Kitabı oku: «Der Weltenschreiber»
Heike Schwender, Frederik Offen
Der Weltenschreiber
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Zum Geleit
Prolog
Erster Teil - Paris
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Zweiter Teil - Bücherwelt
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Dritter Teil - Bücherwelt
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Ende
Epilog
Übersetzung 1
Übersetzung 2
Karte
Danke
Weitere Bücher der Autoren
Impressum neobooks
Zum Geleit
Sie sind der Sinn meines Lebens.
Meines Handelns.
Mein Vermächtnis.
Nur durch sie lebe ich.
Sie sind meine Verbündeten.
Meine Freunde,
die mir die Seele entlasten.
Ich brauche sie.
Die Worte.
Alfred, Weltenschreiber
Prolog
Paris
1982
Alles begann mit einem Buch.
Von außen erschien es ihm klein, alt und farblos. Der dunkle Ledereinband wies bereits deutliche Gebrauchsspuren auf und ein paar der darin liegenden Seiten schienen sich vom Leim gelöst zu haben und lugten unter dem Einband hervor. Sie waren an manchen Stellen eingerissen und hatten sich gelblich verfärbt. Das ganze Buch wirkte so … unscheinbar. Zumindest so lange man es von außen betrachtete. Ein Buch unter vielen in einem Antiquariat, das selbst schon bessere Zeiten gesehen hatte. Doch Monsieur Dupoit ließ sich nicht beirren. Die äußere Hülle, das Erscheinungsbild – er wusste, dass dies alles nur Fassade war. Eine äußerst clevere Art und Weise, nicht aufzufallen und weiterhin unbeachtet in dem hölzernen Regal in der hintersten Ecke des düsteren Verkaufsraums stehen zu bleiben. Wirklich, sehr clever.
Monsieur Dupoit lächelte. Er wusste es besser. Monatelang hatte er in Bibliotheken Nachschlagewerke gewälzt und die Untiefen zahlloser privater Büchersammlungen erkundet. Beim Stadtarchiv kannten sie ihn inzwischen beim Namen. Der Einband des schwarzen Notizbuchs, das in Monsieur Dupoits linker hinterer Hosentasche steckte, war vom ständigen Gebrauch fettig und quoll über vor losen Blättern, auf denen er seine zahllosen Theorien sowie historischen und literarischen Verweise verewigt hatte. Er hatte sich in seiner Wohnung regelrecht vergraben. Zeitungsstapel und Bücher, die er aus Bibliotheken ausgeliehen und dann vergessen hatte, bedeckten sämtliche Möbel und den Boden. Angefangen hatte es mit dem Schreibtisch, aber der war schnell zu klein geworden für all die Nachforschungen, die er betrieb. Heute wusste er schon gar nicht mehr, unter welchen Bücher- und Papierstapeln der Tisch überhaupt stand. Als nächstes hatten dann alle weiteren Ablageflächen in seiner Wohnung dran glauben müssen. Küchen- und Esstisch, die Kommode im Flur, der Schrank im Wohnzimmer und schließlich Stühle und die grüne fleckige Couch. Hatte er nicht auch irgendwann einmal ein Klavier besessen? War das nur im Papierchaos untergegangen oder hatte er es versetzen müssen, um Geld für seine Nachforschungen aufzutreiben?
Marie, seine Frau, hatte anfangs noch über sein liebenswertes Chaos gelächelt und stillschweigend versucht, wenigstens ein Mindestmaß an Ordnung aufrechtzuerhalten. Aber aus dem Lächeln war irgendwann ein gequälter Gesichtsausdruck geworden, schließlich ein Stirnrunzeln und dann war Marie mitsamt ihrem Gesichtsausdruck und ihrer beider Tochter aus der gemeinsamen Wohnung verschwunden und hatte ihn alleine zurückgelassen. Er konnte es ihr nicht verdenken. Vor allem da er ihren Auszug erst nach einigen Tagen bemerkte, dann nämlich, als er endlich realisierte, dass er keine Mahlzeiten mehr vorgesetzt bekam und beißender Hunger bereits seinen Verstand vernebelte. Er ernährte sich anschließend von Kaffee, Zigaretten und belegten Baguettes. Den Schritt aus der Tür, um zu dem kleinen Lebensmittelladen an der Ecke zu gehen, tat er immer dann, wenn er sich daran erinnerte, dass es solch ein Gefühl wie Hunger in der Realität, aus der er sich inzwischen meilenweit entfernt hatte, immer noch gab.
Und nun war er hier. Er hatte sein Ziel erreicht. Monsieur Dupoits Lächeln vertiefte sich. Ein letztes Mal holte er sein Notizbuch hervor, um es zu konsultieren. Er las die letzten paar Zeilen, die er geschrieben hatte – mit euphorischer Hand und dick unterstrichen. Anschließend fand das Buch wieder Platz in der bereits unförmig verbeulten hinteren Hosentasche. Die paar losen Seiten, die beim Wegstecken auf den Dielenboden flatterten, bemerkte Henri Dupoit in seiner Aufregung nicht. Dies war sein Augenblick. Sein Ruhm. Sein Vermächtnis.
Langsam streckte Monsieur Dupoit eine zitternde Hand nach dem Buch aus. Da war es. Unter seinen Fingern konnte er jede Unregelmäßigkeit des dunkelbraunen Ledereinbands spüren. Fast liebevoll glitten sie sanft über die zerfurchte Oberfläche, die ihm auf seltsame Weise vertraut vorkam. Dann wurde sein Griff fester. Monsieur Dupoit schickte sich an, das Werk aus seinem langen Dornröschenschlaf zu erlösen und das Buch aus dem Regal zu ziehen. In diesem Moment verschwand er.
Erster Teil - Paris
2012
Kapitel 1
Das durchdringende Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Oder aus ihrem Schlaf? Sarah war sich nicht sicher. Ihr Kopf fühlte sich schwer an. Ob das in ihm aufgestaute Wissen daran schuld war? Die Biographie, die sie sich am vorherigen Tag zu Gemüte geführt hatte, war nicht unbedingt das gewesen, was sie als leicht verdauliche Kost bezeichnen würde. Andererseits konnte natürlich auch die Flasche Rotwein an ihrem vernebelten Verstand schuld sein. War es wirklich nur eine Flasche gewesen? Fast kam es ihr so vor, als hätte sie eine zweite geöffnet...
Das Läuten des Telefons verstummte und Sarah seufzte erleichtert auf. Wohlig ließ sie sich in die Kissen zurückfallen und begann, in einen neuen Traum abzudriften. In dem Traum klingelte das Telefon. Sarah fuhr zusammen. Nicht schon wieder! Wieso ließ man sie nicht einfach in Ruhe schlafen? Es konnte doch noch nicht so spät am Tag sein, oder? Sarah stellte insgeheim fest, dass sie im Laufe der letzten Tage – oder Wochen? – jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Sie öffnete mühsam ihre Augen und wurde mit einem grellen Licht belohnt, das es ohne Zweifel darauf abgesehen hatte, ihr für immer das Augenlicht zu rauben. Rasch ließ sie ihre Lider wieder zufallen und fühlte Erleichterung, als sie sich erneut der friedlichen Dunkelheit anvertrauen konnte. Wenigstens wusste sie jetzt, dass es in der Welt dort draußen Tag war.
Das nervtötende Klingeln des Telefons verstummte abermals, doch mit Sarahs innerer Ruhe war es vorbei. Nun lag sie angespannt im Bett und wartete nur darauf, dass das Läuten ein drittes Mal begann. Lange dauerte es nicht, dann erklang der rhythmische grelle Ton, der ihre Nackenhaare zu einem zitternden Tanz veranlasste, erneut. Sarah biss die Zähne zusammen. Das war es also mit ihrem Schlaf! Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass sich dieser Anrufer nicht zufrieden geben würde, bis sie ihm persönlich gesagt hatte, was sie von dieser penetranten Störung und unerwünschten Einmischung in ihr gewohntes Einsiedlerdasein hielt.
Mit einem leichten Stöhnen richtete sich Sarah auf, strich sich ungeduldig die langen braunen Haare aus dem Gesicht und versuchte ihr Glück ein weiteres Mal mit dem grellen Licht, das durch ihr unverhülltes Schlafzimmerfenster drang. So viel Licht ... wie lange war es her, dass sie so viel Licht gesehen hatte? Wann war sie überhaupt das letzte Mal dort draußen gewesen? Nur gut, dass sie nun immerhin wusste, worauf sie sich einzustellen hatte. Sie war vorgewarnt. Und so schaffte sie es auch, die Augen einen Spalt breit zu öffnen. Diese Welt dort draußen war wirklich anstrengend; stellte ständig Ansprüche an sie und setzte sie Zwängen aus, die sie sich geschworen hatte, nicht weiter zu befolgen. Sarah runzelte missmutig die Stirn.
»Zu viel negative Energie am Morgen!«, entschied sie insgeheim. Jetzt brauchte sie erst einmal dieses verflixte Telefon!
Sie stolperte durch ihr Schlafzimmer, stieg vorsichtig über aufgeschlagene und durcheinander geworfene Bücher und betrat den Flur ihrer kleinen Wohnung. Dort, auf dem Tischchen neben der Garderobe, stand das Telefon. Zumindest stand es normalerweise dort. Jetzt allerdings war auf dem Tischchen nur ein weiterer Bücherstapel immerhin recht ordentlich drapiert. Sarah starrte ihn einen Augenblick lang verwirrt an. Dann registrierte sie etwas. Waren das die Memoiren von Lizzy Körner, die sie schon so lange gesucht hatte? Irgendetwas hatte sie darin nachschlagen wollen. Was war das noch gleich gewesen? Das durchdringende Läuten des Telefons, nein, der Basisstation, die auf dem Boden hinter dem Tischchen stand, riss sie aus ihren abschweifenden Gedanken. Wo zum Teufel war nur der dazugehörige Telefonhörer?
Sarah hielt einen Moment lang inne und versuchte sich daran zu erinnern, wann sie das Telefon zuletzt gebraucht hatte. Die Vermutung lag nahe, dass sie damit eine Pizza oder irgendein Nudelgericht bestellt hatte. Vielleicht auch asiatisch? Wieder ertappte sie ihre Gedanken dabei, wie sie sich verselbständigten und sich eigene, unabhängige Wege suchten. In ihrem Verstand musste es genauso chaotisch aussehen, wie in ihrer kleinen Mansardenwohnung. Seufzend schüttelte Sarah den Kopf. So kam sie nicht weiter. Stattdessen würde sie den Telefonhörer eben auf die altmodische Art suchen – nach dem Gehör und ohne dabei ihr Gehirn unnötig zu beanspruchen.
Sie wandte sich in dem kleinen Flur nach links und verhielt kurz vor der Tür zum Badezimmer. Alles ruhig. Dann blieben das Wohnzimmer und die Küche. Falls sie den Hörer tatsächlich im Wohnzimmer suchen musste, würde sich das überaus schwierig gestalten. Das Wohnzimmer war der Raum, in dem dieses ganze Chaos seinen Anfang genommen hatte. Dementsprechend sah es dort am Schlimmsten aus. Die gestapelten Bücher waren ein Anblick, den man in der ganzen Wohnung genießen konnte. Aber hier kamen noch scheinbar sinnlos durcheinander geworfene Zeitungen hinzu. Zwischen denen wiederum lagen handbeschriebene, lose Notizzettel. Sarah überlegte angestrengt. Hatte sie nicht auch einmal ein Notizbuch besessen? Sie erinnerte sich vage daran, dass ihr das Buch irgendwann zu klein geworden war und sie in ihrer Eile, verschiedene Dinge schriftlich festzuhalten, damit begonnen hatte, einfach Blätter aus einem Block herauszureißen und ihre Notizen darauf festzuhalten. Allerdings waren diese losen Zettel nun in der gesamten Wohnung verteilt und sie würde Tage brauchen, sie alle wieder einzusammeln und entsprechend der Reihenfolge ihrer Nachforschungen anzuordnen.
Sarah schüttelte grinsend den Kopf. Sie war wirklich der chaotischste Mensch, den sie kannte! Ihr Blick glitt über leere bis halbvolle Kaffeetassen und blieb an diversen Pizzakartons hängen.
»Ich muss unbedingt ein bisschen Ordnung in dieses Durcheinander bringen!«, dachte sie nicht zum ersten Mal.
Es war nicht so, dass sie sich nicht nach einem aufgeräumten Wohnzimmer sehnte. Nach einem Wohnzimmer, in dem man sich die gemütliche Couch nicht mit diversem Schreib- und Papierkram teilen musste – immer vorausgesetzt, man fand das Sitzmöbel unter dem ganzen Durcheinander überhaupt! Aber Sarah wusste auch, dass sie in der näheren Zukunft nicht zum Aufräumen kommen würde. Stattdessen käme es irgendeinem wichtigen Buch genau in einem solch seltenen Moment der Arbeitswut und Motivation in den Sinn, ihr in die Hände zu fallen. Dieses Buch würde ihr dann weismachen, dass es genau das eine wäre, auf das sie die ganze Zeit gewartet hatte und das ihr die finalen Erkenntnisse liefern würde, die sie so unbedingt brauchte und schon so lange suchte! Das Buch würde sie auf die Art und Weise für einige Zeit so sehr fesseln, dass sie alles andere darüber vergaß. Anschließend würde sie genau im falschen Moment das nächste Buch finden, und das nächste ... Aber ihre Nachforschungen waren es doch auch wert, alles andere darüber zu vergessen! Oder? In letzter Zeit allerdings waren ihr Zweifel an dieser Ansicht gekommen. Immer häufiger meldeten sie sich zu Wort und es fiel Sarah zunehmend schwerer, sie wieder verstummen zu lassen.
Die junge Frau riss sich von diesen Gedanken los. Gott sei Dank entschloss sich das Telefon just in diesem Augenblick zu einem vierten Klingelmarathon und nahm ihr damit die Möglichkeit, im ewigen Kreislauf des Zweifelns und Mutfassens zu versinken. Für heute war sie gerettet. Und noch etwas Positives konnte sie feststellen. Das Klingeln des Telefonhörers kam eindeutig nicht aus ihrem Wohnzimmer. Demnach blieb nur noch die Küche.
Sie wandte sich zur letzten Tür und öffnete sie vorsichtig. Erleichtert stellte sie fest, dass das Chaos vor ihrer Küche zwar nicht Halt gemacht hatte, aber doch weit weniger ausgeprägt war als im Rest der Wohnung. Und das Klingeln wurde lauter. Sarah atmete hörbar auf, als sie den Hörer auf ihrem Kühlschrank liegen sah, neben einem Teller, dessen undefinierbaren Inhalt sie lieber nicht allzu genau betrachten wollte. Rasch griff sie nach dem Telefon und nahm den Anruf entgegen: »Sarah Leconte.« Ihre schon in natura recht raue Stimme klang nach der tagelangen Zwangspause noch kratziger als sonst. Im Hörer herrschte kurz Stille, wahrscheinlich hatte sie den Anrufer damit, dass sie ihn nun doch persönlich sprechen wollte, aus dem Konzept gebracht.
Dann hörte Sarah die aufgeregte Stimme ihrer Mutter: »Sarah, Schatz, wir haben uns Sorgen gemacht! Geht es dir gut?« Die so Angesprochene schloss ergeben die Augen und unterdrückte einen Seufzer. »Ja, Mutter, es geht mir gut. Es ist alles in Ordnung.«
»Wir haben dich nun schon seit drei Monaten nicht mehr gesehen!« Drei Monate war es also her, dass sie die Welt dort draußen besucht hatte? »Und vor zwei Wochen haben wir das letzte Mal telefoniert. Hast du etwa unsere Abmachung vergessen? Du wolltest dich doch jede Woche melden und dafür würden wir dich in Ruhe deiner Arbeit nachgehen lassen.«
Die Art und Weise, wie sie das Wort Arbeit sagte, verriet Sarah, dass sie dabei pikiert die Nase rümpfte. Die Arbeit. Damit war Sarahs Doktorarbeit gemeint, die sie momentan an der Universität bei Professor Valière verfasste. Nun ja, die sie dort bis zu jenem schicksalshaften Moment verfasst hatte, in dem ihre Nachforschungen begannen, sich um einen anderen, ihr wichtigeren Gegenstand zu drehen. Seitdem befand sich ihre Doktorarbeit, freundlich ausgedrückt, in einem Zustand des Kräftesammelns. Aber davon wussten weder ihre Mutter noch ihr Stiefvater. Sie würden es auch nicht verstehen. Es gab Momente, in denen verstand Sarah es selbst nicht.
Sie ließ ihre Mutter am anderen Ende der Leitung weiter reden, hörte mit halbem Ohr zu und versuchte hin und wieder, möglichst in den passenden Momenten, eine verständnisvolle Zustimmung in das recht einseitige Gespräch einfließen zu lassen. Mit dem Hörer ging sie gemächlich zurück in den Flur und dachte insgeheim darüber nach, welchem Teil ihrer Nachforschungen sie heute weiter nachgehen sollte. Den Nachforschungen, die hiermit begonnen hatten ...
Sarah blieb vor drei Bilderrahmen stehen, die ihren Flur schmückten. Die darin eingefassten Notizblätter erschienen widersprüchlich im Vergleich zu dem Chaos, das in ihrer restlichen Wohnung herrschte. Aber dem war nicht so.
Diese Notizen hatten ihre ganz eigene Bedeutung. Sie waren der Anfang. Der Beginn.
Und während Sarah versuchte, ihrer Mutter das Gefühl zu geben, dass mit ihrer Tochter alles in Ordnung wäre und sie ein ganz normales Gespräch führen würden, war sie mit ihren Gedanken schon wieder weit weg, bei den Notizen ihres Großvaters, die sie vor gut einem halben Jahr in der Universitätsbibliothek gefunden und heimlich entwendet hatte. Heimlich, weil sie wusste, dass die Seiten offiziell der Bibliothek gehörten, aber auch irgendwie trotzig, da diese Notizen ursprünglich von ihrem Großvater stammten und sie das Gefühl hatte, dass sie ihr als Erbin eigentlich zustanden. Der Ursprung ihrer Nachforschungen befand sich in diesen drei Bilderrahmen, die so trügerisch unscheinbar den sonst kargen Flur ihrer kleinen Wohnung schmückten.
Die junge Frau stand in ihrem T-Shirt und den Boxershorts in dem chaotischen Flur ihrer kleinen Mansardenwohnung. Ihr Kopf war den drei Bilderrahmen zugewandt, aber ihre Augen blickten weit weg ins Leere. Dort sahen sie Notizen, Schriften, Buchstaben, Bücher und Zahlen.
Sarah gönnte ihrer Mutter ein verständnisvolles Knurren.
//Etwas geschah, was nicht hätte geschehen sollen. Was nicht hätte geschehen dürfen. Etwas Böses war dort draußen. Es breitete sich aus und kam näher. Und näher. Langsam, aber stetig. Und bei weitem nicht so vorsichtig, wie es sich für das Böse eigentlich gehört hätte. Hier war keine Unsicherheit zu spüren, nur ein furchtbares Wissen um das eigene Können und viel Selbstbewusstsein. Überheblichkeit fast. Das Böse kam näher und entpuppte sich als einer der anderen. Er kam näher und war nicht aufzuhalten. Es versuchte, eine Verbindung mit seinem anderen Ich einzugehen, aber irgendwie wurde es von dem Eindringling daran gehindert. Es war allein und das Böse kam näher.//
Kapitel 2
Als Sarahs Telefon das nächste Mal klingelte, war sie gerade dabei, die Wohnungstür hinter sich ins Schloss zu ziehen. Mit gerunzelter Stirn verhielt sie mitten im Schritt und starrte zurück in die läutende Wohnung. »Das darf doch nicht wahr sein«, dachte sie verärgert. Da hatte sie sich nun endlich dazu aufgerafft, ihre Wohnung zu verlassen und nun dachte dieses verflixte Telefon, es könne sie davon abhalten.
»Aber nicht mit mir!«, beschloss Sarah siegessicher, trat durch die Wohnungstür hinaus in das Treppenhaus und zog die Tür heftiger hinter sich zu, als nötig gewesen wäre.
Ihr Weg führte durch den nur spärlich beleuchteten Hausflur, während das Klingeln hinter ihr bei jedem ihrer Schritte leiser wurde und schließlich ganz verklang. Nachdem Sarah die weit ausladenden, knarzenden Holztreppen hinter sich gebracht hatte, stand sie im Erdgeschoss neben den säuberlich in einer Reihe befestigten Briefkästen. Nun trennte sie nur noch die zweiflügelige schwere Eingangstür von der Welt dort draußen. Sarah atmete einmal tief ein und wieder aus. Sie war wirklich schon zu lange nicht mehr hier gewesen.
Mit dieser gruseligen Feststellung griff sie nach dem goldfarbenen massiven Türknauf und zog die Eingangstür nach innen. Als sie so das letzte Hindernis aus dem Weg geräumt hatte, machte sie zwei große Schritte und stand in der Welt der Lebenden.
Die Welt der Lebenden begann in einem kleinen Nebensträßchen in Paris. Sarahs Wohnung lag zentral, aber ruhig in der Rue de Grenelle. Welchem glücklichen Umstand sie ihren bezahlbaren Mietpreis verdankte, wusste sie nicht. Im besten Fall war ihr Vermieter ein Philanthrop. Vielleicht war er aber auch nur äußerst zufrieden damit, eine derart ruhige Mieterin in einer seiner Wohnungen zu haben, die sich so gut wie nie außerhalb ihrer vier Wände blicken ließ.
Das Haus in ihrem Rücken, stand Sarah da und fühlte eine unerklärliche Angst in sich aufsteigen. So mussten sich Krieger gefühlt haben, die sich hinter ihren schützenden Barrikaden hervorwagten, um einem übermächtigen Feind entgegenzutreten. Sarah runzelte erneut die Stirn. Was zum Henker war nur los mit ihr? Wann genau hatte sie den Moment verpasst, in dem ihre Abneigung vor der hektischen Realität zu einem so starken Gefühl wie Furcht wurde? Fast schon wollte sie ob dieser Erkenntnis panisch werden, aber dann gab sie sich einen Ruck. Es half alles nichts. Sie musste sich diesen seltsamen Ängsten stellen. Es sei denn, sie hätte tatsächlich vor, den Rest ihres Lebens in ihrer kleinen Mansardenwohnung zu verbringen.
Sarah riss sich von dem Haus los, das ihr noch einen gewissen Schutz vor der wartenden Realität vorgegaukelt hatte, und ging die Straße hinunter in Richtung ihrer Universität.
Alles, was sie brauchte, war ein bisschen Zeit, um sich wieder in der eigentlichen Welt zurechtzufinden. Und um sich mit ihr abzufinden. Die Einsamkeit ihrer Wohnung schien sie in einem fast undurchdringlichen Kreislauf gefangen gehalten zu haben, aus dem sie nun erst wieder ausbrechen musste. Lange Zeit hatte sie sich vor der Welt dort draußen versteckt und zusammen mit unzähligen Büchern in ihrer Wohnung vergraben. Aber nun stand ihr Entschluss fest. Die Studien, die sie während der vergangenen Monate betrieben hatte, waren alle im Nichts verlaufen. Jetzt war es an der Zeit, sich wieder mit der Welt außerhalb ihrer vier Wände – ob sie damit ihre Wohnung oder ihren Verstand meinte, war Sarah selbst nicht ganz klar – zu befassen. Deshalb – zurück zu den Lebenden!
Sie verhielt ihren Schritt und sah sich um. Ihr Blick erfasste die lange, gerade Straße und die schnell an ihr vorbeirasenden Autos. Sie hörte euphorisches Gelächter und verfolgte es bis zu einer Gruppe Jugendlicher zurück, die inmitten des Gehwegs standen und sich unterhielten. Da waren Musikfetzen, die aus einer Seitenstraße drangen. Irgendwo vor ihr weinte ein Kind. Sie hatte ganz vergessen, wie laut und hektisch das eigentliche Leben war!
Ein raschelndes Geräusch machte sie auf den Wind aufmerksam, der neben ihr durch die Zweige eines Ahorns strich, der einer in Reih und Glied stehenden Ahornkompanie angehörte, die wohl dem grauen Gehsteig einen täuschend grünen Anstrich geben sollte. Eines der Ahornblätter löste sich vom Baum und segelte langsam nach unten. Sarah folgte dem herabfallenden Blatt mit den Augen. Es war ein seltsames Gebilde, das es nicht eilig hatte, seine Reise zu beenden und auf dem Boden der Tatsachen anzukommen. Kein einzelnes Ahornblatt, das zur Erde schwebte – stattdessen war es ein kleines Stückchen Ast, an dem noch zwei Ahornblätter saßen. Und diese Anordnung machte das Gebilde zu einer Kuriosität, die in unendlich langsamen Kreisen stetig tiefer sank. Immer rundherum. Rundherum. Tiefer und tiefer. Bevor es den Boden berühren konnte, wandte Sarah den Blick ab. Sie mochte den vorherbestimmten traurigen Ausgang dieses kreiselnden Dramas lieber nicht mitansehen. Zu sehr erinnerte er sie an ihr eigenes kleines Leben. Ihre eigenen kleinen Kreise.
Dieses Gebilde war anders. Aber dennoch würde es mit der gleichen unausweichlichen Gewissheit am Boden ankommen wie gewöhnliche Blätter, die der regelmäßig wehende Wind vom Baum rupfte. Nur ohne deren Leichtigkeit.
Sarah ließ ihren Blick über die Häuserzeile neben ihr gleiten. Die Gebäude waren fast durchgehend weiß gestrichen und strahlten eine renovierte Eleganz aus, die so manch anderem Häuserblock in dieser Gegend fehlte. Auch hier bestanden die Häuser weitgehend aus Wohnungen, nur im Erdgeschoss reihten sich mehrere Geschäfte aneinander. Sarah konnte ein kleines Café und ein Reisebüro ausmachen. Und dahinter – war das nicht eine Buchhandlung? Trotz ihres neu gefassten Vorsatzes, den Büchern keine so große Macht mehr über ihr Leben einzuräumen, fühlte sie sich von der Buchhandlung doch magisch angezogen. Die fünfzig Meter bis zu dem Schaufenster waren rasch zurückgelegt und sie sah hinein. Enttäuschung machte sich in ihr breit. Eine von diesen Buchhandlungen war das also.
Sie starrte auf die Auslage, die aus nicht viel mehr bestand als dem derzeitigen Bestseller, der natürlich in den eindrucksvollsten Posen zwischen schreiend bunten Plakaten zur Geltung gebracht wurde. Den unschuldig vorbeigehenden Passanten wurde dabei eingetrichtert, dass an diesem Buch kein Weg vorbeiführte. Entweder sie ackerten sich von Anfang bis Ende durch, oder sie waren eben nicht auf dem Laufenden mit ihrer Belesenheit. Sarah beugte sich vor und las erschauernd den Titel des nicht allzu dünnen Wälzers: Das Dunkel der Finsternis.
Ihr höflich interessiertes Lächeln gefror zu einem ungläubigen Gesichtsausdruck. War das etwa ihr Ernst? Anscheinend. Und wie es aussah, verkaufte sich das Machwerk auch nicht schlecht. Oder warum wäre die Auslage sonst völlig frei von alternativen Werken? Eine eigenständig richtige Entscheidung im Sinne des Verkäufers schien man den Kunden hier nicht zuzutrauen.
Sarah spürte so etwas wie Trauer in sich aufsteigen. Ihr guter Vorsatz, sich künftig in weniger Büchern zu vergraben, begründete sich ausschließlich auf dem Wissen, dass sie sonst nicht wieder in diese reale Welt zurückfinden würde. Reiner Überlebensinstinkt. Aber es hatte nichts damit zu tun, dass sie Bücher nicht zu schätzen wüsste. Im Gegenteil – sie liebte Bücher! Aber sie liebte vor allem die Auswahl, die Möglichkeiten. Das nicht zu haben, hatte sie während ihrer Studien oft zur Verzweiflung getrieben. Vorgeschriebene Werke, in denen sie etwas zu finden hoffte, das sich nie blicken ließ. Was sie wollte, war eine komplette Buchhandlung voller Bücher, von denen sie noch nie etwas gehört hatte. Unbekannte, fantastische Welten, die sie vor ihrem geistigen Auge auferstehen lassen konnte. Abenteuer, Mysterien und ein romantisches Treffen mit jenem Fremden, den sie in der Realität bis heute noch nicht hatte finden können, aber von dem sie sicher war, dass er in den romantischen Passagen diverser Bücher auf sie wartete. Immer und immer wieder. Wann sie wollte. Wo sie wollte. Und wie sie wollte. Sarah lächelte.
Und sie erinnerte sich daran, warum sie eigentlich hier war. Hier, auf dem Gehweg vor diesem verstörenden Schaufenster. Hier, auf dem Weg zu ihrer Universität, um ihrem Professor mitzuteilen, dass aus ihrer Doktorandenkarriere nichts werden würde. Und wenn sie ehrlich mit sich selbst war, hätte ihr das eigentlich schon längst klar sein müssen. Ihr Promotionsthema hatte sie damals einfach allzu leicht ad acta gelegt und für etwas aufgegeben, das ihr wichtiger war. Unbestimmter. Zielloser. Aber wichtiger.
Sarah seufzte. Sie hatte das Gefühl, als bestünde ihr Leben aus unzähligen Abzweigungen, die sich aneinander reihten und von ihr Entscheidungen verlangten, die sie oft nicht zu treffen wusste. Und nach jeder Entscheidung taten sich neue Wahlmöglichkeiten auf, die sich der von ihr veränderten Wirklichkeit angepasst hatten. Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen. Es war zu spät, um ihre Entscheidung für die Promotion rückgängig zu machen. Diese Abzweigung in ihrem Leben hatte sie genommen, war einige Zeit auf ihr entlanggegangen und dann abrupt auf einen anderen Pfad gewechselt, der ihre privaten Studien in den Mittelpunkt stellte. Dieser Pfad jedoch hatte sie auch nicht an das ersehnte Ziel gebracht. Welches Ziel?, fragte sich Sarah insgeheim. Hatte sie da überhaupt eines? Oder lag ihr Bestreben nur darin, ein lohnendes Ziel zu finden?
Stattdessen war sie auf diesem neuen, nicht unbedingt sehr gut ausgewiesenen kleinen Pfad immer im Kreis herumgelaufen, wie in einem Labyrinth ohne Ausweg. Und nun war sie unversehens auf ihren ganz persönlichen Minotaurus getroffen. Er hatte sie zum Anhalten gezwungen. Zum Nachdenken. In gewisser Weise hatte er ihr die Grenzen ihrer Suche aufgezeigt. Da stand sie nun also und versuchte, zu der Abzweigung von damals zurückzugelangen. Runter vom kreiselnden Pfad, die Promotionsstraße zurück und dann an der Kreuzung auf zu einer neuen Entscheidung! Keine weiteren Studien. Keine Doktorarbeit.
Sarah runzelte die Stirn, als sie in ihrem Bewusstsein auf Gedanken traf, die weniger euphorisch klangen und deshalb von ihr bis jetzt ausgeklammert und verdrängt worden waren. War sie sich denn wirklich sicher, dass sie mit dieser Entscheidung, die sie nun getroffen hatte, glücklich werden würde? Nicht ihre abgebrochene Doktorarbeit war das Problem. Aber das so rätselhafte Verschwinden ihres Großvaters beschäftigte sie immer noch. Egal wie sehr sie sich auch dagegen sträubte und versuchte, diesen Gedanken aus dem Weg zu gehen – was nicht leicht war, da sie nun einmal irgendwo in ihr selbst ihr Zuhause hatten. Und ihr Gewissen konnte sich einfach nicht so recht damit abfinden, dass sie die Suche nach ihrem Verwandten aufgeben und abhaken wollte.