Kitabı oku: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 463»

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Impressum

© 1976/2018 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-871-3

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Fred McMason

Die Geister des Old O’Flynn

Die Rumflasche hatte die Schuld – und jetzt saßen sie in der Patsche

Die wie ein Haken gekrümmte Cherokee-Bucht an der Ostküste von Great Abaco war ein feines, geschütztes Plätzchen für den neuen Stützpunkt des Bundes der Korsaren. Außerdem hatte Old O’Flynn – allerdings unfreiwillig – eine Tropfsteinhöhle entdeckt, die sich vorzüglich als Beuteversteck eignete. Aber weitere Überraschungen standen dem alten Haudegen und seiner Crew bevor, als sie mit der „Empress of Sea“ das Gebiet südwestlich von Great Abaco erkundeten und eine Durchfahrt zwischen Nord- und Mittel-Andros suchten. Da lief die „Empress of Sea“ nämlich auf eine Sandbank, was den Alten aber keineswegs erschütterte, denn nach seiner Logik hätte das Schiffchen auch auf ein Korallenriff brummen können. Aber der Sand, meinte er, sei ein sanftes Ruhekissen …

Die Hauptpersonen des Romans:

Coanabo – ein Arawak-Häuptling mit berechtigtem Zorn auf die Spanier.

Old O’Flynn – spinnt auf „den Heiligen Geist der Insel“.

Der Kutscher – wird geradezu tobsüchtig, weil man sich an seinem Arztbesteck vergreift.

Edwin Carberry – hat schwere Bedenken, daß er in einem Suppenkessel gegart werden soll.

Hasard junior – bleibt sachlich und hat eine Idee.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1.

27. April 1595 – Bahama-Insel Nord-Andros.

Verbiestert und verärgert waren die sechs Männer und die beiden Killigrew-Söhne Hasard und Philip.

Am meisten ärgerten sie sich über Old O’Flynn, den Geisterseher, der das alles durch seine Dösigkeit verbockt hatte. Man konnte auch sagen, der Rum war schuld – oder die angeblichen Geister, doch im Grund war es das gleiche und änderte nichts an den Tatsachen.

Sie hockten gefangen in einer stabilen Pfahlbauhütte der Arawaks an einem Creek der Insel Nord-Andros.

Es war jetzt zwei Stunden nach Mitternacht, doch an Schlaf dachte keiner der Männer, denn die Ereignisse hatten sich buchstäblich überschlagen.

Sie waren dem Arawak-Häuptling Coanabo und seinen Kriegern in die Hände gefallen, nachdem sie mit der „Empress“ aufgebrummt waren und festsaßen. Die Indianer hatten sie vor Mitternacht im Handstreich überwältigt, in Kanus verfrachtet und zu der versteckt gelegenen kleinen Pfahlbausiedlung gebracht. Coanabo hielt sie für Spanier – für seine Todfeinde. Daher sah es für die sechs Männer und die Zwillinge nicht besonders rosig aus.

Auch die Wolfshündin Plymmie war dabei. Nur Sir John hatte sich schimpfend und krakeelend verzogen. Unsichtbar hockte er jetzt nach Mitternacht irgendwo auf einem Baum in der Nähe.

„Alles deine Schuld, Donegal“, knurrte der Profos Edwin Carberry gereizt. „Wenn du nicht gepennt hättest, als du die erste Wache gingst, dann hättest du die Indianer rechtzeitig gesehen, und wir hätten ihnen was an die Ohren gegeben. Dann säßen wir jetzt nicht hier in dieser dämlichen Misthütte.“

Old O’Flynns Stimmung war auch nicht viel besser, aber er konnte und wollte nicht zugeben, daß er am Abend ein bißchen zuviel an der Buddel genuckelt hatte und deshalb eingedöst war. Außerdem war das Essen sehr reichhaltig und gut gewesen. Zudem war er auch noch werdender Vater!

Bißchen viel auf einmal. Schließlich und endlich war er ja auch nicht mehr der Jüngste.

„Es war nicht meine Schuld“, beharrte er stur und dickköpfig.

„Klar! Du hast einwandfrei auf Wache gepennt, du Schnarchsack. Wenn du den Rum nicht mehr verträgst, dann sauf besser Wasser.“

„Es war nicht der Rum“, knurrte Old O’Flynn erbost. „Verflucht noch mal, wie oft soll ich das denn noch sagen! Das habe ich dir schon vorhin verklart.“

„Da warst du Trantüte doch noch vom Rum bestußt und hast gar nicht durchgeblickt.“

Die einzigen, die heimlich grinsten, waren die Zwillinge Hasard und Philip. Jetzt hatte sich Großväterchen mal wieder mit dem Profos in der Wolle, und da wurde an gutgemeinten Ausdrücken und Ratschlägen nicht gespart. Daß sie in der Finsternis ganz niederträchtig grinsten, sah ohnehin keiner.

„Der Heilige Geist der Insel hat mich betäubt, da bin ich ganz sicher“, murmelte Old O’Flynn. „Richtig schaurig war das.“

„Old O’Flynn mit eingebautem Geisterfühler, was wie?“ höhnte der Profos. „Dein Gefasel ist ja nicht mehr logisch, das ist schon – äh – na, wie sagt man doch gleich?“

„Biologisch“, sagte der Kutscher lustlos in die Dunkelheit hinein.

„Genau – biologisch“, tönte Carberry. „Biologische Salbaderei ist das, Mister O’Flynn. Dir sollte man die Ohren um den Hals wickeln und dich zum Lüften raushängen.“

„Und ich sage dir, es war der Heilige Geist der Insel“, wiederholte Old O’Flynn wütend. „Ohne diese verdammten Geister wäre das nie und nimmer passiert. Ich war wirklich stocknüchtern …“

„Haha“, sagte Carberry, „hört – hört! Er war stocknüchtern!“

„Der Kutscher weiß das auch“, knurrte Old O’Flynn. „Das lag einfach an der Stimmung, als wir auf der Sandbank saßen. Richtig gruselig war das, die Vogelschreie, die Geräusche aus dem Urwald, das Quaken von Fröschen und die Schatten, die über das Schiff segelten. Auf Andros geht es nicht mit rechten Dingen zu. Deshalb haben die Spanier die Insel ja auch auf den Namen ‚Insel des Heiligen Geistes‘ getauft. Und der Kutscher hat selbst gesagt, daß es hier Flugdrachen mit feurigen Augen, Elfen mit langen Bärten, drei Zehen und drei Fingern gibt. Das waren die Geister, die mich betäubt haben.“

Da keiner eine Antwort gab, räusperte sich Old O’Flynn heiser. Offenbar brauchte er jetzt die Unterstützung des Kutschers.

„He! Sag doch auch mal was, Kutscher“, maulte er.

Der Kutscher hockte still in seiner Ecke und bereute insgeheim, gestern abend so dick aufgetragen zu haben. Er hatte wahre Schauergeschichten über die Insel erzählt und dabei noch kräftig übertrieben. Aber schuld daran war Old O’Flynn, der hatte begierig zugehört und alles über Geister in sich aufgesogen wie ein Schwamm. Und weil der Alte so schön mitgegangen war, hatte der Kutscher es immer ärger getrieben.

Jetzt reute ihn das. Andererseits konnte er seine Schauermärchen aber auch nicht widerrufen, ohne seine Glaubwürdigkeit einzubüßen. Zugleich ärgerte ihn aber auch, daß Old O’Flynn die Geister zum Vorwand nahm, um sich aus der Sache herauszuschwindeln. Der behauptete jetzt mit der größten Unverfrorenheit, ihn träfe keine Schuld. Er schob einfach alles auf die Geister ab, ganz besonders auf den „Heiligen Geist“ dieser Insel.

Wenn der Alte nicht Kapitän der „Empress“ wäre, dann würde er ihm jetzt allerlei sagen, bis hin zu dem Vorschlag, ihm ein wenig zum „Tampentänzchen“ aufzuspielen, diesem verrückten alten Hecht.

Daher fiel die Antwort des Kutschers auch knapp und hart aus.

„Der Heilige Geist hat wohl eher in der Rumbuddel gesteckt, an der du dich gestern abend ausgiebig und lange festgehalten hast. Deine Fahne stinkt bis zu mir herüber.“

„Das ist ungerecht“, maulte Old O’Flynn. „Ich habe die Flugdrachen mit den roten Feueraugen genau gesehen. Einer von ihnen hat mich blitzartig betäubt. Vielleicht war’s auch eine der bärtigen Elfen. Wenn du das vorher gesagt hättest, Kutscher, wäre ich niemals diesen verdammten Kurs gesegelt. Ich hätte diese Insel wie die Pest gemieden.“

Ausreden, dachte der Kutscher, alles faule Ausreden. Mit den Geistern versuchte der alte Heuchler jetzt sein Ansehen aufzumöbeln. Sie sollten ihn entschuldigen.

„Laß dich doch einsargen, Mister O’Flynn“, sagte Carberry in der Finsternis der Pfahlhütte. „Am besten gleich mit deinem Holzbein. Aber das werden die Indianer wahrscheinlich unter den Kesseln verheizen, in denen sie uns morgen früh kochen werden, einschließlich der Hündin. Die fressen nämlich nicht nur Menschenfleisch, da ist so ein Hundchen gerade recht – als Vorspeise. Ihr werdet schon sehen, daß sie morgen die Kessel anheizen. Bei denen kannst du dann als Kesselheizer auf ’nem Auslegerboot anheuern, du Rumkapitän.“

Der Alte schwieg eingeschüchtert, als er das hörte. Aber der Kutscher empörte sich über Carberrys Gefasel von den Menschenfressern.

„So ein blöder Quatsch!“ fauchte der Kutscher. „Wenn ich das schon höre! Die werden die Kessel anheizen, um uns zu kochen! Du hast die Indianer doch vorhin gesehen. Das sind keine Kariben, die Menschenfleisch fressen. Diese Indianer sind mit Sicherheit Arawaks, und von denen habe ich in dem Folianten gelesen, daß sie kein Menschenfleisch verspeisen und folglich auch keine Kannibalen sind.“

Old O’Flynn hatte auch bei der gestrigen Erzählung des Kutschers wieder mal was in den falschen Hals gekriegt, und jetzt fragte er: „Wieso heißen die eigentlich Arwenacks? Die stammen doch nicht aus Cornwall! Oder waren die früher mal da? Vielleicht sollten wir sie beim Hellwerden einfach mit unserem Schlachtruf ‚Ar-we-nack‘ begrüßen. Das freut sie sicher.“

„Du gehörst achtmal gefaltet und gebündelt in den See geworfen“, sagte der Kutscher seufzend. „Manchmal ist es wirklich ein Kreuz mit dir, Donegal. Die haben doch nichts mit der Feste Arwenack zu tun, diese Indianer.“

„Und warum nennen sie sich dann so?“

„Warum kann man nicht nach Potosi segeln?“ fragte der Profos hämisch dazwischen. „Weil das Ruder in den Bergen klemmt, nicht wahr? Hast du immer noch nicht kapiert, daß der Kutscher Arawaks und nicht Arwenacks gesagt hat? Mann, schnall dir bloß dein Holzbein ab, und klopf dir damit kräftig auf den Schädel. Holz an Holz, das gibt so zarte Töne.“

Jetzt wurde auch der Alte fuchtig.

„Wenn ich mein Holzbein abschnalle, dann werde ich es, auf deinem verdammten Schädel tanzen lassen, Mister Carberry. Das klingt dann noch viel lieblicher, nämlich wie Holz an Sägespäne, du quergehobelter Hauklotz.“

Die Zwillinge amüsierten sich köstlich. Martin Correa, Nils Larsen und Sven Nyberg, die ebenfalls gefangen waren, hörten schweigend und interessiert zu, was die drei anderen sich so gegenseitig an die Köpfe warfen. Sie hatten bisher kaum ein Wort gesprochen.

„Jedenfalls hat das nichts mit uns Arwenacks zu tun“, erklärte der Kutscher noch einmal nachdrücklich.

„Klar hat das was mit uns zu tun“, motzte Old O’Flynn. „Sonst hätten sie uns ja nicht gefangengenommen.“

Himmel, ist das wieder eine Logik, dachte der Kutscher. Wenn der Alte verbohrt war, dann konnte man mit ihm kein vernünftiges Wort mehr reden.

„Hör bloß auf“, sagte er. „Wir haben weiß Gott etwas anderes zu tun, als uns gegenseitig mit solchen dämlichen Sprüchen anzumosern. Wir sitzen in der Klemme …“

„… und wandern in die Fleischtöpfe der Indianer“, setzte Carberry hinzu. „Wobei Donegal noch die besten Aussichten hat, nicht gleich gefressen zu werden, weil sie zuerst sein Holzbein für das Feuerchen brauchen. Außerdem dürfte der alte Knochen ziemlich zäh sein. Vielleicht kochen sie aus ihm nur ’ne labbrige Geisterbrühe mit Holzbeineinlage und so.“

Der Kutscher gab es auf, die Kerle weiter belehren zu wollen. Die faselten doch immer nur dasselbe. Der Alte quatschte von den Arwenacks, und Carberry ließ sich über Menschenfresser aus. Leise vor sich hin fluchend, lehnte er sich an die stabile Wand der Hütte zurück. Sollen sie sich gegenseitig anpflaumen, bis sie müde werden, dachte er. Ihm ging das allmählich auf die Nerven.

„An werdenden Vätern vergreifen sie sich nicht“, murmelte Old O’Flynn verdrossen. „Ich werde gleich morgen mit dem Häuptling der Arwenacks sprechen und ihm das verklaren. Wer soll denn sonst meine Drillinge aufziehen?“

„Wer sagt denn, daß es Drillinge werden?“ fragte Carberry höhnisch. „Du bringst doch höchstens noch ’ne halbe Kakerlake zustande.“

„Dafür bringst du gar nichts zuwege, nicht mal einen lausigen Bilgenfloh, und wenn, dann ist der bestenfalls noch quergeriggt und triefäugig! Ich habe jedenfalls schon acht Stapelläufe hinter mir!“

„Du verschweigst bloß, wie oft du schon aufgebrummt bist“, spottete Carberry. „Du bist ja schon dafür berüchtigt, daß du jedesmal mit deinem oder einem anderen Kahn auf die Korallen oder Sandbänke aufsegelst.“

Jetzt lassen sie ihren Ärger aufeinander dahin gehend ab, daß sie sich menschliche Schwächen vorwerfen, dachte der Kutscher. Die Motzerei würde in dieser Nacht wohl so schnell kein Ende nehmen. Aber verdammt ärgerlich war das schon, was sich Old Donegal wieder mal geleistet hatte. Da verstand er schon den Profos, wenn der vor Hohn nur so triefte.

„Sollten wir nicht lieber unsere augenblickliche Situation besprechen?“ fragte Martin Correa leise. „Wir wissen nicht einmal genau, wie es um uns herum aussieht, wie groß dieses Pfahldorf ist, wie viele Indianer es gibt und was der Dinge mehr sind.“

„Klar! Ich denke dauernd darüber nach“, sagte Old O’Flynn, „aber dieser Mister Carberry muß ja ständig rumstänkern.“

„Kein Wunder“, sagte der Profos, „dir haben wir ja diesen ganzen Affenzirkus zu verdanken. Da wird wohl mal ein leiser und freundlicher Vorwurf angebracht sein.“

„Ha! Leise – freundlich! Du beleidigst mich am laufenden Band. Und das nennst du freundliche Vorwürfe, was? Verklar deine blöden Sprüche doch dem heiligen Inselgeist, der ist dafür zuständig! Davon sind selbst meine Enkelchen überzeugt. Oder was meint ihr?“

Old O’Flynn suchte wieder mal nach hilfreichem Beistand.

Aber wovon seine „Enkelchen“ überzeugt waren, das verklarte ihm Hasard junior auf reichlich trockene Art, denn den beiden ging es jetzt langsam auch auf die Nerven. Hier mußte etwas geschehen, hier mußte gehandelt und durften keine Sprüche geklopft werden.

„Ich sehe das noch ganz anders“, sagte er trocken. „Die Indianer haben uns sämtliche Waffen abgenommen und uns nichts mehr gelassen. Ist das richtig?“

„Natürlich ist das richtig“, sagte Old O’Flynn, „oder hast du vielleicht noch eine verstecken können?“

„Ich nicht, aber du, Granddad. Dein Stilett in der Hohlkammer vom Holzbein haben sie nicht gefunden, obwohl du das Holzbein so großzügig herumgezeigt hast. Die Kerle haben es auch noch neugierig beklopft und bestaunt. Ich schätze, das Messer dürfte sich noch darin befinden, also sind wir nicht ganz waffenlos.“

„Natürlich“, sagte Old Donegal verblüfft. Ferris Tucker hatte ja schon vorsorglich ein zweites Holzbein gezimmert, das stets griffbereit auf der „Empress“ lag. Da war, wie im anderen, wieder eine Hohlkammer hineingebohrt worden, in der sich das Stilett befand. Sein anderes Holzbein war ja in der „Geisterhöhle“ restlos in Trümmer gegangen, in die er so übergangslos hineingefallen oder gerutscht war.

Jetzt begann Old O’Flynn leise zu kichern.

„Ja, das Stilett! Das habe ich. Damit könnte man den Häuptling Arwenack ein bißchen am Hals kitzeln. Eine feine Idee ist das.“

Old O’Flynn kicherte erneut und rieb sich in der Dunkelheit die Hände, daß es sich anhörte, als würden Termiten durch den Pfahlbau geistern!

„Der Häuptling heißt nicht Arwenack, verdammt!“ zischte Carberry erbost. „Merk dir das endlich, du mißratene Seegurke!“

„Wie heißt er denn?“

Der Profos fuhr fast aus der Haut wegen der dämlichen Fragerei.

„Weiß ich doch nicht. Vielleicht ist das Häuptling Graue Salbe oder Geisterwolke. Frag ihn doch selbst!“

„Ich habe eigentlich nicht daran gedacht, den Häuptling mit dem Stilett zu kitzeln“, bemerkte Jung Hasard bescheiden. „Davon werden wir nicht viel haben.“

„Aber er hat was davon“, sagte Old Donegal voller Eifer.

Hasard junior schüttelte in der Dunkelheit den Kopf.

„Ich meine etwas anderes. Wir haben doch die Möglichkeit, mit dem Stilett das Dach der Hütte zu bearbeiten und ein Loch hineinzuschneiden. Durch dieses Loch könnten wir dann hinausklettern. Das Dach ist nicht so stabil wie die Wände. Es ist mit Längs- und Querstreben versehen, so einer Art Gitterwerk, und gedeckt ist es mit schweren Palmwedeln. Sehr schwer kann das Ausbrechen nicht sein.“

Der Profos klatschte sich die Hand vor die Stirn.

„Himmel, sind wir Idioten“, sagte er verhalten. „Da öden wir uns gegenseitig an, und inzwischen denkt dieses Rübenschweinchen prächtig nach, wie man von hier flüchten kann. Der hat im Handumdrehen eine Lösung zur Flucht gefunden. Fein ausgedacht, mein Junge“, lobte er.

„Bleibt noch die Frage offen, wie wir die ungastliche Stätte hier verlassen können“, meinte Nils Larsen. „Das Pfahlhaus scheint mitten im See zu stehen. Vielleicht gibt es hier Krokodile, Schlangen oder andere feine Viecher.“

„Das können wir leider nicht ändern“, sagte Carberry. „Ich glaube aber, ich habe im Mondschein etliche Kanus an einer anderen Hütte gesehen. Außerdem hat man uns ja auch im Kanu hergebracht, also müssen hier welche in der Nähe sein. Vielleicht liegt auch unter unserer Hütte so ein Ding. Mir ist es lieber, auf Krokodile zu stoßen, als in den Fleischtöpfen dieser Kerle zu landen und gesotten zu werden.“

Der Profos war nicht davon abzubringen, bei den Kannibalen gelandet zu sein. Mittlerweile war das bei ihm zur fixen Idee geworden.

„Das sind keine Menschenfresser“, betonte der Kutscher noch einmal ausdrücklich.

Carberry schüttelte nur grimmig den Kopf.

„Darauf kann man sich nicht verlassen. Wenn wir erst in einem solchen Kessel schmoren, ist es zu spät. Dann werfen die etwas Kraut und Sellerie mit Mohrrüben hinein, und der Oberfresser schmeckt die Suppe ab. Dann kann ich mit deiner Ansicht überhaupt nichts mehr anfangen.“

Der schmalbrüstige Kutscher rang die Hände.

„Hier gibt es keinen Oberfresser, der die Suppe abschmeckt, und hier wachsen weder Sellerie noch Mohrrüben“, sagte er erbittert.

„Wenn du keine gesehen hast, heißt das noch lange nicht, daß hier auch keine wachsen. Ich verlasse mich auf meinen gesunden Menschenverstand.“

„Dann bist du ja sehr verlassen“, knurrte der Kutscher, „der einsamste Mann der Welt sozusagen.“

Der „einsamste Mann der Welt“ fluchte verhalten.

„Fangen wir nun endlich an“, fragte er, „oder halten wir erst weitere Palaver ab?“

Der Kutscher gab keine Antwort. Er schien von der bevorstehenden Flucht nicht sonderlich begeistert zu sein. Aber dafür waren die anderen alle Feuer und Flamme.

2.

„Wenn bei der Hütte kein Kanu liegt“, sagte Hasard junior, „dann schwimmen Philip und ich zur nächsten Hütte und leihen uns eins aus.“

„Das hast du sehr gut gesagt“, lobte der Profos. „Ausleihen – ein feines Wort. Schließlich können wir die Indianer ja nicht mitten in der Nacht wecken und sie fragen. Sie haben bestimmt einen sehr anstrengenden Tag hinter sich.“

Die Stimme des Kutschers klang ernst, als er etwas sagte.

„Ich halte das nicht für richtig, Männer, daß wir hier so sang- und klanglos verschwinden. Ich sehe auch keineswegs unser Leben bedroht. Wenn wir fliehen, finden sie uns wieder. Unser Schiffchen liegt ja noch immer auf der Sandbank fest, und das kriegen wir nicht in einer Stunde vom Schlick herunter.“

„Muß ja auch nicht sein“, erwiderte Carberry. „Aber an Bord haben wir Waffen, und damit können wir den Burschen kräftig einheizen, wenn sie antanzen. Diesmal wird ja wohl keiner an der Rumbuddel hängen und dabei auch noch pennen.“

„Gewalt ist nicht unbedingt ein Argument. Ich halte diese Leutchen für friedlich. Wir müssen uns nur mit ihnen verständigen und ihnen verklaren, daß wir auf ihrer Seite stehen und gegen die Spanier kämpfen. Die Arawaks werden uns weder fressen noch umbringen. Wir müssen nur eine gemeinsame Basis finden.“

„Soso“, sagte Carberry höhnisch. „Friedliche Leutchen, was, wie? Halsabschneider und Kesselkocher sind das. Wenn die Kerle so friedliche Leutchen wären, wie du sagst, dann hätten sie uns in Ruhe gelassen und uns nicht nachts überfallen und verschleppt. Oder zeugt das etwa von friedlichen Leutchen? Wenn ich ein friedfertiger Mensch bin, dann bedrohe ich andere nicht und überfalle sie auch nicht. Ich tue das schon gar nicht aus dem Hinterhalt. Wenn du erst zwischen Mohrrüben und Sellerie und Petersilie im Kessel kochst, in dem du hockst, dann kannst du meinetwegen mit den Kerlen über Friedfertigkeit salbadern, bis sie dir die Haut in Streifen von deinem Kutscherarsch ziehen.“

Leises Lachen erklang von allen Seiten.

„Ed hat recht“, sagte Old O’Flynn, „auch wenn er seine dämliche Bemerkung mit der Rumbuddel und dem Pennen nicht lassen konnte. Aber ich bleibe hier auch nicht sitzen und warte, bis ich in den Kessel gesteckt werde.“

„Und wie denkt ihr darüber?“ fragte der Kutscher.

„Ich denke genauso“, sagte Martin Correa. „Wenn sie uns überfallen und verschleppt haben, dann haben sie auch etwas mit uns vor. Ich bin aber nicht scharf darauf, es unbedingt in Erfahrung zu bringen.“

Die Zwillinge stimmten unisono für Flucht.

Auch Sven Nyberg und Nils Larsen waren dafür, so schnell wie möglich zu verschwinden.

„Allerdings muß das völlig lautlos geschehen“, meinte der dunkelblonde Sven. „Der Hund darf nicht knurren, und der Papagei muß seinen Schnabel halten. Möglicherweise haben die Indianer auch nachts eine Wache aufgestellt. Sie sind uns in dieser Gegend weit überlegen, weil sie das Gelände und seine Tücken ganz genau kennen. Trotzdem sollten wir es wagen.“

„Plymmie wird nicht knurren“, versicherte Philip. „Aber für Sir John kann ich nicht garantieren.“

„Aber ich“, behauptete Carberry. „Sir John spürt ganz genau, wann er den Schnabel halten muß.“

Damit war der Kutscher restlos überstimmt.

„Es wird sich herausstellen, daß diese Leutchen harmlos sind und wir ihnen unrecht tun“, sagte er.

Jetzt war der Profos fast empört.

„Wer tut hier wem ein Unrecht an“, begann er zu motzen. „Du hast vielleicht eine Einstellung! Es ist doch wohl unser gutes Recht, abzuhauen, wenn man uns überfallen und eingesperrt hat. Willst du dich bei den Fleischkochern vielleicht noch bedanken, daß sie uns nicht gleich die Hälse durchgeschnitten oder in die Kessel gesteckt haben? Vielleicht hatten sie gerade keinen Hunger. Aber wenn du nicht willst, kannst du ja hierbleiben. Wenn die erfahren, daß du Koch bist, mußt du dich gleich selber schmoren und abschmecken.“

Old O’Flynn hockte auf dem Boden. Den Geräuschen nach zu urteilen, schnallte er sein Holzbein ab. Dann fummelte er in dem Hohlraum herum, aber das. Messer steckte so tief drin, daß er es nicht erreichte. Schließlich schüttelte er das Ding heraus. Dann begann die umgekehrte Prozedur. Als er das Holzbein wieder zurechtgefummelt hatte, grapschte er nach dem Messer und gab es Jung Hasard.

„So eine Geheimwaffe ist was Feines“, lobte er, „das Messerchen hat mir schon oft in brenzligen Situationen geholfen.“

Der Profos stand auf und ging zu den Zwillingen hinüber.

„Steig auf mein Kreuz“, sagte er zu Hasard junior, „dann reichst du oben an das Dach heran und kannst lossäbeln.“

Als Jung Hasard auf das Riesenkreuz des Profos gestiegen war, sagte er grinsend: „Da steht man wie auf dem Achterdeck einer Kriegsgaleone.“

Er griff nach oben und begann, mit dem Messer ein Loch in das blattgedeckte Dach zu schneiden. Es ging ziemlich rasch, und bald hatte er so viel herausgeschnitten, daß er hindurchsteigen konnte.

Carberry ließ ihn jetzt auf seine breiten Pranken steigen, nahm das Messer in Empfang und stemmte den Bengel mühelos hoch. Das geschah so spielerisch leicht, als würde er sich recken.

„Schön leise jetzt“, murmelte er. „Wie sieht es draußen aus?“

„Dunkel“, war die lakonische Antwort. „Man sieht kaum die Hand vor Augen.“

Als Hasard durch das Loch verschwunden war, raschelte es nur ganz leise. Aber derartige Geräusche fielen überhaupt nicht auf. Im nahen Dschungel rief und krächzte es, und viele andere Geräusche waren ständig zu hören.

„He, gib mir das Messer wieder“, sagte O’Flynn, „das ist bei mir besser aufgehoben als bei dir. Später fummle ich das Ding wieder in den Hohlraum zurück.“

Sie sahen durch das Loch zum Himmel hinauf. Da waren nur langgestreckte Wolkenbänke zu sehen. Sie zogen ziemlich schnell dahin, doch der leichte Wind brachte keine Abkühlung. Heiß und feucht war es in dem Raum, und alle Augenblicke wischten sie sich den Schweiß von den Gesichtern.

Ein paar Augenblicke vergingen. Dann wurde draußen der hölzerne Riegel zurückgeschoben und die Tür geöffnet. Jung Hasard war nur als dunkler Umriß zu erkennen. Er war von der Außenwand des Daches nach unten auf die Plattform gestiegen und um die ganze Hütte herumgeschlichen.

Einer nach dem anderen trat hinaus und sah sich um. Mit der Orientierung war es allerdings schlecht bestellt. Wie hingeduckte Schemen standen die anderen Pfahlbauten mitten im Wasser. Keine hatte eine direkte Verbindung zum Land. Die Umgebung wirkte wie ein verlassenes Geisterdorf.

„Wird nicht leicht sein, von hier zu türmen“, raunte Carberry. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie es in unmittelbarer Umgebung aussieht. Oder hat einer von euch heute nacht etwas erkennen können?“

Das wurde allgemein verneint, denn als man sie hergebracht hatte, war es schon finster gewesen.

Der Profos zuckte heftig zusammen, als dicht vor seinem Gesicht Flügel schlugen. Abwehrend hob er die Hände hoch, dann erkannte er undeutlich, daß es Sir John war, der offenbar die Stimme seines Herrn und Meisters vernommen hatte und nun herangeflattert war. Er ließ sich auf Carberrys Schulter nieder.

Seltsamerweise sagte er kein Wort. Er hockte ganz still da wie ein pechschwarzer Rabe. Auch die Wolfshündin gab keinen Ton von sich, als wüßten beide, was auf dem Spiel stand.

In den anderen Pfahlbauten war alles ruhig. Wenn da wirklich ein Indianer auf nächtlichem Wachtposten war, dann hätten sie ihn ohnehin nicht gesehen. Sie rechneten auch kaum mit einem Ausbruch der Gefangenen, die sich hier nicht auskannten und vermutlich nicht das Wagnis einer nächtlichen Flucht eingehen würden.

Der einzige, dem mal wieder alles nicht geheuer war, war Old O’Flynn, der sich unbehaglich nach allen Seiten umsah. Er dachte wieder daran, was der Kutscher am gestrigen Tag über die Insel gesagt hatte.

Chickcharnies, dachte er. Hier lungerten irgendwo in der Finsternis die bahamischen Elfen mit den drei Fingern, drei Zehen und den feuerroten Augen herum, die mit den Menschen so gern Schabernack trieben. Wenn sie keine boshaften Streiche verübten, dann hingen sie mit ihren langen Schwänzen an den Cottonwoodbäumen und grinsten teuflisch.

Er blickte immer wieder zu den anderen Hütten hinüber, um festzustellen, ob an einer vielleicht die bärtigen Elfen herumtobten. Er achtete auch auf feuerrote Punkte in der Dunkelheit, aber zum Glück sah er keine, was natürlich nicht hieß, daß es hier keine gab. Möglicherweise hielten sie die Augen ja gerade geschlossen.

Jung Hasards flüsternde Stimme riß ihn aus seinen geisterlichen Betrachtungen.

„Geht zur anderen Seite der Plattform hinüber“, sagte er. „Philip und ich holen inzwischen ein Kanu. Gleich drüben bei der nächsten Hütte liegt eins.“

Die beiden Junioren fackelten nicht lange. Während die Männer zur anderen Seite hinübergingen, glitten sie lautlos ins Wasser. Dann begannen sie zu schwimmen, ebenfalls sehr ruhig und ohne sonderliche Hast.

Das Wasser war warm und erfrischte kaum. Sie dachten auch daran, daß es hier sicher Krokodile gab. Das war zwar nicht angenehm, ließ aber trotzdem keine Angst in ihnen aufsteigen. Während sie zu der nächsten Pfahlhütte schwammen, blickten sie aufmerksam voraus. Niemand war zu sehen, in den Hütten bewegte sich auch nichts.

Nach einer Weile hatten sie die Hütte erreicht. Sie war auf hohen Stelzen gebaut und befand sich hoch über ihren Köpfen. Von oben aus konnten sie jetzt nicht mehr gesehen werden.

Gleichzeitig erreichten sie das Kanu. Daneben hingen noch zwei weitere, lose angebunden mit dicken Lianen.

„Wir nehmen das große“, sagte Hasard leise. „Sieh mal nach, wie viele Paddel darin sind.“

„Vier“, sagte Philip, als er das Kanu abgetastet hatte.

„Dann bleib hier, ich hole noch zwei aus dem anderen.“

Er hangelte sich zu dem kleinen Kanu, tastete hinein und „lieh“ sich zwei weitere Paddel aus, die er lautlos ins große Kanu legte.

Inzwischen löste Philip die Liane, mit der das Kanu an einem der Stämme vertäut war.

„Wir ziehen es hinter uns her“, raunte er, „hier geht eine ganz leichte Strömung.“

Einmal war ein Mondstrahl zu sehen, der einen silbrigen Reflex auf das Wasser warf. In diesem Augenblick sah alles unwirklich und geisterhaft aus. Doch der Mondstrahl verschwand gleich wieder. Erneut wurde der Himmel von dunklen Wolken verdeckt.

Sie zogen das große Kanu an der Liane hinter sich her, bis sie ihre Hütte erreichten. Dort banden sie es neben der Plattform fest.

Es wurde kaum gesprochen. Das wollte man sich für später aufheben, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Selbst die Wolfshündin verhielt sich mäuschenstill. Sir John hockte bei Carberry auf der Schulter und döste vor sich hin.

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