Kitabı oku: «Ich habe sieben Leben»

Yazı tipi:

Ein argentinisches Sprichwort lautet: Katzen haben sieben Leben. Am 31. Dezember 1956, nach Beginn der kubanischen Guerilla, telegrafierte Ernesto Guevara an seine Eltern: »Meine Lieben: Es geht mir gut. Habe zwei ausgegeben, es bleiben mir noch fünf.«


... habe zwei ausgegeben, bleiben noch fünf

Frederik Hetmann

»Ich habe sieben Leben«

Die Geschichte des Ernesto Guevara, genannt Che

Fotografik von Günther Stiller

FUEGO

Über dieses Buch

Che Guevara - Plakat, T-Shirt, Geschäft, Hollywood-Film - oder - Bürgerschreck, Don Quijote, Guerillero mit Heiligenschein, Erlöser, Jesus Christ.

Che - ein zum Plakat erstarrter Held? Einmal muss da ein Mensch gewesen sein. Aus Materialien, die der Autor Frederik Hetman in Europa, Nord- und Südamerika zusammengetragen hat, entstand eine umfassende Biografie, die Aufschluß über Kindheit, Jugend, das Leben und die Absichten dieses südamerikanischen Revolutionärs gibt.

Ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendbuchpreis 1973


... ist ein Plakat

Anrufung

Che Guevara - das ist ein Plakat! Che Guevara - das ist ein Transparent! Che Guevara - das ist ein Poster! Che - das war der Aufschrei der Studenten, die in Berkeley, Berlin, Paris und Rom untergefasst durch die Straßen rannten und von der Polizei zusammengeschlagen wurden.

Che, dieses Schwein, sagte ein Lehrer zu einem Siebzehnjährigen, und der Siebzehnjährige dachte ungerührt: Ich verehre ihn.

Che - das war der als Bürgerschreck verbreitete Satz: Schafft drei, vier, viele Vietnam.

Che - das war Krimi und Pokerspiel.

200.000 Dollar für das Bolivianische Tagebuch bot Andrew Saint Georges in La Paz für die Magnum-Gruppe, und Michele Ray von Paris Match erhöhte auf 400.000.

Che - das war der ägyptische Hollywood-Star Omar Sharif, Schnurrbartträger, der sich einen Vollbart wachsen lassen musste, um Che in einer Filmschnulze zu mimen, die rasch auf den Philippinen abgedreht wurde.

Che - das war der Duft gefährlichen Lebens, der müde Männer wieder munter machte.

Che - das war der Vorwand für Sodomie und Päderastie auf der Bühne und abermals ein Geschäft.

Che, Sankt Che, mit dem Heiligenschein und dem Habitus der Guerilleros - das war der säkularisierte Jesus Christus; erlöse uns von der Ausbeutung, der Sklaverei und der Verelendung, die wir über die Dritte Welt gebracht haben; erlöse uns von den Napalmopfern, diesem letzten Konsumartikel des Kapitalismus.

Che - das war Don Quichotte, der noch einmal satteln ließ im 20. Jahrhundert.

Che - das war Régis Debray, der nach endlosen Verhören, Folterungen und vierjähriger Haft in Camiri, kaum dass er in Chile eingetroffen war, erklärte: »Meine bescheidene Rolle in Zukunft - es heißt, Guevaras Erbschaft anzutreten.«

Che ... einmal muss da ein Mensch gewesen sein.

Kindheit

Die Mutter, Celia de la Serna, wird als Mädchen »La Rebelda« genannt. Sie gilt als eine der schönsten und reichsten Erbinnen von Buenos Aires. Sie besitzt Tausende von Hektar Weideland und riesige Rinderherden. Sie ist mit 17 in Paris gewesen. Nach dem Tod ihrer Eltern hat sie einen Vormund und Anstandsdamen, wie sie die gesellschaftliche Konvention fordert, abgelehnt. Sie soll die erste Frau in Argentinien gewesen sein, die ein eigenes Bankkonto besaß. Sie trägt die Haare kurz geschnitten. Sie begeistert sich für marxistische Ideen.

In Argentinien verdient man in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts das große Geld mit Fleisch. Die Gauchos reiten. Das Lasso fliegt. Staubwolken und Gitarrengeklimper. Aber wie ist es wirklich? Celia will es wissen.

Die Rinder werden in die Gasse getrieben. Am Ende der Gasse erwartet sie unverhofft der Tod: zwei Bolzen, die sich von der Seite her in den Schädel der Tiere bohren.

Celia beobachtet den Mann, der mit einem Fingerdruck diesen Bolzen betätigt. Ein gutmütiges Indianergesicht grinst sie an.

Die Kadaver treiben auf dem Fließband davon. Sie werden zerlegt, eingefroren oder in Dosen verpackt und nach Europa exportiert.

Celia sieht die Männer mit Sägen und blutverschmierten Schürzen umhergehen. Sie spürt den leicht süßlichen Geschmack von Blut auf der Zunge.

Am nächsten Tag erzählt man im Jockey Club, dem Treffpunkt der High Society von Buenos Aires, dass »La Rebelda« allein die Schlachthöfe besucht habe. Trotz, oder vielleicht gerade wegen solcher Launen, ist Celia umschwärmt von jungen Männern aus der Bohème und aus der Oberschicht. Zum Teufel mit diesen Gecken, die um sie schwänzeln und sich die Revolution als Operette vorstellen! Sie denkt an die Revolution als an eine große reinigende Kraft. Sie hasste die verhimmelnden Flirtworte blasierter Jünglinge, wenn sie allein mit einem von ihnen in der Nacht auf einer Terrasse steht und dazu schwere Colliers im Salon im Hintergrund klimpern ... Oder war es ein Kronleuchter?

Sie denkt an das so plausibel klingende Geschwätz ihrer Rechtsanwälte, würdige Herren in kühlen Kanzleien, die alle beteuern, nur ihr Bestes zu wollen, wenn sie von günstigen Wertpapiertransaktionen berichten.

Sie heiratet einen Mann, der in den Augen der Oligarquia, der besitzenden, machtausübenden, tonangebenden Gesellschaftsschicht, als Tunichtgut gilt - Ernesto Guevara Lynch, einen Architekturstudenten, der sein Studium mit der Bemerkung aufgegeben hat, es führe zu nichts.

Er ist abenteuerlustig, unkonventionell, renommiersüchtig, hat den Kopf voller phantastischer Projekte. Sein Stammbaum lässt sich bis auf einen der spanischen Vizekönige von La Plata zurückverfolgen.

Ein Vorfahre, Juan Antonio Guevara, hat im 19. Jahrhundert gegen die Diktatur des Juan Manuel de Rosa rebelliert. Der Aufstand, den er mit anführte, scheiterte. Der Verschwörer floh 1850 nach Kalifornien - es ist die Zeit des Goldrausches - und stellte sich dort an die Spitze einer Bande von Prospektoren und Viehdieben. (Sein Enkel wird ihn gern als anarchistisch-liberalen Helden sehen.)

Juan Antonio heiratet, sich unbekümmert über bestehende Vorurteile hinwegsetzend, eine mexikanische Schöne, Conceptión Castro.

Ihr Sohn, der schon als Bürger der Vereinigten Staaten zur Welt kommt, nimmt die Tochter eines aus Irland stammenden Einwanderers zur Frau. Das junge Paar kehrt nach Argentinien zurück, wo ihr Sohn Ernesto geboren wird.

Ernesto, der Ältere, Ches Vater, zeigt wenig Ehrgeiz, sich eine Position in der herrschenden Gesellschaftsschicht zu erkämpfen. Er spricht geringschätzig von der Jagd nach Macht und Geld.

Freilich ist es angenehm, Geld zu besitzen, aber nur, um unabhängig zu sein. Er will leben, etwas erleben. Diesen Mann also zieht Celia de la Serna den Söhnen aus den großen Familien vor, die um sie werben. Nach ihrer Heirat leben Ernesto und Celia in Buenos Aires. Sie geben das Geld der La Sernas mit vollen Händen aus. Ihre Feste sind skandalumwittert. Für einige Zeit gefällt es ihnen, zu trinken, zu tanzen, zu schockieren.

Der Lebensstil der »Roaring Twenties«, die getanzte Revolte der Flappers, der Nachkriegsjugend des Ersten Weltkriegs in den USA, die Auflehnung gegen den Muff des viktorianischen Zeitalters, gegen die Tabus des Puritanismus, färbt auf die Bohème Argentiniens ab, das trotz seines Katholizismus das puritanischste Land in Südamerika ist.

Ernesto Guevara Lynch hat den Plan gefasst, sich als Mate-Tee-Kaufmann zu betätigen. Der »Tee der Jesuiten« ist das Nationalgetränk zahlreicher südamerikanischer Länder.

In Argentinien wächst die Pflanze in drei bis sechs Meter hohen Büschen in der abgelegenen Provinz Misiones, einem Dschungelgebiet, in dem sich, außer Eingeborenen, freiwillig meist nur Waffen-, Rauschgift- und Alkoholschmuggler aufhalten.

Gegenüber seiner Frau schwärmt Señor Guevara Lynch von einer anarchistischen Gemeinschaft, die er dort fern der Zivilisation gründen will. Finanzieren wird er sein »freies Dorf« mit Erlösen aus dem Mate-Handel. Bald ist dem Paar der Schwarm leichtsinniger und schmarotzender Freunde aus der Großstadt in die Wildnis gefolgt. Über Festen, Jagdausflügen und Diskussionen, wie das Paradies auf Erden auszusehen habe, wie es herbeizuführen sei, vergisst Ernesto seine Yerba-Mate-Bündel abzuschicken. Sie verfaulen in den Lagerschuppen. Er entschuldigt sich mit einem Achselzucken. Ist er hergekommen, schwer zu arbeiten oder um seinen Spaß zu haben?

Er schrickt aus seiner Unbekümmertheit hoch, als Celia ihm sagt, dass sie schwanger ist. Einerseits freut er sich auf das Kind, hofft auf einen Sohn, nimmt sich vor, ihn liberal und antiklerikal zu erziehen; andererseits fühlt er sich eingeengt. Ohne Kind wäre dieses romantische Leben hier draußen, wo man sich nicht über korrupte Politiker, karrierewütige Altersgenossen und missgünstige Verwandte ärgern muss, wohl noch eine Weile fortzusetzen gewesen.

Diese Dschungelfreiheit hat ihm gefallen. Man kann dabei vergessen, dass man sich im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts befindet. Wenn er den Mate-Handel wieder in Schwung bringen will, muss er mit seinen Abnehmern in Rosario sprechen, das immerhin 1.000 Kilometer von der Provinz Misiones entfernt liegt.

Trotz ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft will Celia ihn auf dieser strapaziösen Reise begleiten. Sie erwartet das Kind für Mitte Juli, aber als sie am 14. Juni 1928 in Rosario ankommen, setzen bei ihr die Wehen ein. Der Junge, der vorzeitig geboren wird und nach seinem Vater den Namen Ernesto erhält, ist ein winziges, schwächliches Baby, kaum lebensfähig. Die ersten 18 Monate seines Lebens verbringt Ernestito mit seinen Eltern in der Provinz Misiones.

Seine Kinderfrau ist die Indianerin Inez. Zusammengekauert sitzt sie Tag und Nacht vor der Hängematte, in der das häufig hustende Kind schaukelt. Sie legt in Wasser aufgeweichte Blätter einer den Weißen unbekannten Pflanze auf die Augen und die Lippen des Säuglings. Wenn der Vater das Kind betrachten will, überschüttet Inez ihn mit einem Schwall indianischer Schimpfworte. Señor Guevara Lynch nimmt das hin; obwohl Bekannte ihn auffordern, das unverschämte Indianerweib davonzujagen. Er hat ein schlechtes Gewissen, gibt seiner Neigung für exotische Abenteuer die Schuld daran, dass sein Erstgeborener krank und schwächlich zur Welt gekommen ist.

Eines Tages ist Inez verschwunden. Man sucht nach ihr im Wald. Man findet ihren Körper gefesselt, geschändet, leblos, am Stamm eines Baumes. Daneben steht ein Korb mit den Blättern der Pflanze, die sie für Ernestito gesucht hat.

Kein ungewöhnlicher Tod in diesem Land. Wer trauert um eine Indianerin?

Als Señor Guevara Lynch wenigstens so viel Geld verdient hat, wie ihm in der ersten Zeit durch seine Nachlässigkeit verlorengegangen ist, gibt er den Mate-Handel auf. Er kehrt mit Celia, die ihr zweites Kind erwartet, und mit seinem kleinen Sohn nach Buenos Aires zurück und beteiligt sich dort an einer Schiffsbaufirma.

In Buenos Aires stellen die Ärzte fest, dass Ernestito an Asthma leidet.

Asthma ist eine Krankheit, bei der sich die glatten Muskeln in den kleinen Bronchien verkrampfen. Häufig wird sie reflektorisch ausgelöst, das heißt durch nervöse Reize, die von anderen Körperstellen, meist von der Nasenschleimhaut, ausgehen; oft auch ist sie mit chronischem Bronchialkatarrh verbunden.

Der asthmatische Anfall stellt sich als ein äußerst quälender Luftmangel dar. Die Atemzüge sind pfeifend. Der Kranke wird blutrot und fürchtet, trotz angestrengter Atmung, zu ersticken.

Heute glaubt man zu wissen, dass bei einer vererbten Veranlagung der erste Anstoß zum Ausbruch der Krankheit schon im Augenblick der Geburt gegeben wird, in jenem entscheidenden Moment nämlich, da das Baby, mit dem Einsetzen der Atemtätigkeit, selbständig zu leben beginnt.

So betrachtet, wäre Asthma eine Reaktion auf das Geburtstrauma oder eine Weigerung, die Schinderei des Leben-müssens auf sich zu nehmen.

Dr. Melitta Sperling, eine bekannte amerikanische Kinderpsychologin, stellte in einer Untersuchung fest, dass asthmatische Kinder in besonderem Maße zu einem zerstörerischen und selbstzerstörerischen Verhalten neigen, das nicht selten sogar bis zum Selbstmord führt. Sie beschreibt den Asthmaanfall als eine Form von magischer Kontrolle über Leben und Tod.

Als die Ärzte den Eltern erklären, das feuchte Klima von Buenos Aires verschlimmere die Krankheit, verkauft der Vater seine Anteile an der Schiffsbaufirma wieder, und die Familie übersiedelt in den im Gebirge gelegenen Kurort Alta Garcia.

Von nun an widmet sich Señor Guevara fast ausschließlich der Aufgabe, aus einem kränklichen Kind einen kräftigen Jungen zu machen. Er lehrt ihn schwimmen, nimmt ihn zum Tontaubenschießen und zum Golfspielen mit. Er achtet darauf, dass das Kind im Sommer wenigstens drei Stunden im Freibad verbringt, damit sich seine Brustmuskulatur entspannen und es besser atmen kann. Der Vater erklärt Ernesto frühzeitig, er brauche sich nie darum zu kümmern, was die Eltern seiner Freunde für Berufe ausübten, ob sie arm oder reich seien. Die Mutter ist am Ort dafür bekannt, sich in jedes politische Streitgespräch einzumischen und immer die Partei der Armen zu ergreifen. Seltsame Leute sind diese Guevaras, finden ihre Nachbarn; sie werden nicht recht klug aus dieser Familie. Geschwister werden geboren. Celia, Roberto, Ana-Maria und als Nachzügler 1941 Juan Martin. Der Vater führt das Leben eines wohlhabenden, wenngleich nun nicht mehr eigentlich reichen Privatmannes - ein beträchtlicher Teil des Vermögens seiner Frau ist durch die Weltwirtschaftskrise verloren gegangen. In den Jahren in Alta Garcia bessert sich Ernestos körperliches Befinden wesentlich. Stolz zeigt der Vater später Verwandten zwei Fotos. Der Junge mit drei Jahren: Arme und Beine wie Streichhölzer. Der Junge mit vierzehn: stämmig und selbstbewusst. Ernesto bewundert seinen Vater. Er versucht, wie der Vater ein guter Schütze zu werden - vorerst mit der Steinschleuder, später mit dem Luftgewehr. Mit unerhörter Willensanstrengung hält er bei Rugbyspielen durch, an denen teilzunehmen ihn der Vater ermuntert. Wenn Ernesto der Husten überkommt, rennt er an den Spielfeldrand, inhaliert ein paar Minuten und spielt dann weiter.

Oft haben die Anfälle eine solche Gewalt, dass er danach wochenlang geschwächt zu Bett liegen muss. In solchen Zeiten möchte er sich fallen lassen. Es ist ja doch alles vergebens. Nie wird es ihm gelingen, das Handikap seines Organismus durch Willenskraft völlig wettzumachen.

Die Mutter tröstet ihn. Sie sieht es gern, wenn sie ihren Ältesten einmal ganz für sich haben kann. Sie findet, der Vater verlange von dem Jungen zu viel. Die körperliche Anstrengung beim Sport verschärfe die Krankheit nur. Sie hat auch darauf gedrungen, dass Ernesto die erste Volksschulklasse nicht besuchen muss, sondern von ihr daheim unterrichtet wird. Nur in der zweiten und dritten Klasse nimmt er regelmäßig am Unterricht teil. Später bringen ihm seine Geschwister die Hausaufgaben mit, und er arbeitet für sich allein.

Er liest viel. Der Vater besitzt eine private Bibliothek von 3.000 Bänden. Philosophische und soziologische Schriften, die Werke Freuds, Fachbücher über Mathematik, Maschinenbau und Architektur, die Gedichte Baudelaires - alles interessiert den Jungen.

Er hört die Eltern häufig streiten. Es geht dabei nicht, wie in anderen Familien, um Geld, Liebe oder eheliche Treue. Wenn er es recht versteht, bricht der Streit immer darüber aus, wie den Armen am wirksamsten geholfen werden könne.

Vater wie Mutter ergreifen entschieden Partei für die Armen. Die Mutter meint, man müsse kämpfen. Der Vater hingegen vertritt die Ansicht, es habe keinen Zweck, man könne die Welt nicht ändern, jedenfalls nicht fundamental. Vor allem widerspricht er den Erwartungen, die die Mutter in die große Revolution setzt.

Versteht Ernesto das richtig? Ganz sicher ist er sich nicht. Es gibt da zu viele Worte, deren Sinn er nicht begreift. Sein Gefühl sagt ihm, die Mutter müsse recht haben. Wie oft ist er zusammengezuckt, wenn er auf Spaziergängen mit dem Vater die Baldios, die Elendsviertel, am Rande der Stadt gesehen hat. Kinder, die dort wohnen, werden von den anderen in der Schule gemieden (jene wenigen, die von dort überhaupt zur Schule kommen).

»Lumpenkinder! Lumpenpack!« rufen ihnen die anderen nach.

Er schlägt sich für das Lumpenpack. Er verschenkt Frühstücksbrote an Kinder aus dem Baldio. Um sie nicht zu demütigen, schiebt er die Brote heimlich unter ihre Bank. Er kann sich vorstellen, wie das ist, anders zu sein. Er ist auch nicht so, wie die meisten Kinder aus der Nachbarschaft, weil er oft krank ist. Manche Mütter verbieten ihren Kindern, mit ihm zu spielen, weil sie Ansteckung befürchten. Andere Kinder ekeln sich, wenn Ernesto nach seinen Anfällen Schleim ausspucken muss.

Er stellt sich das Leben in den Baldios als eine ständige, ekelhafte Krankheit vor. Er träumt von einem Bündnis zwischen den Kindern der Armen und sich. Nur ist es schwierig, mit ihnen zusammenzukommen, außer in der Schule, und dort sitzen diese Kinder getrennt von den anderen. Einmal ist er allein hinaus in die Baldios gegangen und hat versucht, Rio, seinen Klassenkameraden, zu treffen. Ein Gewirr von zusammengeflickten Buden, Hütten, Wellblechbaracken, eine Kraterlandschaft. Erdlöcher, über die Säcke gespannt sind. Halbnackte Kinder, die sich um eine rostige Konservenbüchse balgen. Frauen, die vor ihren Behausungen hocken und apathisch vor sich hinstarren. Gestank. Fliegenschwärme.

Er hat Rio nicht getroffen. Die Menschen, die er gefragt hat, haben ihn seltsam gemustert, so, als wollten sie sagen: Was hast du hier verloren? Er könnte den Lumpenkindern helfen, wenn ihre Banden im Sommer in die Oberstadt heraufkommen und versuchen, in den Gärten Obst zu stehlen. Mr. Harrow, der englische Ingenieur, der zwei Häuser weiter wohnt, hat einmal mit einer Schrotflinte nach einer Bande der Lumpenkinder geschossen. Eines ist verletzt liegengeblieben. Die Polizei ist gekommen und hat es ins Gefängnis gebracht. Rio hat erzählt, der Junge sei dort gestorben, weil die Polizisten es nicht für nötig befunden haben, einen Arzt zu rufen. Die Lumpenkinder haben gestohlen!

Darf man stehlen, wenn man Hunger hat?

Wie ist das, Hunger zu haben?

Ernesto in seinem Bett denkt sich aus, er sitze dort im Garten der Harrows hinter den Sträuchern, und noch ehe der Engländer abdrücken kann, treffe ihn ein Stein aus Ernestos Schleuder ins Gesicht. Ein kleiner Stein, der ihn nur erschreckt, damit die Lumpenkinder Zeit haben, so viele Äpfel abzupflücken, wie sie wollen.

Im nächsten Sommer wird er es so machen. Bis zum nächsten Sommer ist noch eine lange Zeit. Aber etwas anderes könnte er tun. Er wird nur noch in seinen ältesten Hosen und Hemden herumlaufen. Dem Vater wird das gleichgültig sein; der Mutter kann er erklären, dass dies ein Zeichen dafür ist, dass er für die Lumpenkinder kämpfen will.

Vielleicht, dass sich Mr. Harrow darüber aufregt und den Vater deswegen anspricht. Da würde er aber schön abfahren ... so wie der Priester, der ins Haus gekommen ist, um darüber Klage zu führen, dass keines der Guevara-Kinder zur Messe geht.

Der Vater hat zu dem Priester gesagt: »Ich bezweifle keinen Augenblick, dass Jesus der beste Mensch gewesen ist, der je auf Erden gelebt hat. Aber die Kirche hat seine Lehre ruiniert. Die Kirche ist das größte Geschäft, das je von einem Juden gegründet und von Italienern geleitet worden ist.«

Der Priester hat seinen komischen Hut genommen und ist ohne ein Wort der Erwiderung und ohne einen Gruß gegangen.

Erfahrungen

»Don Manuel Santamarin IV gibt sich die Ehre, die Söhne und Töchter seiner verehrten Freunde anlässlich des 14. Geburtstages seines Sohnes Juan zu einem Empfang zu bitten. Die Geburtstagsfeier findet im Großen Salon des Sierra Hotels statt.«

Don Manuel hat ausdrücklich Wert darauf gelegt, dass die Kinder bei dieser Gelegenheit eine Vorstellung davon bekommen sollen, wie es auf den Festen der Erwachsenen zugeht. Fünf, sechs Jahre hin, und sie werden sich auf dem glatten Parkett in den Häusern der großen Familien in der Hauptstadt mit Sicherheit bewegen müssen.

Die Väter feiern mit Don Manuel im an den Salon angrenzenden Raucherzimmer. Die Mütter sind daheim geblieben. In der Mitte des Salons steht ein schwerer, langer Eichentisch mit der sich hoch auftürmenden Geburtstagstorte. Zwischen den beiden Flügeltüren, die auf die Terrasse hinausführen, ist ein kaltes Büfett aufgebaut. In einer Ecke, auf einem Podest, haben Gitarrenspieler in der Tracht der Provinz Aufstellung genommen. Zu beiden Seiten des gerafften Vorhangs, der den Raum gegen die Vorhalle des Hotels abschließt, steht je ein Reitknecht des Hauses Santamarin in Livree. Betritt einer der kleinen Gäste den Salon, so haben die Reitknechte Anweisung, mit ihren Stäben aufzustampfen und laut den Namen der betreffenden Familie auszurufen. Dann trippeln kleine Mädchen, deren Körper zwischen Wölkchen pastellfarbener Tüllstoffe zu schweben scheinen, und Jungen in Matrosenanzügen zu den beiden Gastgebern, den Geschwistern Santamarin, werden dort von ihren Gouvernanten und Hauslehrern noch einmal vorgestellt und überreichen ihre Geschenke.

Das Fest ist seit zwei Stunden im Gange. Langsam fällt es schwer, die Kinder zu bändigen. Gleich wird man sich zur großen Schlusspolonaise aufstellen.

In diesem Augenblick betritt Ernesto die Eingangshalle des Sierra Hotels. Dass er zum Kinderfest der Santamarins eingeladen worden ist, hat daheim einiges Erstaunen hervorgerufen. Die Guevaras verkehren nicht mit den Familien der Oligarquia.

Oligarquia = Oligarchie wörtlich die Herrschaft weniger. In Südamerika: die Klasse der Reichen. Im Argentinien dieser Jahre etwa 200 Familien, durch Verwandtschaft und gemeinsame Interessen miteinander verbunden. Als Großgrundbesitzer, Besitzer der wichtigsten Exportfirmen, Industrien und Dienstleistungsbetriebe, beherrschten sie die Wirtschaft und bestimmten von daher die Politik. Vergleichbar in Europa in ihrer sozialen Stellung und politischem Einfluß den ostelbischen »Junkern« und Rittergutsbesitzern im Preußen des 19. Jahrhunderts.

Vielleicht ein Missverständnis? Er soll nur hingehen, hat der Vater erklärt. »Du wirst dich wahrscheinlich schrecklich langweilen, aber man muss alles einmal mitgemacht haben.«

Später sind die Eltern nicht mehr auf die Einladung zu sprechen gekommen. Ernesto hatte sich vorgenommen, nicht hinzugehen. Aber an diesem Nachmittag hat er niemand gefunden, mit dem er spielen kann, und hat sich entschlossen, es sich doch einmal anzusehen.

Er trägt die üblichen Kleider, die er anhat, wenn er auf dem Golfplatz herumstromert, auf Bäume klettert oder mit dem Vater Tontauben schießen geht; ein verwaschenes blaues Hemd, kurze Hosen, die an den Beinen ausgefranst sind und Turnschuhe.

Die Angestellten im Vestibül mustern ihn erstaunt, aber er kann ihnen eine Einladungskarte vorweisen, die er aus der Gesäßtasche seiner Hose hervorzieht. Sie deuten auf die Leere zwischen dem gerafften Vorhang. Die Schildwachen, die dort standen, haben sich zurückgezogen, da sie nicht mehr erwarteten, dass jetzt noch Gäste kommen.

Ernesto ist völlig unbefangen. Er hört Musik. Er sieht, wie sich die Jungen und Mädchen zu Paaren aufstellen.

Er geht auf ein Mädchen zu, das an der Spitze des Zuges noch allein steht. Es ist Rosa Santamarin. Die Gouvernante sucht noch nach einem Partner für sie. »Nicht Paco«, hat sie Rosa zugeraunt, »ich hole dir Felipe Asunto.« (Die Asuntos besitzen noch ein paar tausend Rinder mehr als die Santamarins.)

Das Mädchen hat Ernesto nicht kommen sehen. Als er ihren Arm berührt, fährt sie herum, reißt sich von ihm los, nimmt Abstand und mustert ihn dann mit zornigem Gesicht. »Wer hat den dreckigen Schuhputzerjungen hereingelassen«, zetert sie.

Erwachsene springen herbei. Die Kinder drängen sich um Ernesto. »Ruhe Kinder, Ruhe doch!«,

»Raus mit dir!« schimpft Rosa.

»Raus, raus, raus«, echoen die anderen Kinder, froh, dass sich endlich etwas Aufregendes ereignet.

Ernesto schüttelt den Kopf. Er könnte hinausgehen, aber er will nicht. Die Aufregung breitet sich durch seinen Körper hin aus. Er kann nichts dagegen tun. Er sieht die Menschen um sich gestikulieren. Rosas Hand zuckt vor. Ihre Nägel hinterlassen einen Kratzer auf seiner Wange. Immer noch staunt er über soviel Empörung. Die Kinder schieben sich näher heran.

Sie sollen Platz machen, denkt er. Die Luft ist so stickig. Er braucht Platz, um atmen zu können. Seine Hände verkrampfen sich. Er streckt die Arme aus, um die Menschen fortzuschieben.

Sie verstehen das falsch. »... jetzt auch noch unverschämt werden!« Er erhält eine Ohrfeige. Er weiß nicht von wem. Er schlägt zurück.

Der Hustenanfall beginnt. Er hustet, hustet.

»Widerlich«, empört sich Rosa.

Jemand packt Ernesto beim Kragen und versucht, ihn aus dem Salon zu zerren.

Er macht sich steif. Sie sollen ihn in Ruhe lassen, nur einen Augenblick, bis der Anfall vorbeigegangen ist. Er stemmt sich gegen seine Atemnot, verkrampft sich dabei noch mehr.

Don Manuel ist, als er das Geschrei nebenan gehört hat, ärgerlich aufgesprungen und in den Salon geeilt. Mit rudernden Armbewegungen kommt er heran. »Was geht hier vor?«

Man erklärt es ihm.

»Stehen Sie doch nicht so untätig herum«, fährt er Fox an, »tun Sie etwas, schaffen Sie mir den Direktor des Hotels herbei.«

Ernesto erhält einen Fußtritt und stürzt auf den Fliesen im Vestibül nieder. Er spürt nicht mehr, was um ihn herum vorgeht; er sieht nur noch kleine, tanzende Hustensterne vor seinen Augen. Er will um Hilfe schreien. Er ist allein unter den tanzenden Sternen mit diesem Pfeilhagel in seiner Brust und diesem Röcheln.

Als er wieder zu sich kommt, findet er sich lang ausgestreckt auf dem Pflaster vor dem Hotel wieder. Ein rundes, gutmütiges braunes Gesicht mit zerknitterter Haut beugt sich über ihn. Er erkennt, dass es eine Wasserverkäuferin ist. Mit der einen Hand hebt sie seinen Kopf etwas an, mit der anderen versucht sie, ihm etwas einzuflößen.

»Madre mia«, ruft sie aus, als er dankbar lächelt, »er lebt! Der Mutter Gottes sei Dank für ihren Beistand und ihre Hilfe.«

Ein Polizist bahnt sich den Weg durch die Schaulustigen. »Aufstehen«, befiehlt er.

Ernesto versucht es. Er kann sich vor Schwäche nicht allein auf den Beinen halten. Sie müssen ihn stützen. Sie führen ihn zu einer Bank in der Parkanlage gegenüber dem Hotel. Dort schütteln ihn wieder Hustenstöße durch, aber es gelingt ihm, jemandem die Adresse der Eltern zu nennen. Eine Viertelstunde später ist der Vater zur Stelle.

»Wie geht es dir, Sohn?«

»Schon besser.«

»Sie haben dir übel mitgespielt. Wir werden ihnen das nicht durchgehen lassen. Wir gehen jetzt zusammen hinüber zu Don Santamarin. Ich werde verlangen, dass er sich bei dir entschuldigt.«

Aber drüben im Hotel ist die Feier längst zu Ende gegangen. Don Manuel ist mit seinen Kindern und dem Hofstaat schon abgefahren. Der Vater schickt Ernesto heim und macht sich allein auf den Weg zu der Villa der Santamarins.

Später hört Ernesto von anderen Jungen, dass der Vater mit dem Stock eine Lampe zertrümmert hat, ehe ihn die Diener vor die Tür setzten. Solche Geschichten sprechen sich rasch herum. Wer hat gesiegt, grübelt Ernesto?

Eine andere Stadt: Córdoba. Universitätsstadt, voller Studenten, Priester und Nonnen. Die Barockkathedrale auf dem Hauptplatz sieht aus wie ein grauer Elefant. Gegenüber steht das Denkmal eines Generals zu Pferde, in dessen Schatten indiostämmige Rekruten herumstehen und versuchen, mit den Dienstmädchen anzubandeln.

In dem Häuserviereck um den Platz macht sich das Royal-Cinema breit, in das die Kinder aus den reichen Familien zweimal in der Woche geführt werden, um sich einen amerikanischen Kriegsfilm anzusehen, aus dem die Liebesszenen herausgeschnitten worden sind.

Córdoba ist eine träge Stadt, stumpf in ihrer Atmosphäre. Aber hinter der Trägheit und dem Provinzialismus knistern die Spannungen.

Die beiden Cafés an der Plaza sind zugleich die Hauptquartiere der widerstreitenden politischen Parteien. Im »Sol y Luna« treffen sich die Oligarcho-Nationalisten. Sie grüßen mit ausgestrecktem Arm. Keine zehn Schritte weiter liegt das Cafe »Bolo«, in dem sich die spanischen Emigranten zusammenfinden, die nicht müde werden, darüber zu diskutieren, warum in ihrem Land das Volk den Kampf mit dem kleinen, meuternden faschistischen General aus Galizien verloren hat.

«Die deutschen Stukas.«

«Die Russen haben uns im Stich gelassen.«

«Der Terror der Kommunisten gegen die Trotzkisten.«

»Das Waffenembargo der Westmächte.«

Hier sitzt auch Ernestos Onkel Arturo, ein ausgedörrter, kleiner, stets dunkel gekleideter Herr mit einem Kneifer auf der Nase. Er redet nicht mit, hält sich abseits von den anderen. Er schlürft Mate durch ein silbernes Röhrchen, das aufblitzt, wenn die Sonne darauf fällt, macht ein verdrossenes Gesicht, lässt die Mundwinkel hängen und schreibt.

Der Onkel wirkt so ernst und verschlossen, dass es der Junge nie wagt, ihn über diesen Krieg, an dem er teilgenommen hat, auszufragen.

In der Familie ist davon die Rede, dass der Onkel nicht länger mit durchgeschleppt werden könne. Die Guevaras sind nicht zuletzt deswegen nach Córdoba umgezogen, weil ihr Vermögen inzwischen weiter zusammengeschmolzen ist. Ihre Wohnung, in der Calle de Chile, liegt in unmittelbarer Nähe eines Baldio.

Offenbar besitzt der Onkel selbst überhaupt kein Geld. Einmal hat er sich bei Ernesto ein paar Pesos geliehen.

Der Junge bittet im Stillen darum, dass sich jemand finden möge, der dem Onkel so viel Geld schenkt, dass er dort im Cafe »Bolo« sitzen bleiben und weiterschreiben kann. Eines Tages wird man dann lesen können, wie tapfer sich das Volk in Spanien geschlagen hat, auf wessen Seite das Recht war in diesem Krieg.

Die meisten Klassenkameraden von Ernesto ergreifen seit der Belagerung von Toledo für die spanischen Faschisten Partei.

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