Kitabı oku: «Route 66»
Hans-Christian Kirsch
Route 66
Auf der Straße der Träume von Chicago nach L.A.
FUEGO
– Über dieses Buch –
Hans-Christian Kirsch erzählt hier Geschichten von dem legendären Highway, wie sie in klassischen Reiseführern nicht vor kommen – mit jeder Menge Details und Infos über diese legendäre Straße. Dabei geht der Autor auf das Land, die Leute, ihre Sitten und Bräuche ein. Er schildert kuriose und spannende Dinge welche sich immer auf die Route 66 beziehen. Er berichtet über die Städte, die an der Route 66 liegen. Er schildert historische Begebenheiten - von der Zeit Al Capones in Chicago, über die indianische Vergangenheit in Oklahoma, über das Leben des Folk-Sängers Woodie Guthrie. Das Buch beinhaltet viele Zitate und Auszüge aus anderen Werken und bietet eine gute Grundlage für weitere Recherchen. Eine etwas andere Art Reisebericht, das, was in den neuesten Reiseführern nicht steht, lesenswert und spannend.
Eine unterhaltsame Anregung für eine gedankliche Traumreise, aber natürlich auch unentbehrlich zur Vorbereitung auf die große Tour.
»Wir suchen im Schriftsteller den Freund, mit dem wir Intimes austauschen. Wir wünschen ihn, mehr als in ausgerundeten Romanen und gestellten Kulissen, in Tagebüchern und Briefen über seinem mystischen Eigentum anzutreffen und dort Signale mit ihm zu tauschen, in denen er sich, wir uns, endgültig und vorbehaltlos zu erkennen geben. Das ist hilfreich. Das führt uns in brüderlicher Vereinigung durch die Gewalten der Gegenwart...«
Werner Helwig
»Alle reden von ›community‹. In einer Zeit, in der das Wehgeschrei über den Verfall der Werte und traditionellen Bindungen groß ist, hat die Gemeinde Konjunktur. (...) Es war der Barbershop, der Kleiderladen, das Schmuckgeschäft, das Kino, wo das wahre Amerika wohnte. Der Ort, wo sich alle noch mit dem Namen grüßten, war die Mainstreet. Der Dichter Sinclair Lewis hat ihr in seinem gleichnamigen, 1920 erschienenen Roman ein literarisches Denkmal gesetzt. Die US 66 nannte man auch deshalb die ›Mainstreet of America‹, weil sie durch das Herz des Landes führte und dabei Hunderte kleiner Ortschaften und deren Hauptstraßen berührte.«
Bernd Polster und Phil Patton,
Highway — Amerikas endloser Traum
Vorwort
Hallo Petra, Carol, Gaby, Barbara und noch einmal Barbara; hallo Rita, Maria, Antje, Beatrix, Dagmar, Ingrid, Marietta, Regina, Sandra, Irmi, Martina, abermals Petra und Regine. Hallo Rolf, Rainer, Franz, Martin, Hanspeter, Jürgen, Bernd, Frank, Alexander, Joachim, Arne (wie geht’s dem Armreif, der dich heilen sollte?). He, Volker (was macht die Wetterfahne aus Santa Fe?). Ein Hallo auch dir, Bernd-Friedrich, Sheriff mit dem einen PS. Wo steckt ihr alle in the best of all possible worlds? Wie Heinrich Heine sagte:
»Eine große Landstraß’ ist unsere Erd’,
Wir Menschen sind Passagiere;
Man rennet und jaget, zu Fuß und zu Pferd,
Wie Läufer oder Kuriere.
Man fährt vorüber, man nicket, man grüßt
Mit dem Taschentuch aus der Karosse;
Man hätte sich gerne geherzt und geküßt,
Doch jagen von hinnen die Rosse.«
Ab und zu bekommt man eine Karte aus San Francisco, Bombay, Berkeley oder Hongkong. Dies ist eine Welt der Reisenden! Keine Angst, nachdem ich euch (hoffentlich alle) begrüßt habe, werde ich euch nie mehr erwähnen. Nicht all die Happy Hours mit Whiskey, Gin Tonic und kalifornischem Wein, nicht die durchtanzten Nächte – wo war das noch gleich ...? In Amarillo oder in Santa Fe? Nicht die im Grand Canyon beinahe nötig gewordene Rettungsaktion mit der amerikanischen Bergwacht! Guess for whom? Nicht die gewonnenen und verspielten Dollarsummen in Las Vegas. Nicht die Einkaufsorgien in Santa Fe und L.A. Also, es war und ist so: Ich bin mit 31 Frauen und Männern von Chicago über St. Louis, Tulsa, Santa Fe, Las Vegas auf der Route 66 nach Los Angeles gefahren. Eine wunderbare Reise! Für jeden von uns. Aber viel zu kurz. Hin und wieder habe ich auf dieser Reise Geschichten erzählt. Von jener Straße, auf der wir fuhren, wie sie entstand, unterging und als Legende wieder auferstand; von Städten und Landschaften, von weißen Rednecks, Schwarzen, eigentlich Afroamericans (»Neger« zu sagen verbietet die Political Correctness), Mejicanos und Indianern (nicht doch: American Natives heißt das!), von der Musik auf und an dieser Straße, Jazz und Country, von ihren Reisenden, von den Büchern, die unter dem Himmel über ihr und an ihrem Straßenrand geschrieben worden sind, von den Menschen, die hier und dort neben ihr Wurzeln schlugen, von all den verrückten Bars, Hotels, Tipis, Restaurants, Spelunken, in denen man einkehren kann. Von den Getränken und Speisen, die einem vorgesetzt werden. »Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei!« Das gilt diesmal nicht für mich. Denn jetzt trete ich diese Reise noch einmal an, in der Phantasie. Ich hole noch einmal Atem, ich beginne noch einmal zu erzählen. Denn es gibt noch viel mehr Geschichten, und es könnte ja sein, es verlangte euch danach, noch einmal diesem unwiderstehlichen amerikanischen Verlangen zu folgen, nach Westen zu reisen, immer weiter nach Westen, bis es nicht mehr weiter geht, weil da das Meer ist, die wilde Brandung des Pazifik und die Nebel, mit denen sie L.A. einhüllt ...
American Memories
»Und ich warte auf eine Wiedergeburt des Wunders.
Und ich warte darauf, dass jemand wirklich Amerika entdeckt und klagt.
Und ich warte auf die Entdeckung einer neuen Western Frontier.
Und ich warte, dass der amerikanische Adler seine Flügel ausbreitet und wirklich fliegt ...«
Lawrence Ferlinghetti, I am waiting
Etwas nüchterner lässt sich das, was den Leser in diesem Buch erwartet, etwa so umschreiben: eine Sammlung von Geschichte(n) zum kulturellen Hintergrund der Route 66 - zum Teil in literarischer Form. Das, was in den neuesten Reiseführern nicht steht, was Touristen oft entgeht. Ich werde von dem berichten, was mir an diesem Stück Land gefällt, durch das die Route 66 führt, welche Gedanken ich mir dazu machte, während wir reisten; was ich hier und dort erlebt, entdeckt, gehört, gesehen, geträumt, gelesen und gekritzelt habe.
Zu solchen Entdeckungen lade ich ein.
1. Chicago Blues
Das Touristenbüro teilt mir mit, in Chicago seien erfunden worden: die Rollerskates (1884), die Stahlskelett-Bauweise für Hochhäuser – also Wolkenkratzer (1885), das erste Gebäude dieser Art war neun Stockwerke hoch! –, der Fensterbriefumschlag (1902), die Farbsprühdose (späte 40er Jahre), das erste McDonalds-Restaurant (1955). Auch so etwas charakterisiert eine Stadt. Aber nun etwas ernsthafter:
Man hat Chicago eine Stadt genannt, die sein musste. Das bezieht sich auf ihre günstige Lage zwischen der Prärie, den Großen Seen und dem Chicago River. Hier sammelte sich am Ende der Eiszeit genügend Gletscherschutt, um eine Wasserscheide zwischen dem System der Großen Seen, dem St. Lorenz-Strom und dem Mississippi zu schaffen. Chicago entstand an einer Route vom Lake Erie in Kanada zum Mississippi, die schon die Indianer benutzten, noch ehe die Weißen kamen. Der Frankokanadier Louis Joliet und Pater Jacques Marquette, die 1673 den sogenannten Chicago-Portage überquerten, erkannten die Möglichkeit, an diesem zentralen Punkt Transportwege kreuzen zu lassen. Und dann kam der Trapper Jean Baptiste Point DuSable, ein Mann afro-kanadisch-französischer Abstammung, und gründete hier den ersten Handelsposten. 1833 zählte die kleine Siedlung am Chicago River gerade 300 Einwohner, und von diesem Jahr an hieß sie dann Chicago. Sie wurde rasch zum Verbindungspunkt zwischen den landwirtschaftlich erschlossenen Gebieten des »Wilden Westens« und dem zivilisierten, bereits weiter entwickelten Osten. Durch einen Kanal, der 1848 entstand, gab es nun einen inländischen Wasserweg zwischen dem Nordatlantik und dem Golf von Mexiko. Nach den Kanalbauern kamen in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts Streckenbauarbeiter in das kleine Dorf an der Grenze, das damals nur ein paar Hundert Einwohner zählte. Der alte Kanal, der nicht viel mehr war als ein breiter Graben, wurde 1900 durch einen breiteren und tieferen ersetzt.
American Memories
»Meine Gefühle gegenüber Chicago sind, solange ich mich erinnern kann, wild ambivalent. Nelson Algren scheint es mir vor vierzehn Jahren treffend und poetisch ausgedrückt zu haben:
›Es ist nicht so sehr eine Stadt wie eine Station unterwegs, auf der anderthalb Millionen Zweibeiner mit einem einzigen Schrei ausschwärmen: Eine Schulter oder ein Bein ab. Hier komm’ ich. Jedermann in dieser gemieteten Luft ist auf sich allein gestellt.
Aber wenn man einmal Teil dieses besonderen Fleckens geworden ist, wird man nie mehr einen anderen mögen. Es ist, als seist du in eine Frau mit einer gebrochenen Nase verliebt. Andere Hübsche mögen besser aussehen. Aber keine ist so real wie sie.‹«
Studs Terkel, Division Street
1870 wurden die Schlachthöfe gegründet, für die Chicago bis in unser Jahrhundert hinein berühmt und berüchtigt sein wird. Carl Sandburg, ein bekannter amerikanischer Lyriker der 20er Jahre, wird die Stadt in seinen Gedichten den »Schweineschlächter der Welt« nennen. Heute ist von den Schlachthöfen nur noch das Eingangstor, gewissermaßen als Symbol, stehen geblieben. Die Bevölkerung verdoppelte und verdreifachte sich innerhalb weniger Jahre. Die damals gebräuchlichste Hausform war der Balloon Frame, ein dünnwandiger Holzbau, der rasch zu errichten war. Einwanderer aus Deutschland, Irland, Polen, Italien, Schweden und Juden ließen sich in solchen Holzhäusern nieder: Sie legten den Grundstock für die multi-ethnische Bevölkerung der Stadt. Charakteristisch für das Stadtbild waren damals die endlosen, hölzernen Gehsteige, die angelegt worden waren, um das tiefer gelegene natürliche Niveau anzuheben.
Das frühe Chicago bestand fast ausschließlich aus Holz. Dann kam das große Feuer des Jahres 1871. Angeblich soll die Kuh einer gewissen Misses O’Leary eine Lampe umgestoßen haben. Danach brannten die drei Quadratmeilen des Stadtzentrums fast völlig nieder. Bis auf das Wohnhaus der guten Frau. Das lag im Windschatten und blieb unberührt. Da die Feuerwehr zunächst zur falschen Adresse ausrückte, nahmen die Brände katastrophale Ausmaße an. Angefacht von einem starken Südweststurm, wütete das Feuer dreißig Stunden lang und machte ein Drittel aller Häuser dem Erdboden gleich. Im Grunde war die Katastrophe ein Glücksfall für die Stadt. Der Brandschutt wurde zur Landgewinnung am See verwendet, und noch heute ist ein großer Teil der 47 Kilometer langen Uferstrecke am Michigan-See Parkgebiet.
2. Chicago – Ort sozialer Konflikte
Wenn man Chicago den Spitznamen Windy City gegeben hat, so spielt das nicht nur auf ein meteorologisches Phänomen an. Das Wort »windig« hat, wie im Deutschen, eine Doppelbedeutung. Windy im Sinne von häufigem Wind und im Sinne von fragwürdig, hemdsärmelig, skrupellos - das bezieht sich vor allem auf die Zeit des Ellenbogen-Frühkapitalismus: 1886 kommt es zu dem sogenannten Haymarket Riot, bei dem mit einer Bombe sieben Polizisten in die Luft gesprengt werden. Es lohnt sich, die Hintergründe dieses Ereignisses etwas näher zu betrachten.
Im Jahre 1884 beschloss der in Chicago tagende Jahreskongress des »Verbands der Gesellschaften und Arbeitervereine«, den Kampf für den Achtstundentag zu verstärken. Ihren Höhepunkt erreichten diese Aktionen am 1. Mai 1886, an dem 300.000 Arbeiter in den USA, davon allein 40.000 in Chicago, streikten, was einem Generalstreik gleichkam. Am 3. Mai 1886 wurden vor der Fabrik für Erntemaschinen von McCormick in Chicago zwei streikende Arbeiter von der Polizei erschossen und mehrere schwer verletzt, nachdem sie Streikbrecher angegriffen hatten. Aus diesem Anlass fand am nächsten Abend auf dem Haymarket eine friedliche Protestkundgebung statt. Kurz vor Ende der Versammlung – die Mehrheit der ursprünglich 3000 Anwesenden war schon gegangen – marschierte eine Polizeitruppe auf den Platz, obwohl Chicagos Bürgermeister Carter Herrison sich persönlich vom friedlichen Verlauf der Kundgebung überzeugt und den bereitstehenden Polizeikräften den Rückzug befohlen hatte. Nun verlangte die Polizei plötzlich das Ende und die Auflösung der Kundgebung. Bevor die Anwesenden dem Folgeleisten konnten, warf ein Unbekannter eine Bombe in Richtung Polizei, worauf diese das Feuer eröffnete. Sieben Polizisten und eine nie eindeutig geklärte Zahl von Zivilisten kamen ums Leben. Von der explodierenden Bombe wurde der Polizist Matthias J. Degan getötet. Alle übrigen Polizisten kamen nachweislich durch Revolverschüsse zu Tode. Die meisten, wenn nicht sogar alle dieser tödlichen Schüsse, waren jedoch nicht von Zivilisten, sondern von den Kameraden der getöteten Polizisten abgefeuert worden:
Nach dem 4. Mai 1886 herrschte in Chicago praktisch der Ausnahmezustand. Anarchisten und andere Radikale wurden verhaftet. Die Presse war voll von Horrorberichten über Verschwörungen und geplante Bombenattentate. Am 27. Mai verkündete das Gericht die Anklage gegen die Agitatoren der Protestversammlung: Sie lautete auf Mord. Zusammen mit 21 weiteren Arbeitern sollten sie sich darüber hinaus wegen Verschwörung, Aufruhr und Verstoß gegen das Versammlungsrecht verantworten. Drei Deutsche unter ihnen - die Zahl der deutschen Einwanderer nach Chicago war zu dieser Zeit erheblich – erkauften sich die Freiheit, indem sie als Kronzeugen aussagten. Am 21. Juni 1886 begann der Prozess mit der Auswahl der Geschworenen. Der damit beauftragte Gerichtsdiener Henry Ryce erklärte öffentlich: »Ich betreue diesen Fall, und ich weiß, was ich tue. Diese Kerle werden gehängt. Das ist so sicher wie der Tod. Ich lade nur solche Kandidaten vor, die die Verteidigung der Reihe nach alle ablehnen muss, so dass die Zahl ihrer Ablehnungsanträge bald erschöpft ist. Die Verteidigung muss dann mit den Geschworenen zufrieden sein, die der Staatsanwalt will.« Obwohl Bestechungsgelder, Gewalt und Bedrohung eingesetzt wurden, konnte der Staatsanwalt seine ursprüngliche Mordanklage nicht aufrechterhalten. Sie wurde im Laufe des Prozesses in »Verschwörung mit dem Ziel des Umsturzes der bestehenden gesetzlichen Ordnung« umgewandelt. Die Anarchisten von Chicago hatten tatsächlich gewaltsame Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele bejaht. Allerdings verstanden sie Gewalt als Selbstverteidigung gegen die Gewalt des Staates. Am 30. August 1886 verkündeten die Geschworenen das Urteil. Alle sechs Angeklagten wurden für schuldig befunden und bis auf einen zum Tode verurteilt. Im September 1887 wurde das Urteil an vier der Angeklagten vollstreckt. Zwei wurden begnadigt. Die Verfasser des Lexikons der Anarchie kommen bei der Einschätzung des Prozesses zu folgender Feststellung: »Die Ermordung der Arbeiter am 3. und 4. Mai, die nachfolgende national-chauvinistische Repression, die den Anarchismus als unamerikanisch bezeichnete und mit den Immigranten identifizierte, brachen dem US-amerikanischen Anarchismus trotz großer Solidaritätskampagnen das Rückgrat. Die amerikanische Arbeiterbewegung wurde insgesamt entscheidend geschwächt. Die Gewerkschaften distanzierten sich nach der Haymarket-Bombe von den Anarchisten und säuberten ihre Reihen von linksradikalen Mitgliedern; dies isolierte die Anarchisten, während es die Gewerkschaften (vorübergehend) zu relativer Bedeutungslosigkeit führte.« Chicago aber blieb ein Ort starker sozialer Spannungen.
1893 veranstaltete die Boomtown Chicago zum 300. Jahrestag der Entdeckung Amerikas die World Columbian Exposition. Sie ist insofern bemerkenswert, als sie zum Symbol eines im Zeichen des Kapitalismus aufblühenden Amerikas, oder wie die zeitgenössische Presse schrieb, »zum größten Spektakel moderner Zeiten« wurde. Als Präsident Groover Cleveland am 1. Mai symbolisch einen Schlüssel bewegte, summten die Dynamos, begannen Maschinen zu stampfen, Fontänen zu sprühen, Fahnen wurden an den Masten hochgezogen, ein Chor von 5000 Sängern stimmte seine Lieder an, und 150.000 Besucher klatschten Beifall.
American Memories
»Chicago hat eine North Side, eine South Side und eine West Side.
An East Side hat es nicht viel zu bieten. Wenn man zu weit in diese Richtung läuft, landet man im Michigan-See. Schwimmend – oder man ertrinkt. Dort sind die Strände der Stadt. Je weiter man nach Süden kommt, desto mehr weicht der See zurück ...«
Studs Terkel,
Ein ABC-Führer für Leute, die Chicago nicht kennen
Das Zeitalter der Elektrizität, der Welt von morgen, der »Weißen Stadt«, hatte begonnen. Es wurde Licht in Amerika. Die große Leistungsschau mit den Wundern von Wissenschaft und Industrie zog zwischen Mai und Oktober 25 Millionen Besucher an. Sie strömten aus den Farmen und den Kleinstädten des Umlandes wie auch aus dem Ausland nach Chicago. Ein staunender Besucher schrieb an seine Eltern: »Verkauft euren Kochherd, wenn nicht anders, und kommt!« Ein anderer Besucher versicherte seiner daheimgebliebenen Ehefrau: »Du musst die Ausstellung sehen, und wenn das Geld, das wir für die Beerdigung zurückgelegt haben, draufgeht!« Die Venus von Milo war in Schokolade nachgebildet, ein lebensgroßer Ritter zu Pferde stellte getrocknete Pflaumen her, Deutschland, eine der 77 vertretenen Nationen, hatte ein gewaltiges Küstengeschütz aufgestellt, das ein tonnenschweres Geschoss über 16 Meilen schießen konnte. Als die Ausstellung schloss, schrieb die Chicago Tribune, was Millionen von Besuchern dachten: Man hatte eine »kleine, ideale Welt« gesehen, »eine Realisation von Utopia, in der die überbordende Phantasie der Künstler und Architekten einen in der Zukunft liegenden Zustand vorwegzunehmen scheint, bei dem die ganze Erde so rein, so schön und so freudig sich darstellen wird, wie heute die Weiße Stadt«.
Doch schon ein Jahr später, 1894, zeigte sich auch die andere Seite der Medaille. Die Arbeiter der Pullman Car Company verbündeten sich mit den Arbeitern der Eisenbahngesellschaften und streikten. Chicagos Arbeiter waren die Ersten, die sich in Gewerkschaften organisierten. Und was vielleicht noch erstaunlicher war für jene Zeit: Zum ersten Mal streikten schwarze und weiße Arbeiter gemeinsam für höhere Löhne und einen sicheren Arbeitsplatz. Der damalige amerikanische Präsident Cleveland beurteilte die Lage als so gefährlich, dass er Truppen in die Stadt entsandte. 1905 wurde Chicago dann zum Gründungsort der Industrial Workers of the World (Wobblies), jener legendären radikalen Gewerkschaftsbewegung, deren bekanntester Vertreter wohl Joe Hill war. Während eines Streiks festgenommen, wurde er 1915 in Salt Lake City hingerichtet. Ein politisches Kampflied über ihn ist inzwischen zum Volkslied geworden:
»Ich sah im Traum Joe Hill vor mir.
Ganz deutlich sein Gesicht.
Sprech' ich: Bist du nicht lange tot?
Sagt er: Ich sterbe nicht.
In Salt Lake City, Joe, sprech' ich,
da irrte das Gericht.
Unschuldig gingst du in den Tod.
Nein, schuldig war ich nicht.
Den Herren von der Industrie,
den' warst du unbequem.
Unschuldig gingst du in den Tod.
Er spricht: So ist's geschehen!
Da stand er vor mir, lebensgroß,
und lächelte mir zu.
Was tut's, wenn einer von uns stirbt.
Wir geben keine Ruh'.«
3. Chicago und Al Capone
Eine andere Epoche, die zum Klischee des »bösen Chicago«, der Windy City, beigetragen hat, ist die Zeit der Prohibition in den 20er Jahren. Damals hatte der noch junge Gangster Johnny Torrio, die beherrschende Persönlichkeit der Unterwelt von Chicago, einen Einfall. Er rechnete sich aus, dass er das große Geld machen könnte, wenn er den illegalen Verkauf von Spirituosen in der Stadt unter seine Kontrolle brächte. Torrio holte sich als Lieutenant einen 23jährigen Neapolitaner aus New York, dessen Karriere in der berüchtigten Five-Points-Gang und als Schüler von Lefty Louie und Gyp the Blood begonnen hatte. Er versprach ihm die Hälfte aller Einnahmen aus dem Bootlegging-Geschäft, sofern es ihm nur gelinge, unliebsame Konkurrenten auszuschalten. Der junge Mann, der sich in dem Spielsalon »Vier Würfel« etablierte, hatte auf seinem Schreibtisch demonstrativ eine Familienbibel liegen und ließ sich Visitenkarten mit der Inschrift drucken: »Händler in Möbeln aus Zweiter Hand, 2220 South Wabash Avenue.« Der junge Mann hieß Al Capone. Heute bedient sich Chicago seiner Gestalt als Touristenattraktion! Innerhalb von drei Jahren verfügte er über eine Streitmacht von 700 Mann, die alle ausgezeichnet mit Gewehren mit abgesägten Läufen und den eben aufkommenden Thompson-Maschinenpistolen umzugehen verstanden.
Mitte der 20er Jahre war der Stadtteil Cicero fest in Capones Hand. Seine Agenten kontrollierten alle Spielsalons und 161 Bars. Und Capone war es, der darüber bestimmte, wer Bürgermeister in Chicago wurde. Die Summen, die er durch Schutzgelder einnahm, gingen in die Millionen. Torrio wurde immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Allerdings war die Errichtung von Al Capones Vorherrschaft nicht ohne Blutvergießen abgegangen. Die Standardmethode, einen Rivalen auszuschalten, bestand darin, seinen Wagen mit einem Auto voll schwerbewaffneter Männer zu verfolgen, ihn an den Randstein zu drängen, die Konkurrenz mit ein paar Salven vom Leben in den Tod zu befördern und dann im Verkehrsgewühl unterzutauchen.
Die Gang eines gewissen Dion O’Banion stellte eine Zeit lang eine Bedrohung für die absolute Herrschaft Capones über Chicago dar. Der Mord an diesem Konkurrenten hat gewisse Ähnlichkeiten mit der Geschichte vom Judaskuss. O’Banion war ein Schwarzbrenner und Gangster bei Nacht, tagsüber betrieb er einen Blumenladen. Er kannte sich mit Orchideen ebenso gut aus wie mit Revolvern und Schnellfeuerpistolen. Eines Morgens hielt ein Auto vor seinem Blumengeschäft. Drei Männer stiegen aus, ein Vierter blieb hinter dem Steuer zurück. Die drei Männer traten im Laden auf O’Banion zu; offenbar war er mit ihnen vertraut. Der Mittlere unter den drei Besuchern schüttelte ihm die Hand und hielt ihn fest, während seine Begleiter sechs Schüsse auf ihn abgaben. Er war auf der Stelle tot. Die drei Gangster verließen seelenruhig das Blumengeschäft und fuhren in ihrem Auto davon. Sie kamen nie vor Gericht. O’Banion bekam ein pompöses Begräbnis, lag in einem Tausend-Dollar-Sarg, 26 Lastwagenladungen mit Blumen wurden herbeigeschafft, darunter auch ein Gebinde mit der Inschrift »Von Deinem Al«. 1926 bediente sich die O’Banion-Gang, trotz des Verlustes ihres Bandenchefs noch intakt, einer neuen Methode, die selbst in Kreisen der Unterwelt als höchst unfein bezeichnet wurde. Am helllichten Tag wagten sie es, Al Capones Hauptquartier im Hawthorn-Hotel mit Maschinengewehrfeuer aus acht Autos heraus zu belegen. Die Wagen fuhren langsam am Haus vorbei. Zunächst wurden Schüsse in die Luft abgegeben, um die Passanten zu warnen. Kaum hatten sich Capones Männer an Fenstern und Türen auf der Vorderseite postiert, rasten einige Wagen einen Block weiter und beschossen von dort die Rückseite des Gebäudes. Nachdem sich die Aufmerksamkeit im Hotel dorthin gewandt hatte, kniete sich vorn ein Mann aufs Pflaster und gab mehrere hundert Schuss in Richtung Empfangshalle ab. Der Bandenkrieg dauerte bis zum St. Valentins-Tag 1929. An diesem 14. Februar, um 9 Uhr 30 vormittags, warteten sieben Mitglieder der O’Banion-Gang in einer Garage in der North-Clark- Street auf eine Ladung schwarzgebrannten Schnaps. Plötzlich fuhr ein Cadillac in die Garage. Ihm entstiegen drei Männer in Polizeiuniform und zwei Zivilisten. Die Polizisten entwaffneten die sieben Gangster. Sie befahlen ihnen, sich in einer Reihe mit dem Gesicht gegen die Wand aufzustellen. Die Männer der O’Banion-Gang gehorchten. Sie waren an Polizei-Razzien gewöhnt und erwarteten, schließlich unbehelligt davonzukommen. Stattdessen brachten die Zivilisten eine Maschinenpistole in Anschlag und erschossen die mit erhobenen Händen wartenden Gangster. Dann fuhren sie mit den vermeintlichen Polizisten zusammen ab.
Das sogenannte »St. Valentins-Massaker«, das später sogar in einen Marilyn-Monroe-Film einging, und die Ermordung Jake Lingles, eines Mannes, der ein Doppelleben als Journalist und Gangster führte, in einem überfüllten U-Bahn-Waggon 1930 waren die spektakulärsten Ereignisse dieses Jahrzehnts. Insgesamt kam es in diesen Jahren zu rund 500 Morden, von denen die wenigsten aufgeklärt wurden. Man schätzt, dass Al Capone bis 1927 aus den Schutzgeldern pro Jahr etwa 60 Millionen Dollar einnahm. Seit seinem Auftauchen in Chicago 1920 war er zu einer Person, »so bekannt wie ein Boxweltmeister oder ein Millionär«, geworden.
American Memories
»Die Near North Side besteht zum vorwiegenden Teil aus sich hoch auftürmenden, teuren Apartment-Gebäuden und Nachtclubs. Hier versammeln sich die Junggesellen und junge Damen, die Karriere machen. Letztere teilen sich oft eine Wohnung. Das Viertel liegt bemerkenswert angenehm nahe zum Loop, zum See und zu den Straßenzügen, wo was los ist. Hier spielt sich das meiste Nachtleben der Stadt ab.«
Studs Terkel,
Ein ABC-Führer für Leute, die Chicago nicht kennen
Er kontrollierte nicht nur die 10.000 Flüsterkneipen in Chicago, sondern auch den illegalen Alkoholhandel bis Kanada und Florida. Festgenommen wurde er in Philadelphia nur einmal wegen unerlaubten Waffenbesitzes. Im übrigen stand er in diesem Jahrzehnt über dem Gesetz. In Chicago fuhr er in einem Panzerwagen umher. Wenn er ins Theater ging, umgab ihn eine Bodyguard von achtzehn jungen Männern in Smoking und mit merkwürdig ausgebeulten Ärmeln. Er besaß fünf Anwesen in Miami. Politiker und Richter erhielten aus seinem Hauptquartier ihre Weisungen.
Mit Aufhebung der Prohibition war die große Zeit der Bootlegging-Gangs zu Ende. Aber nun begann die Epoche der Rackets, ein Begriff, der zunächst ganz allgemein eine Beschäftigung bezeichnete, mit der sich leicht Geld verdienen ließ. Die Gangster fingen an, die Gewerkschaften zu unterwandern, und in Chicago verlagerten die Banden ihre Schutzgeld-Erpressungen auf Färbereien und chemische Reinigungen. Hatte vorher der Kunde für die Reinigung eines Anzuges 1,25 Dollar bezahlt, so zahlte er nun 1,75 Dollar. Geschäftsleute, die sich den Erpressungen widersetzten, riskierten, dass ihr Geschäft in die Luft flog. Entweder wurden Bomben geworfen, oder es wurde Sprengstoff in die Nähte der zum Reinigen abgegebenen Kleider eingenäht. War die beliebteste Waffe der Bootlegger die Maschinenpistole, so verwendeten die Rackets meist Bomben und Sprengstoffladungen. Von Chicago aus verbreiteten sie sich bald über das ganze Land.