik zeichnete er sich weit über sein Alter aus, wie dies bei Kunstfertigen die Regel ist.» Und Johannes Stumpf, ein ebenfalls früher Biograf, hält fest, Zwingli sei auf allen Instrumenten unterrichtet gewesen: auf der Harfe, der Laute, der Geige, der Flöte, dem Waldhorn, dem Zink, den Pfeifen und dem Hackbrett. Jedenfalls war er fähig zu komponieren. Er wäre wohl sogar in der Lage gewesen, einen Kantorenposten zu übernehmen und auszufüllen; Kantoren mussten ja zu einem Teil auch Theologen sein.
BERN
Nun kam der inzwischen zwölfjährige Scholar nach Bern, und zwar dort zu dem bereits bekannten, wenn nicht sogar berühmten Humanisten Heinrich Wölfflin, mit lateinischem Namen Lupulus. Ziel war die Reife für die Universität. Man las die Poesie der alten Klassiker, eine Lieblingsbeschäftigung des jungen Zwingli. Und wiederum warfen auch hier die Dominikaner und der bekannte Komponist und Münsterkantor Bartholomäus Frank einen begehrlichen Blick auf den Schüler mit den musikalischen Fähigkeiten und der auffallend schönen Singstimme. Und wieder mussten Vater und Onkel eingreifen, um ihn vor dem Eintritt in das Novizenzentum des Ordens zu bewahren.
Interessant ist, dass der junge Zwingli in Bern wahrscheinlich mit dem späteren Maler, Künstler und Ratsherrn Niklaus Manuel Deutsch die Schulbank drückte. Die beiden werden sich später ganz sicher im Rahmen des reformatorischen Prozesses öfters begegnet sein, kamen sich aber nie wirklich nahe. Niklaus Manuel wurde zwar ein Anhänger der Zwinglischen Reformation, ein bedeutender Künstler, er schuf gewichtige Werke, besonders den Berner Totentanz, jenes Riesenwerk von 80 Meter Länge, oder 24 Tafeln, jenen gewaltigen Zyklus, der einen bedeutenden Platz in der Kunstgeschichte einnimmt.
Von Bedeutung ist ausserdem, dass der Künstler Niklaus Manuel Deutsch in Bern fünf Jahre Landvogt und zwei Jahre Ratsherr war. Er war ein Führer der reformatorischen Partei, vertrat eine eidgenössische Friedenspolitik, am Ende aber als eigentlicher Gegenspieler Zwinglis, vor allem, da er ein Befürworter der Pensionen war. Darüber hinaus wissen wir über die Berner Zeit des jungen Zwingli fast nichts.
WIEN
Nach nur zwei Jahren in Bern erlangte der junge Zwingli erstaunlicherweise bereits die Reife für die Universität. Noch im Herbst 1498 hat er sich an der Universität Wien immatrikuliert; die Einschreibung liegt vor, sein gewollter Eintritt ins Studium ist belegt. Er war noch nicht ganz 15-jährig, ein Rätsel im Rahmen unserer heutigen Bildungsvorstellungen. Sicher ist er zu Fuss nach Wien marschiert oder gewandert, mindestens zwei bis drei Wochen wird er unterwegs gewesen sein, vermutlich in Begleitung von anderen jungen zukünftigen Akademikern, denn die Wiener Universität wurde von mehreren Schweizern aufgesucht. Was heute ein unvorstellbarer Gewaltsmarsch wäre, galt in jener Zeit als nicht aussergewöhnlich.
In Wien gab es anscheinend an der Universität Probleme, denn Zwinglis Eintragung «Udalricus Zwingly de Glaris» ist durchgestrichen, daneben steht mit fremder Handschrift «exclusus». Dieser Umstand hat in der Geschichtsschreibung grossen Rumor ausgelöst und einige Autoren zu feindseligen Spekulationen verleitet. Es ist nie bekannt geworden, was vorgefallen war, was der Grund war für den Ausschluss, ob wirklich ein solcher stattgefunden hat. Es gibt die Vermutung, diese Eintragung sei ein paar Jahrzehnte später, wohl am ehesten in der Zeit der Gegenreformation, von einem Fanatiker neben den Namen des Ketzers gesetzt worden. Auch Zwingli hat sich später nie dazu geäussert, konnte wohl gar nicht, sollte diese Eintragung neueren Datums gewesen sein. Oder war ihm die Episode zu unbedeutend, war sie ihm vielleicht unangenehm? Es wird vermutet, der junge Schweizer sei in eine studentische Rauferei verwickelt gewesen, denn es ist zu bedenken, dass es die Zeit des Schwabenkriegs war.
Vielleicht sind deutsche und schweizerische Studenten aufeinandergeprallt. Vermutlich ist er zu Fuss ebenso selbstverständlich wieder zurückgewandert in die Schweiz. Aber auch darüber wissen wir nichts Genaues. Anderthalb Jahre später, im Sommersemester 1500, findet sich die zweite Immatrikulation, diesmal folgendermassen: «Udalricus Zwingling de Lichtensteig im Toggenburg». Der Grund für den Ausschluss im Herbst 1498 konnte also nicht allzu gravierend gewesen sein. Seltsamerweise kommt kaum ein Kommentator auf diese Konklusion zu sprechen. Und zudem fällt auf, wie Oskar Farner sagt, dass der Vermerk und die in solchem Falle übliche Notiz «reincorporatus» oder «reinclusus» für wieder Aufgenommene in den Hochschulverband fehlt. Farner stellt auch fest, dass kein einziger Zeitgenosse von dem Vorfall Kenntnis hatte. Zwingli war hochprominent, als «Ketzer» einer der bestgehassten Existenzen der Zeit, es wäre doch höchst verwunderlich, wenn seine Feinde, wäre denn hier ein ernstzunehmendes Fehlverhalten Zwinglis nachzuweisen, davon niemals Gebrauch gemacht hätten. Der Erste, der diese «Exclusus»-Geschichte entdeckt und in Umlauf gebracht hatte, war der Abt von Einsiedeln in der Zeit der Gegenreformation ein halbes Jahrhundert nach Zwinglis Tod. Von da an wurde sie unermüdlich nacherzählt, aber nie nachgeprüft.
Aber eine andere Frage bleibt: Wo war der junge Zwingli in den anderthalb Jahren dazwischen? In den Vermutungen taucht Paris auf, dann auch Tübingen. Belege für beide Annahmen gibt es keine. Wir wissen es also nicht. Und er hat nie dazu Stellung genommen. Ob er nun in Paris an der Universität der Scholastik oder in Tübingen seine Studien fortgesetzt hat, man braucht sich heute für keine der beiden Varianten zu entscheiden, von Bedeutung ist, dass er die Zeit genutzt hat, und das dürfen wir wohl annehmen. Zwingli war inzwischen ein Kenner der Lehren des Thomas von Aquin, und er war in jungen Jahren ein ausgezeichneter Aristoteliker, er wurde von seinen Freunden sogar «der Aristoteliker» genannt, was dafür sprechen könnte, dass er in Paris gewesen ist.
In Wien, an der Hochburg des damaligen europäischen Humanismus, betrieb er zwei Jahre lang seine Studien. Wie er dort gelebt hat, wissen wir aber nicht. Er wird in einer der Bursen oder einer Coderie gewohnt haben, einer Art Studentenpension in der Umgebung des Hochschulgebäudes, unter mehr oder weniger strenger Aufsicht der Universitätsbehörden, mit vorgeschriebener Kopfbedeckung, einem bestimmten Gürtel, nur so waren die Studierenden berechtigt, an den Privilegien teilzunehmen. Da es immer wieder zu Schlägereien und kleinen Strassenschlachten zwischen Gruppen und Nationalgrüppchen gekommen war, hat die Universität das Tragen von Waffen, Säbeln und Degen verboten. Der junge Zwingli war dort in Gesellschaft von einigen Studenten aus dem Toggenburg, aus Glarus, aus Chur, aus Schaffhausen und aus Zürich. 1501 kam der St. Galler Joachim von Watt, latinisiert Vadian, ein Mediziner und später vom Kaiser gekrönten Dichter, nach Wien, wo er es bis zum Rektor brachte.
Er wurde ein enger Mitarbeiter und Freund des Reformators Zwingli und setzte in St. Gallen als Stadtarzt und Bürgermeister die Reformation durch. Zwingli belegte in Wien Kurse in der Kunst des Briefeschreibens. Kein Wunder, dass er später zu einem grossen und reichhaltig bewegenden Briefschreiber wurde, der mit Gelehrten ganz Europas Briefwechsel führte. Die Studenten übten mit Professoren Komödien und Tragödien des klassischen Altertums ein, auch das eine Disziplin, die der Reformator in den 1520er-Jahren mit seinen Studenten und Schülern in der Zürcher Prophezei immer wieder mit Genuss durchspielte.
Es gab im Studentenleben Zwinglis ein starkes literarisches Erlebnis des ganz jungen Ulrich. Er unterstrich und glossierte Sätze von Pico della Mirandola (1463–1494), dem Florentiner Philosophen, wonach es dem Menschen oft missrate, wenn er nicht die nötige Wortgewandtheit aufbringe, um seine Absicht durchzubringen. Daneben schrieb der junge Scholar, dies sei ihm auch passiert, als er eine Nachricht nach Hause geschickt habe, die dem Vater seinen Lebenswandel, sein Studium hätte empfehlen sollen. Er habe seine Musik, die Instrumente mitsamt den Geselligkeiten aufgezählt. Der Vater aber habe nur geantwortet, ihm wäre ein Philosoph lieber als ein sogenannter Komödient. Es ist die einzige und zudem gewichtige Äusserung des Vaters über seinen Sohn.
Die Beschäftigung mit dem jugendlichen Philosophen Pico della Mirandola hat sich dann über Jahre hinweg weitergezogen. Zwingli nennt ihn einen Mann von grossem Scharfsinn, aus welchem, wenn Gott ihn hätte zur Reife kommen lassen, etwas Göttliches geworden wäre. Mirandolas Rede über die Würde des Menschen ist berühmt geworden, ausserdem schrieb er über die Willensfreiheit, die er ein charakteristisches Merkmal des Menschen nannte. Er formulierte 900 Thesen zu theologischen und philosophischen Fragen. Der Papst verurteilte diese Thesen, der Autor geriet in Rom unter Häresie-Verdacht. Doch er stand unter dem Schutz des Fürsten von Florenz, Lorenzo der Prächtige. Mirandola starb an einem Fieber, er war erst 31-jährig.
Zwingli hat sich intensiv mit dem jugendlichen Philosophen beschäftigt. Er las seine Schriften, kommentierte sie, strich wichtige Sätze an. Er war geradezu ein Bewunderer dieses Pico della Mirandola.