Kitabı oku: «Eisernes Verderben»
Inhalt
1 Cover
2 Titel
3 Gedicht
4 Prolog
5 1 August 2018
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32 Epilog
Franziska Franz
Eisernes Verderben
Ein Frankfurt-Krimi
Frankfurt Krimi
Franz, Franziska: Eisernes Verderben. Ein Frankfurt-Krimi. Hamburg, edition krimi 2020
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-946734-79-6
Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.
ePub-eBook: 978-3-946734-39-0
Lektorat: Birgit Rentz
Korrektorat: Lilly Pia Seidel
Satz: 3w+p GmbH, Rimpar
Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, edition krimi
Umschlagmotiv: www.pixabay.com
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
Die edition krimi ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,
Hermannstal 119k, 22119 Hamburg und Mitglied der Verlags-WG:
© edition krimi, Hamburg 2020
Alle Rechte vorbehalten.
https://www.edition-krimi.de Gedruckt in Deutschland
„Du hast mir mein Leben genommen,
und zum Schluss auch noch den Ironman.“
Prolog
Der Geruch nach Lehm war das Erste, was sie wahrnahm, als sie zu sich kam. Sie wollte schreien, doch irgendetwas, was ihr im Mund steckte, hinderte sie daran. Es schien ein Klebestreifen zu sein, der an ihren Wangen ziepte und sie schmerzvoll innehalten ließ, wenn sie ihren Mund bewegte. In seitlicher Position lag sie auf einem feuchten Untergrund, die Arme hinter ihrem Rücken. Eine starke Schnur – vielleicht auch eine Kordel – war um ihre Handgelenke geschlungen und ließ keine nennenswerte Bewegung zu. Wenn sie die Lage der Arme zu verändern versuchte, schnitt ihr eine weitere Schnur in den Hals. Nein, es musste dieselbe Schnur sein. Sie hatte nicht die geringste Chance, sich zu befreien, lag gefangen in einem finsteren, irdenen Grab. Um sie herum war es so dunkel, dass sie nicht einmal zu sagen vermochte, wie groß ihr Gefängnis war. Mein Gott, was hatte er ihr angetan? Lebendig begraben hatte er sie! Vielleicht befand sie sich auf einem Friedhof, möglicherweise dem Hauptfriedhof. Da waren sie ein paarmal spazieren gegangen, denn seine Mutter lag dort begraben. Wenn es sich tatsächlich um den Friedhof handelte und sie in einem frisch ausgehobenen Grab lag, würde sie sich bemerkbar machen, sobald ein Sarg in das Loch gesenkt werden würde. Aber nein, das konnte nicht sein. Die für ein Begräbnis vorbereiteten Löcher wurden nicht abgedeckt, sie blieben offen, bis es so weit war. Etwas Feuchtes kroch über ihre Finger. Sie schauderte. Vermutlich ein Regenwurm. Bald würden Maden oder Würmer sie anfressen, sich in ihre Haut, in ihre Körperöffnungen bohren. Falls dem so war, wollte sie lieber vorher sterben, denn wenn sie es sich recht überlegte, hatte er ihr Verschwinden derart geschickt eingefädelt, dass niemand sie jemals finden würde. Tränen rannen ihr über das Gesicht, als sie plötzlich direkt über sich ein lautes Poltern vernahm.
1
August 2018
Kommissar Lutz Weigand saß in seinem Büro im Frankfurter Polizeipräsidium an der Adickesallee und fuhr seinen Laptop hoch.
„Morsche, Chef!“ Sein junger Kollege, Bernd Hesse, kam herein. „Wäre beinahe zu spät gekommen. Ist wieder mal ein riesiger Stau auf der Miquelallee stadteinwärts.“
Weigand, der gerade eine Tüte Gummibärchen aufgerissen hatte und sich eine Handvoll in den Mund stopfte, kaute genüsslich und sagte mit vollem Mund: „Nichtsch Neuesch, oder?“
Hesse schüttelte den Kopf und setzte sich ihm gegenüber auf seinen Bürostuhl. „Dass du nicht platzt! Die Dinger machen doch unglaublich fett – zumindest bei den Mengen, die du wegatmest.“
Weigand verdrehte die Augen und lehnte sich zurück, während er seinen Bauch streichelte. „Kann man es dir eigentlich jemals recht machen? Letztes Jahr hast du über meinen Zigarettenkonsum geschimpft, beim nächsten Mal haben dich meine Kaugummis gestört, und nun bist du schon wieder am Meckern. Du bist typisch deutsch, das will ich dir mal sagen. Das ist ja kaum auszuhalten!“
„Typisch deutsch, das mag sein.“ Hesse nickte. „Uns deutschen Polizisten eilt aber auch der Ruf voraus, besonders gründlich zu sein, stimmt’s? Hab mich darüber erst kürzlich mit einem Kollegen vom BKA unterhalten.“
„Hast ja recht, ist ja schon gut.“ Weigand griff ein weiteres Mal in die Tüte und schob sie Hesse rüber. „Bedien dich, die beruhigen dein aufbrausendes Gemüt.“
Hesse schmunzelte. „Scherzkeks.“
Weigand sortierte die grünen Gummibärchen aus und legte sie in Reih und Glied auf seinen Schreibtisch. „Gaby ist mitten in der Pubertät. Im letzten Jahr haben sie in der Schule das Thema Lungenkrebs durchgenommen. In dem Alter neigen die jungen Leute zum Missionieren.“ Er nahm das vorderste und das hinterste Gummibärchen aus der Reihe in die Hand und schob sich beide in den Mund. „Dann begann sie, mir Schokoladenzigaretten zu schenken, weißt du noch?“
Hesse sah von seinem Bildschirm auf. „Ich weiß vor allem noch, wie dir vom Kaugummikauen die Zähne ausgefallen sind. War das ein Drama! Ich dachte schon, ich müsste den Fall allein lösen.“
„Nun übertreib mal nicht so unsäglich“, knurrte Weigand.
Hesse zeigte auf die Gummibärchen. „Davon kriegst du jedenfalls Zucker. Hatte Gaby das noch nicht in der Schule?“ Er hielt kurz inne. „Nein, ich glaube, ich will keine Kinder. Hab schließlich genug mit Julia zu tun, die mich ständig zum Sport prügelt.“
„Du hast ja auch noch alle Zeit der Welt. In ein paar Jahren sieht das alles ganz anders aus. Dann denkst du plötzlich, du müsstest all deine guten Gene reproduzieren.“
„Und was hab ich davon – ein altkluges Kind, das nur mit der Mutter kooperiert, zumindest wenn es ein Mädchen wird?“
„Ach, Bullshit, lass das bloß nicht Bettina hören. Gaby gibt mir schließlich die Gummibärchen, damit sie sie nicht essen muss. Sie hat, nebenbei bemerkt, ganz schön abgenommen. Erwiesenermaßen hängen die Mädchen besonders an den Vätern, deswegen ist Gaby ja so besorgt um mich.“
Hesse lachte.
Weigand zeigte auf seine Jeans. „Die ist übrigens neu, der Bund spannt kein bisschen. Zum Reinwachsen sozusagen. Hat mir Bettina gekauft, sie ist ein echter Schatz.“
Hesse kicherte. „Langsam, aber sicher entwickelst du dich zu einem knuffigen Teddybären, eigentlich recht niedlich.“
„Noch ein Wort und ich kaufe mir eine Packung Zigaretten!“
„Um Himmels willen, nein! Ich schenk’ dir zum Geburtstag ’ne ganze Tonne von dem Zeug. Der Gummibärchenladen an der Hauptwache bietet eine unendliche Vielfalt an.“
Lutz Weigand war bereits seit mehr als zwanzig Jahren für die Kripo Frankfurt tätig und mittlerweile Kriminalkommissar. Sein Äußeres jedoch erinnerte eher an einen Mathematiklehrer, denn mit seiner Nickelbrille, den widerspenstigen dunklen Haaren und dem rundlichen Gesicht wirkte er vergeistigt. Dass dieser Mann eine HK P30 bedienen konnte, mochte man auf den ersten Blick kaum glauben. Seine Frau Bettina war seine große Liebe und die mittlerweile fünfzehnjährige Gaby sein ganzer Stolz. Wenngleich sie als pubertierender Teenager auch recht anstrengend sein konnte, gab sie ihm in ihrer unbekümmerten Art so manches Mal einen hilfreichen Tipp, besonders beim Skatspielen, das sie hervorragend beherrschte. In jeder Hinsicht entwickelte sie manch sinnvolle Strategie.
Seit nunmehr drei Jahren arbeitete der zweiundfünfzigjährige Weigand im Team mit dem zwanzig Jahre jüngeren Bernd Hesse, der, davon war Weigand überzeugt, eine steile Karriere machen würde. Hesse war einen Kopf größer als Weigand, athletisch gebaut und wirkte mit seinen dunkelblonden Haaren und den wachen Augen zwar freundlich, doch konnte man ihm so leicht nichts vormachen. Er war dauerverlobt, aber mit seinem Beruf verheiratet, wie Weigand zu sagen pflegte. Jedenfalls hatten sie beide vor ein paar Monaten einen höchst komplizierten Fall gelöst.
Weigand starrte angestrengt auf den Computer, während er die restlichen grünen Gummibärchen in den Mund steckte.
„Was ist?“, wollte Hesse wissen.
„Ich glaube, wir haben es mit einem alten Freund zu tun.“
2
Mein Name ist Harald Falkenberg – Doktor Harald Falkenberg. Ich war Psychologe und Inhaber einer gut gehenden psychologischen Praxis in der schönen Cronstettenstraße im Frankfurter Holzhausenviertel. In ebendiesem Haus lebte ich in einer ansehnlichen Dreizimmerwohnung.
Mein Vater brachte kein Verständnis für meine Berufswahl auf. Nur zu gern hätte er seine angesehene Anwaltskanzlei an mich übertragen, bevor er vor über fünfzehn Jahren mit meiner Mutter nach Mallorca umgesiedelt war. Die beiden fristeten dort ihr feudales Leben auf noblen Golfplätzen. Mir jedoch war Geld nie wichtig genug gewesen, als dass ich daraufhin meine Berufswahl getroffen hätte. Stattdessen war mir der Umgang mit Menschen wichtig und ich blickte gern hinter deren Fassade. Ich konnte mich in das Seelenleben anderer einfühlen, zumindest versuchte ich es immer wieder aufs Neue.
Eine Patientin fragte mich einmal, ob ich amerikanische Verwandtschaft hätte. Angeblich sähe ich George Clooney ähnlich. Tatsächlich passierte es schon ein paarmal, dass ich um ein Autogramm gebeten wurde, und zwar am Frankfurter Flughafen, wo man einen Weltstar wohl auch eher vermutete als in der City.
Meine Tätigkeit – oder besser gesagt: die Arbeit des Psychologen – war in meinen Augen signifikant wichtig. Sie nahm meiner Meinung nach sogar einen immer höheren Stellenwert ein, da in dieser schnelllebigen, hoch spezialisierten, noch dazu digitalisierten Welt der Leistungsdruck immens zunahm. Nicht wenige Menschen blieben dabei auf der Strecke und entwickelten daraus resultierend Ängste oder Phobien und schließlich auch Süchte. Hatte es sich früher um Alkohol-, Drogen-, Tablettensucht oder um Essstörungen gehandelt, kamen heutzutage Online-Sucht, Handy-Abhängigkeit oder gar Sportsucht hinzu, um nur einige wenige zu nennen.
Das bedeutete natürlich nicht, dass man auf Sport verzichten sollte – ganz im Gegenteil. Meinen Patienten riet ich neben der Therapie, wenn möglich, zu regelmäßiger Bewegung, denn sie relativierte nicht selten psychische Leiden und sorgte für einen ausgeglichenen Gemütszustand. Das galt natürlich nicht nur für psychisch kranke Menschen; es tat jedem Organismus gut. Auch für mich war Bewegung immens wichtig. So war ich mittlerweile ein stringenter Sportler, der nur selten Auto fuhr. Deshalb parkte mein Smart schon seit Wochen an derselben Stelle unweit meines Hauses. Ich fuhr Rennrad und lief jedes Jahr mindestens einen Marathon. Wie bereits mehrmals zuvor wollte ich auch in diesem Jahr am Mainova Marathon teilnehmen. Und ich hatte mich vorsorglich für den Ironman 2020 angemeldet. Dieser sollte im Juni stattfinden. Bislang hatte ich noch nicht viel zu dem Thema recherchiert, weshalb ich mir sicher war, dass ich über die Anmeldung hinaus wohl kaum tätig werden würde.
Ich tat wirklich alles, um Menschen vor psychischen Erkrankungen zu bewahren oder diese zu heilen. Alles, was wir vollbrachten, egal, worum es sich handelte, sollten wir ernst nehmen, denn kein Mensch wurde geboren, um seine Lebenszeit ziel- und nutzlos totzuschlagen. Jeder Mensch hatte seine Aufgabe zu erfüllen, und das war gewiss nicht nur meine Devise. Täten es alle gewissenhaft, indem sie ihrem Instinkt und ihrem Verstand folgten, ließe sich einiges bewegen in dieser unsicheren, von Kriegen und Zerstörung erschütterten Welt.
Leider gab es auch psychische Leiden, die man nur lindern, jedoch nicht vollständig heilen konnte. Sie entstanden oft durch Traumata, die meist frühkindlicher Natur waren. Menschen, die erschreckende Erlebnisse durchgemacht hatten, wurden häufig zu Borderlinern, um nur ein Beispiel zu nennen, oder sie entwickelten im Laufe ihres Lebens Aggressionen, die sie nicht bewältigen konnten und die nicht zuletzt in kriminellen Handlungen mündeten.
Dies zu verhindern oder zumindest zu erkennen, war Teil meiner Arbeit, die mich oft selbst so sehr beanspruchte, dass Sport für mich zum Katalysator wurde.
3
Es war einer dieser herrlichen Sommerabende. Nach der unerträglichen Hitze des Tages waren die Abende angenehm kühl. Nachdem die letzte Patientin gegangen war, hatte ich eine Rennradstrecke über Sachsenhausen bis nach Neu Isenburg zurückgelegt, war anschließend in meine Wohnung zurückgekehrt, um mich frisch zu machen und mich umzuziehen, und hatte beschlossen, den schönen Abend irgendwo ausklingen zu lassen.
Da saß ich nun im bekannten Café Größenwahn bei einem Glas Wein und gutem Essen. Ich hatte einen der beliebten Plätze draußen auf der Straße ergattert und genoss es, das Treiben um mich herum zu beobachten. Die bewundernden Blicke zweier Damen am Nebentisch registrierte ich zwar, sie interessierten mich aber nicht, hatte ich mir doch mein Leben recht gut ohne Partnerin eingerichtet.
Ich war dem Café Größenwahn schon seit etlichen Jahren treu, man kannte und schätzte mich hier. Das Café war bekannt für Toleranz und ein illustres Publikum. So fühlten sich hier seinerzeit die ersten schwulen und lesbischen Paare anerkannt und wohl. Auch Künstler und Literaten schätzten das liberale Café, in dem man, wenn man es wollte, fast immer auf jemanden traf, mit dem man sich intellektuell und vielseitig austauschen konnte.
Mit meinem Rad brauchte ich keine zehn Minuten von der Cronstettenstraße bis hierher. Das machte das Lokal für mich zur perfekten Location: erst Sport, dann ein Abendessen zur Belohnung.
„Darf ich Ihnen noch einen Wein bringen, Herr Falkenberg?“, fragte mich die Bedienung gerade in dem Moment, als ein Mann etwa in meinem Alter an mir vorüberging, mir neugierig ins Gesicht sah, weiterging, um schließlich stehen zu bleiben und sich erneut nach mir umzudrehen. Wieder jemand, der mich mit dem Schauspieler verwechselte?
Der Mann sah mich verdutzt an, kam ein paar Schritte auf meinen Tisch zu und sprach mich schließlich an. „Kennen wir uns nicht? Ich meine, Sie kommen mir so bekannt vor, und als ich eben Ihren Namen hörte …“
Neugierig blickte ich zu ihm auf. „Ich kann mich nicht erinnern, aber vielleicht helfen Sie mir ja auf die Sprünge.“ Der Typ wirkte sportlich, hatte dichtes, rötlich-blondes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar und trug einen Dreitagebart. Das erhitzte Gesicht, die Trainingshose und die Sportschuhe wiesen darauf hin, dass er gerade eine Joggingrunde beendet hatte. Auch er kam mir irgendwie bekannt vor.
„Diese Stimme …“ Er lächelte mich an. „Habe ich richtig verstanden – Falkenberg? Wenn du mir nun noch sagst, dass dein Vorname Harald ist, dann falle ich auf der Stelle um.“ Sein Lächeln wurde breiter.
Jetzt war ich es, der verdutzt reagierte. Woher kannte er mich?
„Siehst verdammt gut aus, jetzt, wo deine Haare langsam grau werden, Harald. Ist doch so, ich habe mich nicht getäuscht, oder?“
„Ich bin wahrscheinlich nicht mehr der Jüngste, aber ich brauche noch einen Moment, um mich zu erinnern.“
„Also habe ich tatsächlich recht?“
Jetzt klopfte mir der Typ auf die Schulter. „Mensch, Harald, ich kann es kaum fassen, aber habe ich mich denn tatsächlich so verändert? Ich bin’s, Jan – Jan Hohmeister.“
Ich fiel aus allen Wolken. „Moment mal – Jan? Etwa der Jan, mit dem ich studiert habe?“ Ich hatte ihn tatsächlich nicht mehr erkannt.
Hohmeister schickte sich an, Platz zu nehmen. „Na ja, Hohmeister heißen schließlich nicht allzu viele Jans. Darf ich mich setzen?“ Er nahm Platz, bevor ich reagieren konnte.
„Bitte sehr.“
Hohmeister hatte mit mir zusammen Psychologie studiert und war einmal so etwas wie ein Freund gewesen. Allerdings hatte diese Freundschaft ein unglückliches Ende genommen. Ich kannte seine Lebensgeschichte und hatte sie bis heute nicht vergessen. Er hatte eine lieblose Kindheit gehabt, mit einer Mutter, die sich immer ein Mädchen gewünscht hatte und mit ihm nichts anfangen konnte. Als kleiner Junge musste er lange Haare tragen und in seinen ersten Lebensjahren steckte ihn seine Mutter in Mädchenkleider. Sein Vater wirkte dem entgegen, indem er ihn besonders hart anpackte. So wurde Hohmeister jahrelang gedemütigt und gezüchtigt. Liebe erfuhr er nie, und darunter litt er sehr. Als er älter wurde, verließ sein Vater die Familie und Hohmeister blieb mit seiner lieblosen Mutter allein zurück. Von Anfang an stand ich seiner Berufswahl skeptisch gegenüber, denn ich befürchtete, er wollte einige seiner Defizite im Berufsalltag aufarbeiten – so etwas kam manchmal sogar bei uns Psychologen vor. Hohmeister hatte damals eine Freundin gehabt, Lena. Einige Male wandte sie sich an mich, da sie Hohmeister oft nicht einzuschätzen vermochte. So nett er sein konnte, so jähzornig war er bisweilen. Außerdem engte er sie ein, war krankhaft eifersüchtig und ertrug es nicht einmal, wenn Männer sie freundlich ansahen – das behauptete sie zumindest. Ihre Verzweiflung darüber führte dazu, dass sie sich von ihm trennen wollte. Wie es geschah, vermochte ich heute nicht mehr zu sagen, jedenfalls verliebten wir uns irgendwann ineinander, und schließlich verließ sie ihn für mich. Sie war die erste Frau in meinem Leben, die mir etwas bedeutete, so, wie sie vorher Hohmeister etwas bedeutet hatte. Doch eines Tages verschwand sie spurlos. Hohmeister verdächtigte mich, ihr etwas angetan zu haben. Lange Zeit ermittelte die Polizei gegen mich, denn Lena und ich hatten ja bereits zusammengelebt. Eines Abends war sie nach einer Joggingrunde einfach nicht mehr nach Hause gekommen. Jedoch fand man nicht die geringste Spur, die auf ihren Verbleib hätte hinweisen können, leider bis heute nicht. Auch ich hatte damals alles Menschenmögliche versucht, um sie zu finden – vergebens.
Die Freundschaft mit Hohmeister jedenfalls ging daraufhin in die Brüche und wir brachen jeglichen Kontakt ab.
Seit der Zeit war ich keine Beziehung mehr eingegangen, zu tief saß der Schmerz. Noch heute plagten mich Albträume. Der Gedanke daran, dass Lena noch lebte, womöglich in Gefangenschaft, brachte mich fast um den Verstand.
Dass Hohmeister sich hier nun so vertraut zu mir setzte, löste gemischte Gefühle in mir aus und ließ alte Wunden aufbrechen. Er hatte mir damals übel mitgespielt.
„Da sagt man nun, Frankfurt sei ein Dorf, in dem man sich irgendwann unweigerlich begegnet, und trotzdem bist du mir in all den Jahren nicht über den Weg gelaufen. Oder hast du dich vor mir versteckt?“ Hohmeister lachte laut.
Mir fiel ein leichtes Nervenzucken über seinem rechten Auge auf. Er versuchte locker zu wirken, doch hinter der Fassade schien er angespannt zu sein, das spürte ich als Psychologe deutlich.
„Hast du eine Zeit lang in einer anderen Stadt gewohnt?“, fragte er.
„Nein, nein, ich habe hier sogar meine Praxis“, antwortete ich. „Im Holzhausenviertel.“
„Mensch, ich hätte ja auch mal ins Telefonbuch gucken können, schließlich habe ich oft an dich gedacht. Na ja, weißt du, bei mir ist inzwischen so viel passiert. Übrigens – ich wohne gleich hier nebenan, in der Lenaustraße.“ Er deutete auf das Nachbarhaus.
„Aha“, kommentierte ich das Gesagte und fuhr fort: „Was macht eigentlich deine Mutter?“
„Sie ist vor drei Jahren schwer erkrankt und leider verstorben.“
„Das tut mir leid.“
„Ach was, wir hatten auch in späteren Jahren kein besseres Verhältnis. Hinterlassen hat sie mir auch nichts, bloß ihren Schrebergarten.“ Er lachte. „Hab ihn immer noch. Der verwildert total, aber ich habe keine Zeit, mich darum zu kümmern. Bringe nur hin und wieder etwas Gerümpel in die Laube. Dafür ist es gut genug.“
„Ich kann mich noch gut daran erinnern“, sagte ich. „Der Garten ist am Rebstock, oder? Haben wir da nicht ein paarmal heimlich gekifft?“
Hohmeister lachte erneut und nickte. „Genau. Damals hat uns das Ehepaar von gegenüber verpfiffen. Hat das einen Ärger gegeben! Schon weil wir uns abends da rumtrieben. Da sind die Spießer ja fast ausgerastet.“
„Ja, ich erinnere mich“, antwortete ich, ohne in sein Lachen einzustimmen.
„Ich habe übrigens inzwischen geheiratet. Außerdem habe ich meinen Beruf nie wieder aufgenommen.“ Er sah mich an. „Du warst sowieso immer der Bessere von uns beiden. Am besten wäre es gewesen, ich hätte nie Psychologie studiert und dann, nach alldem … Ach, was soll’s, Schwamm drüber, alles Schnee von gestern.“
„Ja, das war eine schlimme Zeit damals“, pflichtete ich ihm bei.
„Ganz genau habe ich zwar bis heute nicht verstanden, was sich damals bei euch abgespielt hat, aber wie gesagt, Harald, lassen wir es gut sein. Es war ja nur die Erklärung für meinen Berufswechsel. Ich hätte dich doch nicht angesprochen, wenn ich dir noch immer böse wäre. Abgesehen davon kannst du nichts dafür, dass Lena verschollen ist, wie du immer behauptet hast. Vielleicht lebt sie ja irgendwo ein zufriedenes und glückliches Leben. Nein, statt weiter darüber zu grübeln, habe ich mich dem Sport verschrieben, verstehst du? Das ist unkomplizierter und stimmt mich zufrieden. Erinnerst du dich noch an unsere gemeinsamen Marathonläufe?“
Natürlich tat ich das. Wir waren beide sehr ehrgeizig gewesen und hatten uns gegenseitig angespornt. „Wie könnte ich die vergessen haben“, antwortete ich. „Und wie verdienst du nun deine Kohle?“
„Verena und ich haben keine großen Ansprüche, verstehst du? Wir arbeiten beide in einem Fitnessstudio in Bockenheim.“
Ich war verblüfft. „Ist ja nicht dein Ernst! Dann hättest du wohl besser Sportwissenschaften studieren sollen.“
„Ach was, doch nicht als Trainer. Und außerdem heißt das ja nicht, dass ich das ewig machen werde. Im Moment macht es mir Spaß und ich hab eine ganze Menge Freizeit, da kann ich gut für mich selbst trainieren. Ich will im nächsten Jahr beim Ironman dabei sein, verstehst du?“
Erstaunt antwortete ich: „Das gibt’s ja nicht! Ich habe mich ebenfalls dazu angemeldet, wenngleich ich mir deswegen noch völlig unschlüssig bin. Aber wegbleiben kann man schließlich immer.“
„Mensch, das ist ja irre, Harald!“ Hohmeister winkte die Bedienung heran und bestellte ein Pils.
Allmählich wurde das Gespräch interessant. Der Ironman fand seit 2002 jedes Jahr hier in Frankfurt statt. Ein Triathlon wäre allerdings eine echte Herausforderung für mich, denn Schwimmen lag mir nicht besonders.
„Du kennst den Langener Waldsee?“, fragte Hohmeister, als könnte er Gedanken lesen.
„Natürlich weiß ich, wo der ist, ich bin aber noch nie dort gewesen, obwohl der See und seine Umgebung sehr schön sein sollen. Aber ich weiß natürlich, dass dort der Ironman startet.“
„Ja, genau. Du schwimmst drei Komma acht Kilometer mit einem kurzen Landgang, also zwei Runden. Erst natürlich die Superstars, und dann, wenn die alle weg sind, der Rest der Teilnehmer.“
„Klar, so circa drei- bis viertausend Teilnehmer sind es allemal, ich weiß“, erwiderte ich.
„Ich sage dir, das ist eine ganz eigene Atmosphäre. Ich war letztes Jahr als Helfer dabei. Hat mich schwer beeindruckt, und ich möchte einmal im Leben diesen Nervenkitzel selber spüren.“
„Gibt’s da vorweg auch die legendäre Pasta-Party?“, warf ich ein.
„Du meinst wegen der Kohlenhydrate?“ Hohmeister nickte. „Klar! Die findet am Abend zuvor in der Eissporthalle statt.“ Er sah auf die Uhr. „Hör mal, was hältst du davon, uns einmal zu besuchen? Oder wir treffen uns einfach irgendwo, dann kann ich dir mehr vom Ironman erzählen und du lernst meine Frau kennen. Sie wird dir gefallen.“ Er zwinkerte mit den Augen. „Sie gefällt einfach jedem. Und ich weiß ja nun, dass ich dir vertrauen kann, nicht wahr?“ Jetzt grinste er. „Das kann ich doch, oder?“ Hohmeister nahm den letzten Schluck von seinem Pils, zückte sein Portemonnaie und winkte erneut nach der Bedienung. „So, ich muss nur jetzt erst mal nach Hause, Verena hat gekocht, verstehst du? Bist du eigentlich verheiratet?“
Ich lachte. „Nein, ich fürchte, ich bin überzeugter Single. Zu viele komplizierte Menschen auf der Welt, das brauch ich nicht auch noch zu Hause. Ich sorge lieber für das Seelenheil all jener Menschen, die ich nicht persönlich kenne.“
„Ja klar“, pflichtete Hohmeister mir bei. „Hast ja recht, wie immer.“ Er kramte in seiner Brusttasche und zog eine Visitenkarte daraus hervor. „Hier hast du meine Festnetz- und auch meine Handynummer.“
Ich nahm die Karte entgegen. „Danke, ich werde mich bei Gelegenheit melden.“
Hohmeister erhob sich von seinem Stuhl und reichte mir die Hand. „Würde mich wirklich sehr freuen – habe meiner Frau schon mehrfach von dir erzählt.“
„Ach, und dann will sie mich trotzdem noch kennenlernen?“ Ich ignorierte seine Hand und ließ stattdessen einen kurzen Lacher ertönen.
„Ich habe mehr von unseren sportlichen Events gesprochen. Natürlich weiß sie auch das andere. Aber was soll’s, Lena hatte sich nun mal für dich entschieden.“ Er beugte sich in einer vertraulichen Geste zu mir herunter. „Und es verschwinden schließlich mehr als genug Menschen auf dieser Welt, kann ja mal passieren.“
„Was soll das, Jan?“, fuhr ich ihn an. „Fängt die alte Scheiße etwa wieder von vorne an? Ich werde dir nie etwas anderes dazu sagen können als das, was du längst weißt. Lassen wir es doch endlich auf sich beruhen. Wir müssen unsere Freundschaft auch nicht wieder aufleben lassen.“
Ich vernahm ein kurzes Funkeln in Hohmeisters Augen, doch dann klärte sich sein Blick und er hob entschuldigend den Arm. „Ich weiß doch, Harald, ist ja schon gut. Wie dumm von mir. Komm, lassen wir die alten Geister ruhen! Ich würde mich freuen, wenn wir Frieden schließen könnten.“
„Das ist ein Wort.“ Ich nickte. „Mir geht es ebenso.“ Wir reichten einander die Hand. „Bis dann, alter Freund“, sagte ich zum Abschied.
Ich blickte ihm nach, bis er im Eingang seines Hauses verschwunden war.
Dann dachte ich an Lena. Die Wunde, die lange Zeit tief in mir verborgen gewesen war, brach wieder auf. Was mochte aus ihr geworden sein? War sie gestorben oder war sie gar einem Verbrechen zum Opfer gefallen? Hatte sie leiden müssen oder lebte sie irgendwo ein glückliches Leben? Was hätte ich darum gegeben, eine Antwort auf diese Fragen zu erhalten. Damals hatte Hohmeister versucht, meinen Ruf zu schädigen. In unserem gemeinsamen Umfeld stellte er mich als erbärmlichen Psychologen dar, der nur darauf aus war, Frauen kennenzulernen, vornehmlich die anderer Männer. Nachdem Lena und ich zusammengezogen waren, behauptete sie mehrfach, sich von ihm verfolgt zu fühlen. Ich fand nie heraus, ob sie paranoid oder ob er so schlau gewesen war, es mich nicht merken zu lassen. Natürlich machte ich mir heute noch die schlimmsten Vorwürfe, sie nicht ernst genommen zu haben, denn kein Mensch verschwand spurlos. Auch die Polizei, die ich am nächsten Tag einschaltete, konnte mir nicht weiterhelfen. Hohmeister hingegen äußerte der Polizei gegenüber den Verdacht, ich hätte etwas mit Lenas Verschwinden zu tun. Keine Ahnung, wie oft mich daraufhin die Polizei vernahm, zumal ich kein Alibi hatte. Ich hatte nämlich im Bett gelegen und geschlafen, als sie verschwand.
Wahrscheinlich wäre es für alle Beteiligten das Beste gewesen, wenn wir die Sache auf sich hätten beruhen lassen. Doch inzwischen interessierte mich die Antwort auf die Frage: Wollte Hohmeister unsere vermeintliche Freundschaft tatsächlich wieder aufleben lassen oder führte er etwas im Schilde? Ich musste zugeben, mein Interesse war geweckt, denn schließlich interessierte ich mich schon aus beruflichen Gründen dafür, was im Inneren eines Menschen vor sich ging. Hinzu kam mein reges Interesse am Ironman. Dass ich Hohmeisters Frau kennenlernen sollte, konnte ich mir nur damit erklären, dass er damit den Beweis antreten wollte, sich in einer stabilen Beziehung zu befinden, die nichts und niemand zerstören konnte. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Wieder kam mir der Ironman in den Sinn. Ich wusste, dass es keine besonderen Auflagen gab, wie viel oder ob man überhaupt vorher trainiert haben musste, wobei Letzteres natürlich völliger Unfug und noch dazu nicht ungefährlich war. Ich erinnerte mich dunkel daran, dass vor Jahren hier in Frankfurt ein Teilnehmer gestorben war, der während des Wettkampfes nur Leitungswasser zu sich genommen, seinem Körper also keine Elektrolyte zugeführt hatte. Dabei standen überall Helfer herum, die die Teilnehmer beispielsweise mit Bananen oder Getränken versorgten. Hohmeister hatte von der besonderen Atmosphäre gesprochen. Das war es, was mich am meisten an der Sache reizte. Der Kick, dabei zu sein und den eigenen Körper herauszufordern, gar seine Grenzen auszuloten – all das stellte ich mir großartig vor.
Ich bestellte mir noch ein letztes Glas Wein, schweifte in Gedanken immer wieder in die Vergangenheit und warf gelegentlich einen Blick auf die Fassade des Hauses, in dessen Eingang Hohmeister verschwunden war. Im ersten Stock war soeben ein Fenster geöffnet worden, und jemand, möglicherweise eine Frau, blickte in meine Richtung. Die Person hatte, wie es schien, kurze Haare. Aus dieser Entfernung ließ es sich nicht so recht sagen, ob es sich tatsächlich um eine Frau oder doch eher um einen Mann handelte. Und natürlich konnte ich nicht wissen, in welchem Stockwerk Hohmeister und seine Frau wohnten.