Kitabı oku: «Das Flüstern Gottes», sayfa 2

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Der Kathedrale von Chartres darf man alles zutrauen. Alljährlich machen sich in Paris tausende Jugendliche auf den Weg. „Nur noch die Füße beten“, schrieb der Nobelpreisträger François Mauriac. Tief unten in der Krypta befindet sich die „Schwarze Madonna“. Wir gehörten zur jungen 68er Generation und trugen Kreuze, die Studentinnen flochten Feldblumen in ihr Haar. Nicht Bob Dylan sang, wir sangen Marienlieder.

3. Chartres

Das Pfingstwochenende 1969 war in Paris ein Ereignis. 15.000 Studentinnen und Studenten versammelten sich in der Frühe vor dem Bahnhof Montparnasse. Die Barrikaden des putschartigen Monats Mai des Vorjahres waren noch nicht vergessen, und doch schien alles ganz anders. Keine Demonstranten skandierten auf den Straßen, keine roten Fahnen und weltrevolutionären Spruchbänder. Keine „Internationale“ erschallte, niemand erhob die Faust. Weder Schlagstöcke noch Wasserwerfer, noch Tränengas. Es war kein Aufmarsch, sondern eine friedliche Abfahrt im Regionalzug, der die Wartenden hinüber nach Palaiseau ins Département Essone bringen sollte, dem Wohnort des Dichters Charles Péguy. Er war hier im Sommer 1913 zu einem Abenteuer aufgebrochen, das über ein Jahrhundert hinaus Folgen haben sollte. Péguy hatte ein Gelübde für die Heilung seines schwer kranken Sohnes abgelegt und pilgerte zur Schwarzen Madonna in der Kathedrale von Chartres. 100 Kilometer in glühender Hitze, vier Tage hin und zurück über Nationalstraßen, Dorfplätze und Bauernpfade. Es war ein erschütternder Pilgerweg in der Einsamkeit. Bald danach brachen befreundete Dichter und Künstler auf. Es folgten das junge Frankreich und seine europäischen Freunde.

Péguy war einer der ersten, der im September 1914 in der Marneschlacht durch einen Kopfschuss fiel. Erst wenige Monate zuvor hatte er die Sakramente empfangen. Sein Tod löste nach dem Krieg neue Chartres-Wanderungen aus, der sich immer mehr Menschen anschlossen. Vor allem die Studenten der keineswegs religiös engagierten Sorbonne-Universität machten sich auf den langen Weg. Es herrschte Umbruchzeit: Die kurze, dramatische Lebensgeschichte des Dichters rüttelte auf, seine poetischen Hymnen an die Muttergottes von Chartres kannten die jungen Menschen auswendig, sie trafen auf eine labile Ruhe. Da waren die kaum beendeten Materialschlachten und die Milde der Muttergottes, die frischen Gräber der Soldatenfriedhöfe und dann die appellierenden Marienlieder, „jetzt und in der Stunde unseres Todes“. Damals wie heute waren junge Menschen unterwegs, statt Waffen trugen sie Kreuze und Kornblumen. Über die wogenden Felder der Beauce fuhr der heiße Wind.

Die Herzen waren aufgewühlt und ringsum in der weltanschaulich umkämpften Literatur hatte eine kaum für möglich gehaltene Bewegung begonnen, die „Katholische Erneuerung“ genannt wurde. Die Philosophen Henri Bergson und Jacques Maritain bereiteten das Feld gegen die kirchenfeindlichen Propheten der Aufklärung. Sie kämpften um das Herz des Menschen, das Wesen der Person gegen die alles erklärende Wissenschaft. Es kam zu Aufsehen erregenden Konversionen: Léon Bloy, Ernest Psichari, dann geriet der verarmte Sozialist Charles Péguy in den Sog wie schon zuvor Jan-Yoris Huysmans und bald Paul Claudel, Georges Bernanos, François Mauriac, Julien Greene oder auch der Maler Georges Rouault.

Wenn man es kritisch bedenkt, herrschte im Vorfeld der Katastrophen eines noch mörderischeren zweiten Weltkrieges so etwas wie ein literarischer Ausnahmezustand, eine Gotteszeit, die vor dem Aufmarsch von Kommunisten und Nationalsozialisten auch eine Marienzeit war. Das Sonnenwunder von Fatima ließ aufhorchen; in La Salette und Lourdes waren zuvor Aufsehen erregende Zeichen geschehen. Das Schreckliche stand dem Zarten gegenüber. Millionenfaches Blutvergießen und eine Kindern erscheinende „schöne Dame“. Letzte Worte bevor das Böse hereinbrach, zeitlos alles Unheil übertreffend.

Als wir an jenem Tag im Mai 1969 mit Rucksack und Wanderschuhen zur Kathedrale von Chartres aufbrachen, waren wir dreißig Studenten der Technischen Hochschule Aachen, die sich unter die internationale Pilgergemeinschaft mischten. Auch Juden, Moslems und Buddhisten gehörten ihr an, die „nur einfach mitsingen“ wollten … Über das Leben Péguys, die literarischen Zusammenhänge oder das vollendete Gesamtkunstwerk Chartres wussten wir nicht all zu viel. Doch gab es Andeutungen. Da hatte ein armer Poet für sein sterbenskrankes Kind seine Knochen hingehalten und sich nach einem zweitätigen Leidensmarsch vor die Schwarze Madonna geworfen. Unsere Abenteuerlust sollte nicht enttäuscht werden, es gab keine romantischen Auswege mehr. Jeder Schritt wurde zu einem Gebet, François Mauriac schrieb: „Wir können nicht mehr beten, nur unsere Füße beten.“ Hunderte Male „Ave Maria“ zu singen, hatte sich niemand vorstellen können, jetzt floss der Gruß des Engels von unseren Lippen, die Perlen des Rosenkranzes wurden zu einem Halt, wenn der Horizont der immensen Felder keinen Blick auf eine Ankunft preisgab.

Neben mir marschierten ein schwer atmender farbiger Priester aus Princeton und zwei deutsche Studenten der protestantischen Theologie, die, wie schön, am berühmten Pariser „Institut Catholique“ Sonderkurse belegten. Kamen die Gespräche, verwiesen die jungen Deutschen immer wieder auf „das Schweigen Gottes“. Sie hatten viel Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth gelesen und erkannten im schweigenden Gott nach all den Katastrophen des Jahrhunderts endlich eine Chance für das Eigentliche. Allein die Stille Gottes. Gott allein. Hier wirkte existenzieller Tiefgang, konfessionelle Unterschiede verblassten. Ich hatte mich in Aachen an kalten Wintertagen mittags in die Bibliothek der Protestantischen Theologie mit den Büchern von Oscar Culmann und Louis Bouyer zurückgezogen. Es waren Entdeckungen. Luthers Marienverehrung beeindruckte. Frère Roger Schutz´ zeichenhafter ökumenischer Aufbruch in Taizé faszinierte. Jetzt, auf der staubigen Straße nach Chartres, zwischen Mariengebeten mit der ernsten Gottsuche der beiden Deutschen konfrontiert zu werden, war ein Freiheits-Erlebnis, das für immer geblieben ist. Hier herrschte eine strenge, schnörkellose Frömmigkeit, die sich, aller dogmatischen Finessen und Kleingläubigkeiten ledig, an einen „nackten Gott“, an einen Schmerzensmann richtete. Péguys Worte ließen keinen Zweifel: „Wir gehen hier nicht aus Tugend, denn wir haben keine. Nicht aus Pflicht, wir mögen sie nicht. Wir sind wie ein Schreiner, der seinen Kompass auf die Mitte seiner Misere richtet, hinein in die Achse seiner Verzweiflung. Aus dem Bedürfnis, noch unglücklicher zu sein und das heftige Böse zu ertragen.“

Das sind starke Worte in einem „Gebet des Vertrauens“, das der Dichter auf dem Vorplatz der Kathedrale von Chartres niederschrieb. In der Weltliteratur eines der schönsten Gedichte über die überwundene Versuchung. Hier spricht eine Gottesnähe, die aus großer Not stammt. Mehr noch als sein krankes Kind, mehr noch als seine finanzielle Misere quälte ihn, dass seine Frau seiner Bekehrung zur katholischen Kirche nicht folgen konnte und er aus Rücksicht dem Empfang der Sakramente fernblieb. Schlimmer war jedoch seine Liebe zu der jüdischen Studentin Blanche Raphaêl, eine leidenschaftliche Versuchung, von der er in den Feldern beim ersten Blick auf die Türme der Kathedrale erlöst wurde. „Hier“, so schrieb er in sein Tagebuch, „kann sich der Mensch nicht mehr vor Gott verstecken. All meine Unreinheiten verschwinden mit einem Schlag.“

Die einsame Seele und der grenzenlose Himmel: das ist Chartres immer noch.

Den langen Weg haben wir alle wie eine Verklärung „auf rauen Wegen zu den Sternen“ gespürt. Die Eucharistie erlebten wir auf einer Waldlichtung im strömenden Regen. Die Monotonie des Marsches verwandelte sich in eine sehnsüchtige Melodie. Wurde der Schmerz stark, erschienen die erneut auftauchenden Türme wie eine Verheißung. Wir wurden geführt, kein Raum mehr für Kindheitsphantasien und Grübeln über meine erschütterte monastische Berufung. Aber welches Glück dabei zu sein: „Gott allein“ war geblieben. Kein Zweifel, er sollte für immer bleiben. Jetzt, als wir uns im Abendrot unter kräftigen Glockenschlägen dem Portal näherten, spürten wir, wie sehr der Schweigende in der Emotion der Ankunft anzog. In Stein geschlagen das Geheimnis der Menschwerdung, Christus der Herr der Geschichte, Maria als Schmerzensmutter und Sitz der Weisheit, Hiob als Zeichen der Passion, die Symbole der Evangelisten, Engel, Adler, Löwe und Stier. Immer wieder David, auch nach dem Ehebruch mit Batseba. Alle Zeugen der Heilsgeschichte, begreifbar und greifbar. Das Steinalte trägt das Herrlichneue auf den Schultern.

Ein Einzug, wie man sich das Ende der Himmelfahrt vorstellen darf. 176 durch die Zeiten vor Zerstörung und Flammen gerettete Glasfenster im „Chartres Blau“, unnachahmlich das Schweigen im Licht eines flutenden Flüsterns. In der Tiefe eines Labyrinths der gallisch-römische Brunnen der „starken Heiligen“. Und dann endlich die „Liebe Frau unter der Erde“, die Schwarze in der Nische, allen Gebetsbestürmungen seit Jahrhunderten ausgesetzt, in Birnbaumholz geschnitzt ein mildes Lächeln. Keine Not mehr, nur noch die Wucht der Stille.

Der ehemalige Kölner Philosophie-Student Gabriel Bunge hat einen langen Lebensweg hinter sich. Wege und Umweg, doch immer wieder angefacht von der Sehnsucht: das Heilige und den Heiligen berühren. Der Protestant wechselte zur katholischen Kirche, wurde Benediktiner-Mönch in Meschede und Chevetogne, zog als Einsiedler in die Tessiner Berge und schloss sich schließlich der russischen Orthodoxie an. Ich bin sein ältester belgischer Freund.

4. Der Einsiedler im Kastanienwald

Die Begegnung mit Gabriel lag an einer Schnittstelle meines Lebens. Der Wunsch, selbst ins Kloster einzutreten, scheiterte am Druck meines Elternhauses und an meiner Unfähigkeit eines geduldigen Widerstands. Zugleich begann die Studienzeit, nach all den Bedrängnissen so etwas wie die große Freiheit. Alles sehr bewegende Jahre, den Stürmen und Verlockungen des Mai ´68 ausgesetzt, eine Zeit der Liebschaften und Freiheitsillusionen, fern von Gott, doch er nicht von mir.

Mein Freund, der Mönch Gabriel, den ich im Herbst 1963 im Garten des belgischen Benediktinerklosters Chevetogne kennengelernt hatte, übernahm in dieser Zeit die Rolle eines „Schutzengels“. Allein schon sein Name: Gabriel, das ist der Engel der Verkündigung, ein Mitwisser des Geheimnisses der Menschwerdung und sein stiller Bote. Dieser Engel ist ein konspirativer Gesandter. Das, was er zu sagen hat, kommt leise und kurz gefasst. Seine letzten Worte zur erschütternden Sache der angekündigten Schwangerschaft: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich.“

Fast vierzig Jahre lang war Gabriels Mitleidenschaft von einer großen Diskretion und allein auf das Wesentliche konzentriert: „Lass dich von Gott wieder finden.“ Dieser Schutzengel im schwarzen Mönchsgewand waltete mit stiller Hand an den zunehmend dramatischen Standorten meines Lebens. Zugleich öffnete er in der Zeit des II. Vatikanischen Konzils den Blick auf die Schönheit der Weltkirche.

Auf den Waldwegen von Chevetogne sprach er zum ersten Mal die Begriffe „christlicher Orient“ und „Wüstenväter“ aus. Die Namen der protestantischen Theologen Karl Barth oder Dietrich Bonhoeffer wurden mir vertraut. Es war eine der Ökumene verpflichteten Kirche des Mutes und der Demut. Das Katholische war nicht der Name einer Konfession, sondern das „katholos“, das Heilige und Ganze umfassend. Gabriel liebte den Begriff „pneuma“ und nannte ihn den „Anhauch Gottes“. Seine einsamen Gebete galten einem schweigenden, einem leisen, einem flüsternden Gott.

Im frankophil ausgerichteten Kloster bildete er eine ernsthafte deutsche Ausnahme. Erst wenn das Vertrauen gesichert war, leuchtete er auf, mehr weise als wissend und bisweilen von einem lebensfrohen kölschen Humor. Dann lächelte er: „Et hätt noch emmer joot jejange …“ Er stammte aus einem wohlhabenden protestantischen Elternhaus. Für die Konversion zur katholischen Kirche forderte sein Vater eine angemessene Wartezeit. Dann trat er gleich in die westfälische Abtei Meschede ein, bevor eine Griechenland-Reise sein Interesse für den christlichen Osten weckte und er zu den ökumenischen Benediktinern nach Chevetogne wechselte: zwei Riten unter einem Dach, die lateinische und die orientalische Liturgie.

Von ihm selbst wusste man nicht viel mehr, als dass sein ganzes Interesse den „Vätern“ galt, den in den ägyptischen Wüsten im 3. und 4. Jahrhundert versteckt lebenden Asketen. Radikal auf Gott ausgerichtete Sucher, darunter auch zur Heiligkeit strebende ehemalige Räuber, Huren und Ehebrecher. Über deren Schriften entwickelte er sich zu einem großen Kenner. Seine Entdeckungen betrachtete er mitunter als „ganz kostbare Sachen“, mit denen man sich allerdings „nicht auf die Bühne stellt“. Als sein Abt ihm zunächst den Rückzug als Einsiedler verweigerte, sah er sich einem schmerzlichen Kampf ausgesetzt. Dass man ihn dahinein tragen würde, hatte er nicht erwartet, dass es jedoch so schlimm kommen würde, gehört zu seinen persönlichen Erfahrungen der Erniedrigung, der Heimsuchung und des Sich-leer-Machens. Sein Weg in die Wüste, allein mit Gott, war raue und harte Realität.

Erinnerungen an meine ersten Besuche oben im Kastanienwald: Er hatte dort einen jener kleinen Ställe bezogen, in denen die Bergbauern im Herbst ihr Vieh zusammentrieben. Alles war noch zu richten. Der Wind pfiff durch die Ritzen. Die Winter waren schlimm. Da saß er in seiner engen Zelle, ein Büchertisch und ein Bett, nebenan hinter einem Sackvorhang die kleine Kapelle, wo wir vor den Ikonen am Stehpult die Psalmen beteten. Einzelheiten über Nachtwachen und andere asketische Übungen kamen nicht zur Sprache. Nie ein Wort der Klage, vielmehr bei ihm, dem Meister im Editieren frühchristlicher Texte, keine weißen Schreiberhände mehr, eher eine ungewohnte Seite des Handwerkens und Anpackens. Holzhacken, Garten- und Küchenarbeit neben langen Liturgien, Stunden- und Nachtgebeten.

Noch hagerer wurde er, im Laufe der Jahre auch etwas gebeugt. Der lange Bart eisgrau, wüstenväterlich. Über der Stirn das schwarze Kopftuch mit dem kleinen gestickten roten Kreuz. „Wenn man dieses Leben liebt“, sagt er rückblickend auf all die Prüfungen der langen Einsiedlerjahre, „kommt einem der Preis gar nicht sonderlich hoch vor.“ Die einsame Zeit hatte ihn für das Alleinsein mit Gott gestärkt.

Doch war da auch eine andere Entdeckung. Sie hat wesentlich mit dem Namen des um 345 geborenen Eremiten Evagrios Pontikos zu tun, der sein Lehrmeister wurde. Die Anziehung durch den Osten wurde stärker. Evagrios war eine der großen Hoffnungen der frühen Kirche. Seine verheißungsvolle Karriere fand allerdings ein abruptes Ende, als er von der Passion der Frau eines hohen Beamten verfolgt wurde. Er floh nach Jerusalem und entschied sich nach einer kuriosen Krankheit für das Mönchtum. Das war damals gleichbedeutend mit dem Auszug aus „der bewohnten Welt“. Nach zwei Jahren auf einem Berg in der Wüste Nitra südöstlich von Alexandria zog er sich für den Rest seines Lebens 18 Kilometer weiter in die noch strengere „Kellia“ zurück, wo er am orthodoxen Weihnachtsfest, der Epiphanias, im Jahr 399 starb.

In den Besuchszeiten empfängt der Einsiedler Gabriel zahlreiche Hilfesuchende. Immer wieder überrascht ihn die Ehrlichkeit von Menschen, die mitten im Leben stehen. „Da legt man die Hand auf den Mund, ja, und wird bescheiden.“ Die Demut der beichtenden, sogenannten einfachen Leute ist für ihn eine große Schule. Er vermisst diese Ehrlichkeit und Demut in der Kirche, hinauf bis in höchste Ämter. Da bahnt sich ein schwerer Konflikt an, der trotz seiner guten Beziehungen zu verschiedenen Kardinälen zu seinem Übertritt zur russischen Orthodoxie führt. Die russischen Freunde umarmen ihn von Herzen. Seine Taufe wird im Fernsehen gezeigt. Ich habe ihn selten so glücklich gesehen.

Auch in seiner neuen Funktion als Archimandrit vertraut Gabriel seiner spirituellen Erfahrung sowie dem illusionslosen Zeugnis der Väter. Die „Gedanken“ nennt er „Einfallschneise und Kampffeld des Dämonischen, des großen Widersachers und seiner Einflüsterungen“. Er wundert sich über den Aufwand, den die Medien um Satanismus, Okkultismus oder Besessenheit treiben, die Schriften der alten Väter seien konkreter und nüchterner: Eigenliebe bezeichnen sie als „Alleshasserin“, deren Angriffe lehren, dass „dahinter jemand die Drähte zieht“. So hat er gelernt, dass auch im Mönchtum niemand sicher ist, Antonios der Große mahnt, mit Versuchung zu rechnen „bis zum letzten Atemzug“. Gabriel kennt schreckliche Lebensläufe von Mitbrüdern, die in den Gossen der Städte endeten. „Wenn man allein lebt“, sagt er, „werden diese Dinge klarer“. Das ist der Sinn des Lebens der Einsiedler, dass man das Beherrschen lernt „und mit Gottes Hilfe, soweit das in diesem Leben möglich ist, befreit wird“. Was ich von ihm gelernt habe? Beten. Der Ort Gottes ist der Ort des Gebetes, er steht allen offen. Er ist der Zustand innerer Stille, der Herzensstille: Gott alles in allem.

Auf einem 2000 Meter hohen Berg in Nordgriechenland liegt das Ende der Welt. Mehr als tausendjährig, kaum erreichbar. Hier ist alles anders: die Zeitrechnung, die Nachtwachen, das Frauenverbot, das Fasten und das Schweigen der Mönche und Einsiedler. Sie sind so gerade noch in der Welt, jedoch nicht von der Welt. Für manche ist es sogar schon der Vorgarten des Paradieses. Von 1975 bis zur Jahrtausendwende habe ich den Athos fünf Mal besucht. Tagelange Märsche von den Großklöstern Dionysiou und Große Lawra bis zur stürmischen Kapregion der Eremiten. Lauter Abenteuer.

5. Athos, der Heilige Berg

Seit meiner Freundschaft mit Gabriel hat mich mein Interesse für die Ostkirche nicht mehr verlassen. Ich wollte sogar übertreten, doch der orthodoxe Aachener Bischof Ephmenios lehnte es freundschaftlich ab. Statt Taufwasser schenkte er mir eine Flasche Ouzo. Die Anziehung des östlichen Christentums blieb. Dann entdeckte ich die Reiseerzählung von Erhard Kästner „Die Stundentrommel vom Heiligen Berg Athos“: unwiderstehlich. Am 21. April 1970 landete ich mit zwei Freunden in Thessaloniki.

Punkt zehn legt das Fährschiff „Axion Estin“ mit einem klagenden Hupsignal im kleinen Fischerdorf Ouranoupolis ab. Sein Kurs: Karyes, der Hafen des Heiligen Berges Athos, dem Mönchs- und Einsiedlerreservat am östlichen Finger der griechischen Halbinsel Chalkidiki. Schöner denn je krümmt sich der grüne Bergrücken die Steilwände empor. Es ist Mitte April, überall verschwenderisches Blühen. Bald treibt Seewind durch die Eichenwälder der russischen Klosterruine von Chromitsa und gibt den Blick auf den Gipfel preis. Auf knapp 2000 Meter funkeln die letzten Schneefelder. „Aghion Oros“, die mythische Höhe, das Heiligtum der Orthodoxie.

Die Stunde der Ankunft hat magische Kraft. Seit zwei Jahren habe ich sie herbeigefiebert. Der Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Erhard Kästner über den Athos hat mich fasziniert. 1963, zum 1000-jährigen Bestehen, schrieb Irenäus Doens ein Mönch aus Chevetogne eine zweibändige Bibliografie, einen besseren Berater konnte ich nicht haben. Seine Empfehlungen für das komplizierte Einreiseverfahren waren wie eine kostenlose Eintrittskarte. Einmal durch die Kontrollen der Passbehörde begann ein Abenteuer, eine Reise zurück ins Mittelalter.

Das Hochfest des Athos ist am 1. August der Verklärung Jesu geweiht. Der Evangelist Matthäus berichtet, dass der Herr den drei Jüngern Petrus, Jakobus und Johannes in einem blendend weißen Kleid erschien, sein Gesicht leuchtete wie die Sonne. Die mysteriöse Szene erschüttert die Mönche bis zum heutigen Tag. Bereits am Vortag des Festes steigen sie auf den Berg und warten die Nacht über auf das erste Schimmern des Morgenrotes am östlichen Himmel. Dann brechen Schreie aus, die Jüngsten klettern auf das Gipfelkreuz. In der aufsteigenden Sonne erscheint der Herr … Jetzt werfen auch sie sich mit dem Gesicht zu Boden, die Arme ausgestreckt in Kreuzesform küssen sie die Erde.

„Proskynensis“, so lautet der Name dieses aus dem alten Orient stammenden Rituals, das nicht mehr als Ehrerbietung den Königen und Mächtigen gilt, sondern als demütige Liebesbezeugung für den im Gebirge flüsternden Gott. Es ist eine einsame nächtliche Gebetsübung, die je nach sportlicher Form dreißig bis fünfzig Mal wiederholt wird.

Im nächsten Kloster, dem des heiligen Paulus, schrecken wir auf. Schwer schlagen die Körper auf den Boden der Zellen. Vor Mitternacht ertönt das Geklöppel des „Simandrons“, einem Holzbrett, auf dem ein Mönch unablässig in wechselnden Rhythmen hämmert und so über die Treppen und Balkongänge schreitet. Niemand entkommt dem Weckruf: Eine aufrüttelnde Ouvertüre der Vigilien, die bis zum Morgengrauen andauern.

„Die Nacht leuchtet wie der Tag“, so singen sie aus den Psalmen. Im Kloster Stavronikita ist die Kirche rund und klein. Das Holzgestühl von Jahrhunderten geschliffen, im Halbdunkel die wehmütig prüfenden Blicke der Heiligen auf den Ikonen, von Kerzenschein umzittert, die Bücher in altgriechischer Schrift auf dem Drehpult, die Fresken der Fürsprecher und Märtyrer an den hohen Wänden. In der Kuppel die allheilige „Panaghia“, die Jungfrau Maria, ringsum die Apostel, vorzugsweise jedoch der enthauptete Täufer Johannes nahezu surreal mit seinem Kopf in der rechten Hand. Alle umgeben von den Weissagungen der Propheten und den Tänzen schwebender Engelsscharen.

Die Gesänge haben mit dem gregorianischen Wohlklang des Nachtoffiziums unserer Zisterziensermönche nichts gemeinsam. Hier alterniert die Stille mit dem atonalen Gemisch von Schreien und dem Seufzen tiefer Stimmen. Es ist ein Sound aus der Einsamkeit, die sie sich vertraut gemacht haben. „Ich werde dich in die Wüste entführen“, singen sie aus dem Buch Hosea, „und dort zu deinem Herzen sprechen“. So wirbt der Verratene um seine begehrte treulose Frau mit Worten großen Verzeihens.

Im Wechsel einer Choreografie vergehen die Stunden. Vor den Ikonen und Altarnischen werden die Kerzen angezündet und wieder gelöscht, dann zieht der Zelebrant mit dem Weihrauchfass durch das enge Rund, alles mit dem dichten Nebel dämmernder Gottesnähe umhüllend. Sie werfen sich nieder und erheben sich mit Gesängen der Sehnsucht. Eine mysteriöse Hand führt Regie, ein Vater mit grauem Greisenbart, unablässig bekreuzigt und segnet er. Das macht den Zauber dieser Stunden aus: Im Uralten herrscht Naherwartung! Lesen sie aus den kaum verschlüsselten Ansagen des Propheten Isaias, tönt es weder nach Erinnerung noch Verehrung, sondern nach unmittelbarer Mobilmachung. Gott ist der große Gegenwärtige. Es waltet die Kunst der Stille, um ihn besser zu hören. Irgendwie herrscht Eile, denn es könnte sein – wer weiß schon den Tag und die Stunde? –, vielleicht kommt ihr „Christos, Christos, Christos“ noch in der zu Ende gehenden Nacht. Es gilt die schnelle Einsatzbereitschaft, das schlaflose Wachen.

Im ersten Morgenlicht folgt die Heilige Liturgie, die Eucharistiefeier, das zentrale mystische Ereignis. Es ist ein anderer Klang, die Sehnsucht erreicht den Höhepunkt. Die Gewänder wechseln, Weiß mit Blut überzogen, das sind apokalyptische Farben. In einer Prozession ziehen die Väter durch die Kirche, die Gefäße der Opferung zeigend. Bald tritt eine große Stille ein, sie dauert an, denn sie möchten Gott hören. Ich spüre, es ist keine kurze Pausenstille. Man wartet auf einen Schlussakkord, der zunächst nicht kommt. Dann und wann ein Lispeln der ganz Alten.

Als sich das eisenbeschlagene Portal öffnet, strömt das frühe Morgenlicht herein, es ist wie eine Entzauberung. Die Kerzen erlöschen, die heiligen Bücher werden zugeschlagen, wie Dunst entschwindet der Weihrauch nach draußen. Von den Rosenstöcken tröpfelt der Tau. Ich atme auf, selten war die Frühe so rein. Nicht genug davon, umgeben von Meeresstille nur noch Herrlichkeit.

Es ist sieben Uhr, die Väter ziehen in Zweierreihen in die gegenüberliegende „Trapeza“, den Speisesaal, wo mit allem, was der Berg und die See zu bieten haben, aufgetischt ist. Fische in Öl, Salate, Artischocken, Gurken, Bohnen, Weinblätter, Käse und frisches Brot. Dazu fließen Wasser und harziger Weißwein, der Retsina, er darf nicht fehlen. Ich habe ihn besonders genossen, eiskalt und spritzig.

Die Namenstage der Heiligen und der Märtyrer sind hohe Festtage. Fastenzeiten gibt es mehrmals im Jahr. Heute ist der Festtag des heiligen Märtyrers Andreas. „Gib dein Blut und du erhältst den Geist“, so liest der junge Lektor aus den Weissagungen der Wüstenväter, während sich die Mönche blass und bärtig über das Frühmahl beugen und die Weinbecher heben. Wir sind im Kloster Grigoriou. In den folgenden Jahren kehrten wir immer wieder hierher zurück und entdeckten an den Küsten große und kleine Stätten der Beter.

Der Weg hinauf ins Kloster Megiste Lawra ist steinig. Während fünf Stunden geht es auf engen Pfaden durch die Macchia. Ich bin nicht geübt und leide. Manchmal ist es ein Kampf, mein Vorbild Kästner hat ihn verschwiegen. Oben die Marmorfelsen der Gipfelwände, unten das Meer, azurblau, unruhig. Der heilige Johannes Kolobos schrieb im 4. Jahrhundert illusionslos, das Mönchtum sei „nichts als Mühsal“. Doch scheint es hier auf dem Athos eine verwandelnde Mühsal zu sein, sie kann hinauf in mystische Höhen führen, jedoch auch in dämonische Abgründe. Niemand bleibt verschont, beides sind Spielarten aufsteigender und abstürzender Gottesnähe. Sie wird nicht selten begleitet von einem visionären oder erschütternden Umfeld. Es hat mich ergriffen. Die Mönche, vor allem die entrückten Einsiedler, erfahren es ungerührt. Was auch geschieht, eine Heiligenerscheinung im Zwielicht der Gipfelregion oder der Tod eines jungen Mitbruders, für alles haben sie eine spontane Erklärung bereit: Es lag an der Erinnerung an einen im Ruch der Heiligkeit Gestorbenen oder am Fluch eines Abgefallenen, am Festtag der heiligen Erzengel oder am Leiden eines erblindeten Malermönchs.

Ich selbst machte andere Erfahrungen: Während der ersten Klosternacht in Karyes erschreckte mich ein Albtraum des Missbrauchs durch einen frommen Priester. Im ärmlichen rumänischen Kloster Prodromou waren auf den Außenwänden des „Katholikons“ grausigste Folterszenen abgebildet, während der Nacht heulten vor der dreifach verriegelten Pforte die Wölfe. In Hagi Anna bat mich ein Einsiedler, nicht in die Ostervigil zu kommen, sondern einen todkranken Vater zu betreuen. So verbrachte ich die Nacht neben dem Sterbenden. Nackt lag er auf seinem Bett, der Blasenkatheder zwischen den dürren Beinen, stöhnend und mich, den Fremden, mit großen Augen anblickend. Es war eine blitzartige Gotteserfahrung, die mir die Furcht vor diesem armen Mann nahm. War nicht ich der Kranke und er der Überlebende?

In der linken Hand hielt er einen aus schwarzer Wolle geflochtenen Rosenkranz für das auf dem Athos seit Jahrtausenden geübte Herzensgebet: „Herr Jesus Christus, erbarme dich unser, der Sünder.“ Ein- und ausgehaucht zieht es durchs Herz und trägt dich hinaus. Es war Ostern. Als in der Frühe die Glocken in heftigem Rhythmus schlugen, flüsterte der Sterbende mit trockenen Lippen: „Christos anesti!“ Der Herr ist auferstanden! Die ersten Sonnenstrahlen fielen vom Berg herab.

Tief unten an der Anlege wartete ich auf das erste Boot, das vom Athos-Kap heran tuckerte. Das Meer schäumte, selbst die See war ausgelassen. Dann kreuzten wir, vorbei an den Klöstern Dionysiou, Grigoriou und Simonos Petras, mit Kurs auf das Rossikon, dem mächtigen Kloster Panteleimonos der Russen, von denen 1917 vor der Revolution noch zweitausend Mönche hier lebten. Jetzt waren es in der letzten Bastion des heiligen Russland nur noch zwölf bärtige Steinalte in ärmlichen Kutten.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sind junge Russen in ihr Heiligtum zurückgekehrt und haben damit begonnen, das zerfallende Klosterdorf wieder aufzurichten. Ihren spirituellen Antrieb verdanken sie einem heiligen Mönch, Siluan, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem Schuppen das einfache Leben eines Arbeiters führte und dennoch in seinen Gebeten auf mysteriöse Weise die großen Fragen seiner Zeit berührte. In seinem Dorf galt der ehemalige Schreiner als Lebemann, den Frauen und dem Wodka verfallen, bei einer Schlägerei einen Kameraden lebensgefährlich verletzend. Auf dem Athos, den er als „heilige Flamme“ empfindet, geht es ihm nur noch um die „Liebe für die Welt und ihre Rettung“. Er möchte der elendste und letzte aller Sünder sein. Nach heftigen Dämonen-Attacken und einer Christusvision beginnt er einen „inneren Abstieg in die Hölle“, um den allverzeihenden, liebevollen Blick des Herrn „festzuhalten“. Siluans Lebensfrage: „Wie bleibe ich in der Gnade?“ Es wird ein Ringen zwischen Frieden und der Qual um das „verlorene Paradies“, bis ihm auf die entscheidende Frage, was er tun soll, um demütig zu werden, die Antwort zuteil wird: „Halte dich mit Bewusstsein in der Hölle und verzweifle nicht.“

Das habe ich noch zu lernen. So ist der Athos: Umgeben von Abgründen zieht er in geistliche Gipfelregionen. Im Schweigen der Gottesnähe werden brutale Kämpfe „mit offenem Messer“ ausgefochten und die Gnade des „unerschaffenen Lichtes“ geschenkt. Von allem getrennt, doch mit allen verbunden, lehrt der 73-jährige Einsiedler Dimitri, den ich oben im Kastanienwald treffe. Er gleicht einem Clochard: struppig, langes ergrautes Haar, Kleiderfetzen, Holzsandalen. Tatsächlich hat der gebürtige Franzose Jahre lang in einer Hafenbar von Mykonos als Kellner gearbeitet. Den Sirtaki-Schritt von Alexis Sorbas beherrscht er noch, und „Jesus was a sailor …“ brummt er, den Song von Leonard Cohen.

Die Zeit ist hier oben wild geblieben, vor allem wenn er nachts von den Dämonen heimgesucht wird. Sie sind ihm vertraut, er könnte sie beim Namen nennen, neben seinem Gebetspult steht tatsächlich ein Knüppel. Als ich lächle, warnt er: „Du hast keine Ahnung.“ Er sagt es in einem überraschend heftigen Ton. Über sein Gesicht kullern Tränen, er schämt sich ihrer nicht und nennt sie „Taufwasser, Segenstropfen“, die sein „Steinherz“ aushöhlen. Nie habe er in seinem Leben so viel geweint wie auf dem Heiligen Berg. Er spricht von einem „Geschenk des Glücks“. Ich blicke ihn etwas ratlos an als er sagt: „Im Dank kann nur der stehen, der gefallen ist.“

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