Kitabı oku: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 656»
Impressum
© 1976/2020 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-96688-070-1
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Fred McMason
Der Tempel des Schiwa
Man hält sie für englische Spione und schießt ihre Karavelle zusammen
Mai 1599 – Arabisches Meer.
Für Old O’Flynn war es wieder mal die Nacht der Nächte, in der unerklärliche Dinge vor sich gingen.
Sie befanden sich mit der zweimastigen Karavelle im Arabischen Meer, hatten die Insel Sokotra hinter sich gelassen und lagen jetzt auf nordöstlichem Kurs, um Surat anzulaufen, jene indische Stadt am Tapti, wo sie hofften, nach langer Irrfahrt wieder auf die anderen Arwenacks zu stoßen.
Vor einer Weile hatte es mit diesem seltsamen Leuchten im Meer angefangen, das Donegal nicht ganz geheuer war. Jetzt hatte sich das Leuchten verstärkt, achteraus erschienen grünlich phosphoreszierende Blasen dicht unter der Wasseroberfläche.
Geister der Tiefe, dachte Old Donegal beklommen. Wassermänner, die auf Schwefelfässern durch die Nacht reiten …
Die Hauptpersonen des Romans:
Old Donegal O’Flynn – in einer sehr brenzligen Situation entscheidet wieder mal sein Holzbein, wer die besseren Karten hat.
Philip Killigrew – erfindet ein Spezial-Menü, das er „Zähne des Windes“ nennt, aber von Heuschrecken hat sein Granddad die Nase voll.
Hasard Killigrew – spricht als Gott Schiwa zu einigen Schurken, die darauf flugs die Flucht ergreifen.
Bowmaster – ein Kapitän und Kaufmannsabenteurer, der den drei Arwenacks eine höllische Überraschung bereitet.
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
1.
Er stand an der Pinne und steuerte das Schiffchen, das sie den Piraten auf Madagaskar abgenommen hatten, sicher durch die Nacht.
Jung Hasard und sein Bruder Philip schliefen bei dem warmen Wetter an Deck.
Old Donegal räusperte sich leise und blickte erneut achteraus. Das Leuchten wurde noch stärker, und es erschien auch an anderen Stellen im Wasser, was ihm gar nicht behagte.
Meeresleuchten! Das gab es oft, aber niemand hatte eine vernünftige Erklärung dafür, aus welchem Grund das nachtschwarze Wasser leuchtete.
Philip hatte gesagt, das sei nun mal mitunter so, und sein Bruder Hasard hatte es lediglich als „Naturerscheinung“ zur Kenntnis genommen.
„Nein, nein, so einfach kann man das nicht abtun“, brummelte Old Donegal vor sich hin. „Jedes Ding hat eine Ursache. Ihr Bürschchen wollt das nur nicht wahrhaben, aber ich weiß es.“
Er drehte den Docht der Laterne etwas höher, linste auf den Kompaß, nickte vor sich hin und blickte danach nochmals achteraus, wobei er ruckhaft den Kopf wandte.
Unheimlich sah das aus – so als glimme oder brenne der Achtersteven der kleinen Karavelle und ziehe diese Spur durchs Meer wie ein leuchtendes Fanal. Er konnte das Kielwasser auf mehr als eine Meile deutlich erkennen.
An anderen Stellen waren ebenfalls helle, leuchtende Flecken im Wasser zu erkennen. Sie erinnerten ihn an kleine, hellerleuchtete Inseln, die unruhig in der See schwammen.
Sehr unruhig räusperte er sich schon zum vierten Male.
Möglicherweise hielten die Meeresgötter gerade ein Fest auf dem Grund der See ab. Das würde erklären, warum alles erleuchtet war. Dieses Fest fand natürlich in einem unterseeischen Palast statt, und er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie jetzt da unten in der unendlichen Tiefe tanzten, sangen und sich amüsierten. Nixen, Meermänner und alles mögliche mochte da versammelt sein.
Er fragte sich ganz ernsthaft, ob sie wohl merkten, daß da gerade ein Schiff über sie hinwegsegelte. Er sah sie mit ihren algengekrönten Häuptern deutlich vor sich, die Gestalten und Dämonen aus der Tiefe.
Old Donegal war gern am Spintisieren, wenn er nachts allein war. Dabei gingen ihm die wunderlichsten Gedanken durch den Kopf. Allerdings ließ er dabei auch nicht den Kompaß aus den Augen.
Der Teufel mochte wissen, ob sie in der Lage waren, in Surat anzulegen, denn das Kartenmaterial, das sie an Bord hatten, war von minderer Qualität und eine genaue Navigation nicht möglich. Die Seekarten, die Philip in der Kapitänskammer gefunden hatte, bezogen sich nur auf Afrikas Ostküste. Jedenfalls wußte er mit absoluter Sicherheit, daß sie auf die indische Westküste zusteuerten.
Abermals beschäftigte er sich mit dem Phänomen des leuchtenden Wassers. Sie hatten es schon öfter erlebt und darüber gestaunt. Doch selbst der weise Kutscher hatte es nicht exakt erklären können.
Old Donegal zuckte zusammen, als er ein krächzendes Geräusch hörte. Es war ein paar Augenblicke still, dann hörte er deutlich eine Stimme, die das ziemlich unsinnige Wort „Quooaak“ sagte. Dem Wort folgte ein Krächzer.
Der alte Haudegen zog das Genick ein. Es war ja nicht so, daß er Angst hatte, Gott bewahre! Aber unheimlich klang das schon, wenn mitten auf See einer „Quooaak“ sagte und ein Krächzen folgen ließ.
Er spürte, wie es ihm trotz der warmen Nacht eiskalt den Rücken hinunterrann.
Mit zusammengekniffenen Augen blickte er zu den Zwillingen. Ein kleines Grinsen stahl sich in sein zerfurchtes Gesicht, als Hasard sich einmal bewegte und zur anderen Seite wälzte.
„Nicht mit mir, Söhnchen“, murmelte er. Klar, die beiden Kerle wollten sicher seine Reaktion testen, und wenn er dann mit einem Fluch reagierte, würden sie sich was feixen.
Er korrigierte den Kurs ein wenig – und hörte wieder dieses unheimliche Geräusch. Gleichzeitig klang es auch so, als schlügen Flügel gegeneinander.
Old Donegals Blick wurde jetzt wachsam und mißtrauisch, als er die Zwillinge musterte. Keiner der beiden rührte sich, und doch glaubte er zu wissen, daß sie sich heimlich eins grinsten.
„Hört mit dem Quatsch auf!“ sagte er grob. „Schlaft lieber! In einer Stunde ist mein Törn rum, dann seid ihr an der Reihe.“
Keiner der beiden gab Antwort. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig, wie er feststellte. Das verwirrte ihn etwas, und als er sie im schwachen Schein der Laterne ausgiebig betrachtete, erklang noch einmal dieses schreckliche Geräusch, das ihn nervös herumfahren ließ.
Das hörte sich an wie ein großer Frosch, der irgendwo auf den Planken hockte. Er entsann sich jedoch nicht, auf der ganzen Irrfahrt auch nur einen einzigen Frosch gesehen zu haben. Außerdem schlugen Frösche nicht mit den Flügeln.
Die Zwillinge verursachten dieses Geräusch jedenfalls nicht, das wußte er jetzt genau.
Mit wachen Sinnen lauschte er in die Dunkelheit und versuchte im Widerschein des Wassers etwas zu erkennen. Ob da einer der Meermänner an den Rumpf des Schiffes geklatscht hatte?
Old Donegal schrak heftig zusammen, denn ganz plötzlich war da ein Rauschen dicht neben ihm in der See. Mächtige Schwingen schlugen aufgeregt, und dann erblickte er einen monströsen Schatten, der ihm ein Stöhnen entlockte. Der Schatten war riesengroß und flog genau auf ihn zu.
Der Alte ließ die Pinne sausen, stieß einen leisen Fluch aus und ging hinter dem Schanzkleid in Deckung.
Hart schluckend sah er aus den Augenwinkeln, daß der Schatten genau Kurs auf ihn nahm, die Schwingen zusammenfaltete und auf dem Handlauf des Schanzkleides Platz nahm.
„Misericordia“, stammelte er entsetzt. „Hinweg, Satan!“ Die letzten Worte brüllte er laut.
Der Schatten nahm davon jedoch keine Notiz. Er blieb hocken und schien ihn genau zu betrachten.
Von dem Gebrüll erwachten die Zwillinge und fuhren hoch.
„Was ist denn los?“ fragte Hasard, der mit einem Satz auf den Beinen war. Philip war ebenfalls blitzschnell aufgesprungen.
„Da!“ rief der Admiral. „Der Satan oder ein Seeungeheuer! Es will mir die Augen auskratzen.“
Im schwachen Widerschein der Deckslaterne erkannte Hasard einen großen Vogel, dessen Oberschnabel gekrümmt war. Aus dem Gefieder des Vogels troff Wasser an Deck. Das Tier schüttelte sich und plierte Old Donegal von der Seite her an.
„Dein Seeungeheuer ist ein Kormoran“, sagte Hasard. „Wahrscheinlich hat ihn das Licht der Laterne angelockt. Seltsam, daß er so weit draußen auf See ist.“
„Ein Kormoran?“ fragte Old Donegal ungläubig. „Dann hat er sich verwandelt. Vorhin hatte er eine andere Gestalt, das weiß ich genau.“
„Kormorane tun das öfter“, murmelte Hasard. Dabei zwinkerte er seinem Bruder zu, der sein Grinsen mühsam verbarg.
Er näherte sich dem Vogel, der ruhig sitzenblieb, ihn aber etwas furchtsam anblickte. Philip drehte den Docht der Laterne etwas höher, um das Tier besser sehen zu können.
Es war tatsächlich ein Kormoran mit den typischen Watschelfüßen und dem stark gekrümmten Oberschnabel. An den Stirnseiten des Kopfes hatte er weiße Flecken.
Old Donegal betrachtete ihn mehr als mißtrauisch. Er glaubte sicher zu sein, daß der Vogel vorhin eine andere Gestalt gehabt hatte. Aber die Zwillinge wollten das natürlich nicht wahrhaben.
Als Hasard den Vogel vorsichtig berührte, öffnete der nur warnend den großen Schnabel, biß aber nicht zu. Nach einer Weile ließ er sich sogar streicheln.
Old Donegal stand inzwischen wieder an der Pinne und korrigierte den kleinen Schlenker, der sie etwas vom Kurs gebracht hatte. Ganz geheuer war ihm der nächtliche Besuch jedoch nicht.
„Wie schmecken Kormorane eigentlich?“ fragte er. „Der würde doch einen schönen Braten abgeben.“
„Die schmecken tranig, wie uralte Fische“, sagte Hasard. „Außerdem bringt es Unglück über ein Schiff, wenn man einen Kormoran abmurkst.“
Für Old Donegal war das Thema damit augenblicklich erledigt. Unglück wollte er sich nicht unbedingt einhandeln. Sie waren in letzter Zeit sowieso nicht gerade vom Glück begünstigt.
„So, so, Unglück bringt das. Na, dann lassen wir ihn eben in Ruhe.“
Der große Vogel war sichtlich erschöpft und wollte sich vermutlich nur eine Weile ausruhen.
Sie ließen ihn in Ruhe, wie Old Donegal gesagt hatte.
Hasard übernahm nach einer Weile die Pinne, während der Admiral noch etwas unschlüssig an Deck stand.
„Willst du dich nicht ein bißchen aufs Ohr legen, Sir?“ fragte Philip. „Du kannst dich jetzt ausruhen. Hasard und ich übernehmen bis zum Morgen.“
„Ich dachte eigentlich noch an einen kleinen Schlummertrunk. Auf den Schreck hin natürlich. Solche unerwarteten Gäste hat man ja nur sehr selten an Bord.“
„Dagegen ist nichts einzuwenden. Zur Stärkung für den Rest der Nacht könnten wir auch einen kleinen vertragen.“
Old Donegal holte die unvermeidliche Buddel und hielt sie den Zwillingen hin.
„Aber nur einen kleinen Schluck für den Rudergänger. Zur Kräftigung.“
Die kleinen Schlucke arteten nie in eine Sauferei aus. Old Donegal betrachtete das eher als Medizin, die Geist und Körper wachhielt, wenn man sie mäßig genoß. Und sie genossen sie auch nur mäßig, was so viel hieß, daß jeder nur einen kleinen Schluck nahm.
Er aber nahm drei kräftige Schlucke, weil er ja seinen Schlummertrunk brauchte und nicht mehr am Ruder stand, jedenfalls nicht vor dem Morgengrauen.
Eine halbe Stunde später ging er nach unten. Er wollte zuerst an Deck schlafen, aber da fand er keine Ruhe, weil er meinte, der Kormoran blinzele ihm dauernd zu und beobachtete ihn.
In der Frühe des nächsten Morgens, als noch kurze Dämmerung herrschte, erschien Old Donegal frisch und ausgeruht wieder an Deck. Er wünschte seinen Enkeln einen guten Morgen. Da sah er, daß der Kormoran zusammenschrak, die Flügel ausbreitete und davonflog.
„Der kann mich wohl nicht leiden“, brummte er. „Kaum sieht er mich, da haut er auch schon ab.“
„Er war bereits seit ein paar Stunden unruhig und watschelte auf dem Handlauf hin und her“, berichtete Hasard. „Er fliegt auch seltsamerweise nicht zum Land hin, sondern nimmt Kurs auf See. Das ist schon seltsam.“
Der Kormoran vollführte einen Schlenker nach dem anderen in der Luft, als könne er sich über sein Ziel nicht schlüssig werden. Dann drehte er nach Südwesten ab und entschwand langsam ihren Blicken.
2.
Als die Sonne aufging, war die Kimm dunstig und in feine neblige Schleier gehüllt. Der Sonnenball tauchte scheinbar aus der See und war erst orangerot. Dann wurde er zusehends fahler und verblaßte.
Mit dem Farbenspiel nahm auch gleichzeitig der Wind ab. Er wehte nur noch schwach.
„Das Vieh war ein Unglücksbringer, sage ich euch“, erklärte Old Donegal sinnend. „Oder er hat uns etwas verkünden wollen. Wenn ein Vogel an Bord erscheint und dann auch noch nachts, bedeutet das nichts Gutes. Ich weiß diese Zeichen zu deuten.“
„Sturm?“ fragte Philip sachlich.
Old Donegal schüttelte bedächtig den Kopf. „Nein, diesmal ist es was anderes, kein Sturm.“
„Dann bliebe noch ein Seebeben oder ganz einfach ein Unwetter“, meinte Philip. „Oder der Holzbohrwurm frißt unser Schiff auf.“
Der Admiral starrte auf die rostfarbenen Segeln der Karavelle. Sie blähten sich noch, aber nicht mehr so stark wie zuvor. Auch die Bugwelle war merklich kleiner geworden. Es war ein schmaler Bart, der an beiden Seiten des Rumpfes vorbeigluckerte und achteraus ein schmales Kielwasser bildete.
„Grinst euch nur eins“, sagte er mit einem kurzen Auflachen. „Ich bin sicher, daß es euch noch vergehen wird. Wir sollten darüber aber das Frühstück nicht vergessen.“
Hasard und Philip warfen sich einen Blick zu. Philip nickte schließlich und ging in die kleine Pantry.
Um sie her war es auf eine merkwürdige Art still. Die täglichen Geräusche, die sie seit Jahren gewöhnt waren, hörten sie kaum noch, wie das Knarren von Blöcken oder das Flüstern in den Segeln. Auch das leise Raunen und Gurgeln von vorbeiströmendem Wasser gehörte dazu.
Jetzt waren diese Geräusche überdeutlich zu hören.
„So wie heute ist mir das noch nie aufgefallen“, sagte Old Donegal. „Geht dir das auch so?“
„Meinst du die Geräusche?“
„Ja, sie erscheinen mir überlaut.“
„Stimmt“, sagte Hasard. „Die ganze Welt scheint nur aus diesen Geräuschen zu bestehen.“
Old Donegal legte den Kopf schief und schien in sich hineinzuhorchen. Er hatte ein unglaubliches scharfes Gehör.
„Da ist noch etwas – ein – ein Summen oder so ähnlich. Aber es muß sehr weit entfernt sein.“
Hasard hörte kein Summen, so sehr er sich auch anstrengte.
Old Donegal definierte es ein bißchen genauer. „Klingt wie eine riesige Säge mit stumpfen Zähnen. Ich habe das Geräusch deutlich in den Ohren.“
„Dann muß es aber sehr weit weg sein, Granddad. Wie weit schätzt du, sind wir vom Land entfernt?“
„Das ist schwer zu sagen. Wir haben nur sehr bescheidenes und ungenaues Kartenmaterial. Aber ein paar hundert Meilen dürften es zum Norden hin schon sein. Auf unserem jetzigen Kurs werden wir voraussichtlich in den nördlichen Teil der indischen Westküste gelangen. Mit etwas Glück könnten wir sogar Surat anliegen. Verfehlen wir es, dann erkundigen wir uns einfach. Ist doch keine Schande, wenn man sich mal um ein paar Meilen verhaut. An uns liegt es nicht, nur an den fehlenden Unterlagen.“
„Dieses Summen kann aber kaum vom Land stammen“, begann Hasard wieder. „Ich höre es immer noch nicht. Vielleicht bildest du dir das nur ein?“
„Keine Einbildung. Das Geräusch verändert sich manchmal und ähnelt einem dumpfen Brausen.“
Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als Philip aus der Pantry an Deck erschien. Er brachte ein paar Kummen mit, die bis an den Rand gefüllt waren.
Der Admiral begann neugierig zu schnuppern. Die Geräusche waren damit fürs erste vergessen.
„Was ist in den Kummen?“
„Tomaten, Knoblauch, Zwiebeln, geröstetes Fladenbrot“, zählte Philip auf. „Und natürlich scharf gewürzt.“
„Hörst du was?“ fragte Hasard seinen Bruder. „Der Admiral, äh – ich wollte sagen, Granddad, hört so ’n Summen oder dumpfes Brausen.“
„Das ist Ohrensauen“, sagte Philip nach kurzem Überlegen. „Hat Paddy öfter mal gehabt. Der Kutscher sagte, das würde nach einer Weile wieder von selbst vergehen.“
„Von wegen Ohrensausen!“ brauste Old Donegal auf. „Ohrensausen ist was für alte Knacker, aber nicht für mich. Wenn ihr nicht so laut schmatzen würdet, könntet ihr das Geräusch ebenfalls hören. Ihr müßt nur eure Horchlöffel richtig in den Wind drehen.“
Die Zwillinge behielten ihre Bissen im Mund und lauschten andächtig dem Geräusch, das Old Donegal angeblich hörte. Schließlich schluckte Hasard seinen Bissen überrascht herunter.
„Tatsächlich, da ist etwas. Scheint aus nördlicher Richtung zu stammen, ist aber kaum wahrnehmbar.“
Philip hörte es schließlich auch. Sein Gesicht drückte Verwunderung aus. Aufmerksam blickte er zur nördlichen Kimm, aber außer einem etwas dunklen Dunststreifen war da nichts zu sehen.
Es war ein Summen, ein Sirren oder auch ein Brausen, je nachdem, wie man es auslegen wollte. Sie hatten aber keinen Bezug zu dem Geräusch und konnten es sich nicht erklären.
„Das muß Wind sein, der sich nähert“, sagte Old Donegal in die Stille hinein. „Leicht brausender Wind aus Norden.“
Normalerweise hätte seine seltsame Ausdrucksweise ein Gelächter ausgelöst. Diesmal blieb jeder ernst, denn genauso hörte sich das eigentümliche Geräusch an.
„Ähnlich wie bei einer heranfegenden Bö“, sagte Hasard nachdenklich. „Man hört sie, kurz bevor sie einfällt. Jedenfalls bilde ich mir das immer ein.“
Sie aßen weiter, ließen die nördliche Kimm dabei aber nicht aus den Augen.
Da war jetzt ein dünner Strich zu sehen, eine feine dunkle Linie, die am Horizont stand und Himmel und Kimm verwischte. Der immer dunkler werdende Strich schob sich langsam an der Kimm höher, bis er auf eine Handbreite angeschwollen war.
Fasziniert und befremdet zugleich starrten sie zu dem seltsamen Phänomen. Niemand konnte es sich erklären.
Philip tippte auf ein heranziehendes Unwetter, zumal der Wind jetzt ganz schwach erneut die Richtung geändert hatte und aus nördlicher Richtung wehte.
Old O’Flynn verneinte ganz entschieden.
„Kein Sturm, kein Wind, auch wenn ich das eben noch gesagt habe. Es hörte sich nur danach an, ist aber doch etwas ganz anderes. Ich glaube, es kommt etwas auf uns zu, was wir noch nie erlebt haben. Achtet noch einmal auf das Geräusch. Es hat sich wieder verändert. Was hört ihr jetzt, wenn ihr die Ohren anlegt?“
„Ein Säuseln“, sagte Hasard.
„Und du?“
„Klingt eher nach einem Summen.“
„Ein Summen, das ist es“, sagte Old Donegal. „Die Luft ist weit voraus von einem kräftigen Summen erfüllt.“
Jung Hasard schluckte plötzlich. Sein Adamsapfel zuckte hoch und wieder runter. Seine eisblauen Augen wurden dunkel.
„Eine Tsunami“, flüsterte er. „Irgendwo gab es ein Seebeben, von dem wir nichts bemerkt haben, und jetzt erhebt sich am Horizont eine gigantische Welle, die durch das Arabische Meer rast. Das haben wir mal bei Hawaii erlebt, den Inseln der sieben Augen.“
„Ich weiß“, sagte Old Donegal gallig. „Aber das sah doch noch ein wenig anders aus.“
Sie rätselten weiter herum und gelangten doch zu keinem vernünftigen Ergebnis. Ein Naturereignis stand unmittelbar bevor, aber was das für eins war, vermochte keiner zu sagen.
Philip schloß mit der Feststellung: „Wir werden es bald wissen, und dann sind wir etwas schlauer.“ Aber diese Feststellung besagte auch nicht viel.
Das Frühstück wurde hinuntergewürgt. Was eben noch herzhaft geduftet hatte, schmeckte ihnen nicht mehr sonderlich. Die immer höher aufziehende und schnell dunkler werdende Wand schlug ihnen auf den Magen.
Eine Tsunami, eine gigantische Wasserfront, konnte es trotz aller Verneinungen von Old Donegal doch sein. Es ließ sich nur nicht erkennen, weil alles im Norden zu riesigen Schlieren verwischte.
In der Luft war das Brausen, Summen und Säuseln deutlicher geworden. Es war eine Geräuschkulisse, die alle möglichen Töne hervorbrachte. Die Wand breitete sich nach den Seiten aus und wurde dichter. Was anfangs noch braun gewirkt hatte, wurde jetzt schwarz. Der Himmel verfinsterte sich zusehends.
Sie hatten Sandstürme, Tsunamis, ausbrechende Fumarolen und wild heranrasende Taifune über sich ergehen lassen müssen, und doch war das, was da auf sie zurückte, immer noch mit nichts von allem vergleichbar.
Old Donegal griff bedrückt nach dem Spektiv, das sie auf der Karavelle gefunden hatten. Aber es war kein guter Kieker, und er sah damit auch nicht viel mehr als mit dem bloßen Auge. Ziemlich unwirsch legte er es auf die Planken.
„Mistding! Nichts zu erkennen! Aber die Front nähert sich jetzt immer rascher.“
Ungläubig blickten sie zum verschwundenen Firmament, das jetzt aus einer geschlossenen, fast schwarzen Decke bestand. Ein unheimlicher, riesiger Vorhang flatterte auf sie zu. Er mochte etwa drei Meilen breit sein, wie sie grob schätzen. Wie lang er war, ließ sich nicht erahnen, denn er zog eine gigantische Schleppe hinter sich her, die weit entfernt vom Land stammen mußte.
Das Geräusch ging jetzt an die Nerven. Es war ein pausenloses Sägen, Schwirren, Brausen und Dröhnen. Und es erfüllte See und Himmel mit diesem entnervenden Geräusch.
„Fiert die Segel ab“, sagte Old Donegal. „Ich habe so ein unheimliches Gefühl. Nehmt die Lappen weg, aber rasch. Wir lassen uns treiben, sonst fetzen uns die Plünnen noch davon, und wir haben keinerlei Reserve an Bord.“
Hasard und Philip gingen an die Arbeit. Die beiden Segel waren schnell abgefiert und aufgetucht.
Zu diesem Zeitpunkt herrschte bereits Dämmerlicht. Von der aufgehenden Sonne war nichts mehr zu sehen als ein trüber, verwaschener Schein aus milchigem Dunst.
„Um Gottes willen“, stöhnte Hasard plötzlich, als die Luft von einem häßlichen Kreischen erfüllt war. „Ich weiß, was das ist. Der Himmel möge uns beschützen.“
„Was ist es denn?“ fragte Old Donegal, dem das Entsetzen auf Hasards Gesicht nicht entgangen war. Der Sohn des Seewolfs war übergangslos blaß geworden. „Nun – was ist es?“
„Es sind die Zähne des Windes“, erwiderte Hasard tonlos.
Old O’Flynn starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren.
„Die Zähne des Windes?“ fragte er ungläubig. „Ich hab mich wohl verhört, wie? Was, zum Teufel, sind die Zähne des Windes. Diesen Ausdruck habe ich noch nie gehört.“
Hasard erklärte es ihm und sah, wie der Unterkiefer des Admirals wegsackte und er ihn entgeistert anstarrte.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.