Kitabı oku: «Der Weltenschreiber», sayfa 8
Kapitel 16
Alfred irrte die ganze Nacht durch die Pariser Straßen. Manche waren überraschend belebt und ihre festliche Straßen- und Geschäftsbeleuchtung vermittelte den flanierenden Menschen einen trügerischen Eindruck einer bereits lange vergangenen Tageszeit. Andere wiederum waren düster und nur spärlich beleuchtet von einzelnen Lichtquellen, die ihre schwachen Strahlen beinahe entschuldigend in die Dunkelheit hinausschickten. Alfred war das egal. Seine Schritte waren gleichmäßig, ohne dass er darüber nachdenken musste. Seine Überlegungen hingen mit ganz anderen Dingen zusammen. Wichtigeren Dingen.
Zuerst dachte er darüber nach, was er in der kleinen heruntergekommenen Bar aufgeschnappt hatte, in der er den gestrigen Tag verbracht hatte. Schreibend, wie immer. Der verwirrte Mann, der da so überraschend in den Gastraum gestürmt war, hatte ihn völlig unangekündigt aus der Eintönigkeit seines Daseins gerissen und ihm eine Möglichkeit aufgezeigt, die ihn trotz seiner äußeren Gelassenheit innerlich aufgewühlt und bis in seine Grundfesten erschüttert hatte.
So lange! So lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet! Hatte eine Nachricht wie diejenige, die er glaubte, aus dem Gestammel des Mannes herausgehört zu haben, herbeigesehnt! Konnte es wirklich wahr sein? War das die Spur, auf die er so lange gehofft hatte? Wann genau hatte er eigentlich aufgehört zu hoffen? Er wusste es nicht mehr. Aber es lag schon geraume Zeit zurück.
Irgendetwas in Alfred sträubte sich dagegen, das Gehörte für wahr zu halten und sich erneut der Hoffnung hinzugeben. Er dachte an den Mann mit dem verstrubbelten Haar, der in die Bar gestolpert war und angefangen hatte, in hysterischem Tonfall auf den alten Barbesitzer hinter der Theke einzureden. Der hatte ihn nur wortlos angegafft, die Zigarette hing ihm dabei in einem Mundwinkel fest. Er hatte nicht einmal die Zeitung sinken lassen, in der er bis dahin gelesen hatte. Stattdessen war sein Gesicht immer ausdrucksloser geworden, als er dem so aufgeregten Neuankömmling schweigend zugehört hatte. Es war ihm ohne weiteres anzusehen gewesen, dass er den Fremden insgeheim für verrückt hielt. Und es war ja auch eine verrückte Geschichte, die der Mann auf seine verwirrte Art und Weise erzählt hatte. Es musste eine verrückte Geschichte sein für die Menschen dieser Welt! Aber eben nicht für Alfred.
Der großgewachsene Mann mit dem maskenhaft jugendlichen Gesicht, das von dichtem, blondem Haar umrahmt wurde, trat durch einen düsteren Torbogen und kam in eine weitere schmale Gasse, die nur spärlich beleuchtet war. Ohne auch nur zu merken, wo er sich gerade aufhielt, ging er einfach weiter. Immer weiter.
Der Fremde in der Bar hatte Schwierigkeiten gehabt, seine Geschichte klar darzulegen. Verworrene Gedanken und Erzählmomente wechselten einander ab. Unmöglich für den Barmann, da mitzukommen. Aber für Alfred war das nicht weiter schwierig. Er lebte für Wörter. Für Sätze. Für Geschichten. Nichts, was damit erzählt werden wollte – und auch das, was zwischen den Zeilen stand – blieb ihm verborgen.
Der Mann hatte von einer Bäckerei erzählt, die er zuvor in einer kleinen Seitenstraße entdeckt hatte. Und dort, vor dem Laden, hatte er als Straßenmusikant die vergangenen zwei Stunden verbracht. Er hatte seine Gitarre ausgepackt, den Gitarrenkasten aufgeklappt vor sich auf den Gehweg gestellt, seinen alten Hocker in die richtige Position gerückt und angefangen zu spielen. Die Bäckerei war nicht sehr gut besucht gewesen, aber hin und wieder kamen ein paar Kunden und betraten den Laden. Sehnsüchtig hatte der Musiker dann darauf gewartet, dass die Einkäufer wieder herauskamen und ihn mit einer Kleinigkeit bedachten. Er stellte sich vor, dass sie ihm sicherlich ein paar Münzen vom Wechselgeld zukommen lassen würden. Die Überlegung hatte nur einen Haken. Die Kunden, die in die Bäckerei gingen, kamen nicht mehr heraus.
Bei diesem Gedanken angekommen, gerieten Alfreds Schritte nun doch ins Stocken. Die Erzählung des Musikers war immer unübersichtlicher geworden. Klar war, er war nicht in die Bäckerei gegangen, sondern hatte durchs Schaufenster nach drinnen geblickt. Und was er dort gesehen hatte, brachte ihn beinahe um den Verstand. Dort drin war keine Bäckerei. Keine Ladentheke, keine Angestellten, die eine wartende Kundenschlange bedienten, kein frisch gebackenes Brot.
Stattdessen hatte der Straßenmusikant etwas gesehen, das eigentlich nicht sein konnte. Und diese unheimliche Tatsache war es, die seinen Geist verwirrt hatte und seine Geschichte in den Augen des Barmannes so verrückt erscheinen ließ. Der Musiker sprach von Feldern, Wiesen und Wäldern. Vor seinen Augen hatte sich ein Land erstreckt, so weit, dass es erst ganz in der Ferne an den Horizont gestoßen war. Dort, ganz am Ende seines Blickes, hatte er gemeint, Berge erkennen zu können. Und dann hatte noch etwas seine Aufmerksamkeit gefesselt. Ein dunkles, massives Gebäude, das er nur aus den Augenwinkeln hatte erkennen können. Als er seinen entsetzten Blick in diese Richtung hatte wandern lassen wollen, war er von einer Woge des Entsetzens überspült worden, die ihm keine klaren Gedanken mehr erlaubt, sondern nur den Wunsch in ihm geweckt hatte, so weit und so schnell wie möglich davonzulaufen.
Ohne noch irgendeine Kontrolle über sich selbst zu haben, hatte er seinen Platz vor dem Laden aufgegeben und war kreuz und quer durch die Straßen gerannt, bis er dann zufällig in besagter Bar gelandet war.
Alfred hatte seine Schritte wieder unter Kontrolle. In gleichmäßiger Geschwindigkeit ging er weiter. Es war sowieso schon ein außergewöhnlich großer Zufall gewesen, dass der Fremde den Weg in genau diese Bar gefunden hatte. Aber vielleicht hatte er sich auch nur auf der Suche nach einem Versteck befunden und da war ihm die Treppe, die auf den ersten Blick in den Keller führte, gerade recht gekommen. Oder aber es war gar kein Zufall gewesen … Alfred wischte diesen Gedanken fort. Im Grunde war es egal. Worauf es ankam, war das, was der Musiker hinter dem Schaufenster der Bäckerei gesehen hatte. Ein unheimliches Kribbeln machte sich in Alfred breit. Wenn hier etwas derart Unwirkliches geschah, dann lag die Schlussfolgerung nahe, dass dessen Ursprung nicht in dieser Welt zu finden war. Sondern in seiner. In der Welt der Büchergilde.
Aber was sollte er nun mit diesem Wissen anfangen? Alfred war davon überzeugt, dass es zwecklos war, nach besagter Bäckerei zu suchen. Das Eindringen des Menschen in die Machenschaften desjenigen, der diese Fassade erschaffen hatte, war bestimmt nicht unbemerkt geblieben. Entweder der Laden hatte sofort aufgehört zu existieren oder aber er war wieder zu der normalen Bäckerei geworden, die er vorher gewesen sein mochte. Je nachdem, auf welche Art das ganze fremdartige Ding erschaffen worden war.
Alfred graute vor der Frage, was mit den Menschen, die jene Bäckerei betreten hatten, passiert war. Wozu jemand das Gebilde überhaupt in diese Welt gesetzt hatte. Irgendwann würde er sich mit eben jenen Fragen auseinandersetzen müssen, aber jetzt noch nicht. Um sich in eine Position zu bringen, von der aus er sich einmischen konnte, musste er sein Buch wiederfinden. Im Moment war er nur ein Gestrandeter, der nirgendwohin gelangte. Auf diese Weise war es ihm unmöglich, in die Geschehnisse einzugreifen. Aber wenn er sein Buch wieder hätte …
Der Weltenschreiber spürte ein schmerzhaftes Ziehen in seiner Magengegend. Für einen Moment war es, als fehlte ihm jegliche Luft zum Atmen. Wieder stockten seine Schritte und er musste sich mit der rechten Hand an einer kalten Steinmauer abstützen, um nicht vollends das Gleichgewicht zu verlieren.
Eine Weile kämpfte er um jeden Atemzug und spürte, wie sich ein dünner Schweißfilm auf seiner Stirn zu bilden begann. Dann war der Moment vorbei. So schnell, wie er gekommen war.
Alfred ließ seine zitternde Hand noch einen Augenblick auf der kalten Steinmauer liegen, froh um den Kontakt zur menschlichen Realität, die durch seinen langen Zwangsaufenthalt auf der Erde zum Teil auch die seine geworden war. Dann richtete er sich langsam wieder auf und machte ein paar zögernde Schritte. Es dauerte eine ganze Weile, bis er zur gewohnten Gleichmäßigkeit seines Ganges zurückgefunden hatte. Sein Atem ging immer noch schwer. Und zurück blieb eine innere Sehnsucht, die er nicht mehr unterdrücken konnte.
So lange hatte er es geschafft, sich von diesem Gefühl zu distanzieren! Die Bindung, die zwischen seinem Buch und ihm bestand, war seit dem Tag, an dem es verschwunden war, nicht mehr fühlbar gewesen. Nur ein unbestimmtes Sehnen war zurückgeblieben, das er ignorieren musste, um sich nicht vollends aufzugeben, sondern um weitermachen zu können mit dem Wenigen, was ihm geblieben war. Dem Studium des menschlichen Lebens. Den leeren Büchern. Dem Schreiben.
Aber nun schaffte er das nicht mehr. Die Erzählung des Fremden in der Bar hatte ihm Hoffnung geschenkt. Ob sich das nun zum Guten oder zum Schlechten wenden würde, musste sich erst noch herausstellen. Aber da war sie – die Hoffnung. Und mit ihr die stetige Sehnsucht nach seinem Buch, seinem anderen Ich, die zu unterdrücken er jetzt nicht mehr in der Lage war.
Also musste er mit ihr zurechtkommen. Musste sie ertragen, ohne sich von ihr übermannen zu lassen. Sie durfte ihn nicht in seinen Gedanken stören oder seine Entscheidungen beeinflussen. Er musste sich jetzt ohne weitere Ablenkung mit dem Gehörten auseinandersetzen und überlegen, wie ihm das auf der Suche nach seinem Buch helfen konnte.
Alfred ging durch mehrere kleine Straßen, ohne weitere Überlegungen anzustellen. Nur mit sich selbst und seinem inneren Befinden beschäftigt, bestrebt, seine Gefühls- und Gedankenwelt wieder in Einklang zu bringen. Erst als ihm das in zufriedenstellender Weise gelungen war, setzte er seine Überlegungen fort.
Die Bäckerei würde ihn also nicht mehr direkt weiterbringen. Aber immerhin war er nun davon überzeugt, dass etwas im Gange war. Etwas, das möglicherweise aus seiner Welt kam. Etwas, das nichts Gutes im Schilde führte. Aber das alles war ihm seit jenem Tag bekannt, an dem er in sein Zimmer zurückgekehrt war, um feststellen zu müssen, dass jemand oder etwas das Unbegreifliche, Undenkbare getan hatte; dass sein Buch entführt worden war.
Jahrzehntelang hatte er sich Gedanken über den Grund dieser Entführung gemacht. Wozu brauchte jemand sein Buch? Und nun hatte er zumindest eine leise Ahnung davon. Aber diese Gedanken waren noch reine Spekulation. Er musste sich jetzt auf das Wesentliche konzentrieren. Nach dem, was er gestern in der Bar gehört hatte, kannte er nun die Art und Weise, wie jemand Teile dieser Welt manipulierte. Ein Laden, der wie eine gewöhnliche Bäckerei aussah und Menschen, die ihn ahnungslos betraten, um dann für immer darin zu verschwinden … Alfred blieb abrupt stehen. Irgendeine zaghafte Erinnerung wollte verzweifelt angehört werden. Er stutzte. Da war doch etwas gewesen … erst vor kurzem … Unbewusst fuhr er sich mit der Hand an die Stirn und begann, kreisende Bewegungen über seiner Schläfe zu vollziehen.
Er erinnerte sich an ein Gefühl. Ein Gefühl, das ihn unsicher werden ließ. Er war eine Straße entlang gegangen, als ihn dieses Gefühl überkam. Eigentlich war er nur zwei Menschen gefolgt, deren Beziehung zueinander er sich näher anschauen und für sein Buch verwenden wollte. Und dann war es plötzlich über ihn gekommen. Etwas Undefinierbares, Wurzelloses. Er wusste mit absoluter Sicherheit, dass irgendetwas falsch war. Aber er konnte beim besten Willen nicht sagen, was.
Alfred erinnerte sich vage, dass er in seiner damaligen Verwirrung mit jemandem zusammengestoßen war – mit einer Frau? – und dann weitergeeilt war, ohne den Grund für seine seltsamen Gefühle verstanden zu haben.
Alfred ließ die Hand sinken. Seine Gedanken rasten. Warum nur war er so schnell von dort verschwunden? War das etwa beabsichtigt gewesen? Hatte ihn etwas dazu gebracht, diesen Ort rasch wieder zu verlassen? War das vielleicht eine Art Sicherheitsvorkehrung gewesen, um die geheimen Machenschaften, die dort vor sich gingen, zu schützen? Und wusste er denn jetzt im Nachhinein noch, wo dieses dort war?
Er ging in Gedanken die Schritte durch, die er an jenem Tag getan hatte und entschied, dass er die Stelle wiederfinden würde. Und wenn ihn nicht alles täuschte, musste sich dort ein weiterer veränderter Laden befinden. Ein Ort, der die Menschen genauso hinters Licht führte – und schlimmstenfalls verschwinden ließ – wie jene Bäckerei. Und vielleicht war dieser getarnte Laden noch immer das, wozu er gemacht worden war. Dann konnte Alfred dort vielleicht etwas herausfinden, was ihm bei seiner Suche weiterhelfen würde.
Der Weltenschreiber spürte förmlich, wie sich die Hoffnung erneut in ihm regte. Und mit ihr der sehnsuchtsvolle Schmerz, der den Teil von ihm betraf, auf den er so lange hatte verzichten müssen. Entschlossen verabschiedete sich Alfred von seinen Gedanken und wandte sich wieder der Wirklichkeit zu. Er lenkte seine Schritte in die Richtung, aus der er Stimmen zu hören meinte. Nur kurze Zeit später befand er sich auf einer breiten Straße, die trotz der fortgeschrittenen Stunde noch überaus belebt war. Zu belebt. Und zu hell. Der hochgewachsene Mann, der da aus einer Seitenstraße kam, nahm die Tatsache, dass es bereits früher Morgen war, mit einem grimmigen Lächeln zur Kenntnis. Er musste wirklich vorsichtiger sein, wenn er sich so völlig von der Realität lossagte, um seinen Gedanken nachzugehen. Sollte er irgendwann einmal stundenlang reglos inmitten des Gehwegs stehen bleiben, würden die Menschen vermutlich doch misstrauisch werden.
Durch seinen jahrzehntelangen Aufenthalt in dieser Stadt dauerte es nicht lange, bis Alfred nach seinem nächtlichen Irrgang durch die Pariser Straßen die Orientierung wieder fand. Dann ging er gleichmäßigen Schrittes in die Richtung, in der er den Laden wusste, den er sich ansehen wollte. Der Weltenschreiber misstraute allen Dingen, die sich mechanisch oder elektrisch fortbewegten. Er war sich auch nicht sicher, ob er sich deren Hilfe bedienen konnte, ohne Aufsehen zu erregen. Zu wenig hatte er sich mit der menschlichen Technik befasst. Ihn interessierten Gefühle. Gedanken. Gespräche.
So dauerte es eine ganze Weile, bis Alfred endlich sein Ziel erreichte. Inzwischen war es bereits später Vormittag und die Straßen voller Menschen. Dennoch erkannte Alfred sie sofort wieder. Dort stand sie, direkt vor der Buchhandlung, genau wie vor zwei Tagen, als er sie aus Versehen angerempelt hatte. Er stutzte. War es denn ein Versehen gewesen? Hatten die Schritte des Musikers ihn gestern zufällig in die Bar geführt? Alfreds Augen wanderten kurz in die Ferne, so, als suchten sie dort nach einer anderen Welt, seiner Welt. Hatte er womöglich Hilfe? Hatten sie alle womöglich Hilfe?
Dann blickte er wieder nach vorne und hatte gerade noch Zeit, festzustellen, dass er nicht der Einzige war, der sich die Buchhandlung ansehen wollte. Die Frau mit den langen braunen Haaren, die sie unachtsam zurückgebunden hatte, war bereits auf dem Weg zur Tür. Wie es schien, folgte sie einem älteren Herrn, der seltsam zeitlos aussah. Alfred stutzte. Was ging hier vor? Wer war dieser Mann? Er sah aus wie ein Mensch, aber sein Gesicht … erinnerte an eine andere Welt. Alfreds Welt.
Der Weltenschreiber beobachtete verwirrt, wie der ältere Mann die Tür zur Buchhandlung öffnete und im Inneren des Ladens verschwand. Die Frau, die er von seinem Zusammenstoß her kannte und ein zweiter Mann, der ungefähr im gleichen Alter war, folgten ihm durch die offene Ladentür.
Erst als die drei Menschen die Buchhandlung betreten hatten, kam wieder Leben in Alfred. Während sich die Tür mit einem scheinbar zufriedenen Schwung, begleitet von einem hämischen Knarzen, schloss, begann der Weltenschreiber zu rennen.
Kapitel 17
Sie standen seit gut zwei Minuten vor der Buchhandlung, während der Verkehr hinter ihnen träge entlang zog. Durch die beiden Schaufenster war nicht viel zu erkennen. Die Auslagen hatten sich seit Sarahs letztem Halt hier nicht verändert; nur eine kleine Kreidetafel pries jetzt ein »Frühsommersonderangebot« an – vier Bücher für den Preis von drei. Matthew war sich angesichts des einzigen Titels, der das Schaufenster dominierte, nicht mal sicher, ob er hier überhaupt eines kaufen würde.
Die lautstarke, aber offensichtlich gut gelaunte Diskussion zweier älterer Damen, die ein Stück den Gehweg hinab standen, wurde nur gelegentlich von einem kräftigen Hupen übertönt. Hin und wieder war ein Vogelzwitschern weit über ihnen zu hören, aber ansonsten erfüllte nur der Klang einer Stadt zur Mittagszeit die Luft.
»Also, was ist nun? Gehen wir rein?« Sarah klang gleichermaßen ungeduldig wie unsicher. Matthew konnte deutlich seine eigenen Gedanken in ihrer Stimme wiedererkennen. Wie sollten sie das angehen? Der Fremde, von dem Sarah gesprochen hatte, war nirgends zu sehen. Dupoits Antwort war simpel – er öffnete die Tür und trat ein. Sarah und Matthew folgten ihm, ohne weiter zu zögern.
Ein Glöckchen über der Tür kündigte mit einem kurzen, hektischen Klingeln ihre Ankunft an. Der Raum schien rechteckig zu sein, aber genau war das nicht auszumachen. Nicht nur die Wände waren von dunklen, raumhohen Holzregalen gesäumt, auf der linken Seite des Ladens standen zwei davon quer und versperrten die Sicht. Zu ihrer Rechten waren vier lange Tische mit spiralförmig angeordneten Bücherstapeln bedeckt. Matthew trat einen Schritt vor und versuchte, an den Regalen vorbei tiefer in den Raum zu blicken. An der Rückwand verdeckte ein persisch anmutender Vorhang scheinbar einen Durchgang. Davor stand ein Tisch mit einer alten Registrierkasse und einem wesentlich moderneren Telefon. Weder der ausladende Leuchter an der Decke noch die grünen Wandlampen zwischen den Regalen waren eingeschaltet und das schräg einfallende Sonnenlicht wurde durch die Scheiben getrübt, als ob es sich nicht weiter in den Laden traute. Außer ihnen schien niemand hier zu sein.
Während Dupoit sich den Regalen links von ihnen zuwandte, ging Sarah an den Tischen vorbei in den hinteren Teil des Raumes. »Hallo?«, rief sie zaghaft. Sie drehte sich um und warf Matthew einen fragenden Blick zu. Dann rief sie wieder, diesmal bestimmter: »Ist jemand hier?«
Matthew hatte den Eindruck, als wäre bereits länger nicht mehr gelüftet worden. Die Luft war nicht wirklich drückend, aber roch etwas modrig – und es war mit Sicherheit nicht der Geruch alter Bücher, den er aus seiner Studienzeit nur zu gut kannte. Er blickte zu Sarah, die jetzt wie ihr Großvater angefangen hatte, die Regale genauer in Augenschein zu nehmen. Matthew ging zu einem der Tische. Die Bücher hier im vorderen Teil waren ausnahmslos neueren Datums: Thriller, Liebesromane, Selbsthilfebücher, Geschenkbände, Biographien. Nichts davon sah älter als ein halbes Jahr aus und Matthew erkannte einige von den Bestsellerlisten des Mercure wieder.
Er nahm das erstbeste Buch in die Hand. Auf dem Schutzumschlag in dramatischem Rot und Schwarz prangte in obszön großen Lettern Das Dunkel der Finsternis. Matthew legte es grinsend wieder auf den Stapel, doch als er schon weitergehen wollte, blieb sein Blick wieder an dem Umschlag hängen. Auf dem glatten Kunststoff war jetzt deutlich sein Handabdruck zu sehen. Er beugte sich vor und betrachtete die anderen Bücher auf dem Tisch. Ausnahmslos alle Bände, die oben auf den Stapeln lagen, waren mit einer feinen grauen Schicht überzogen. Matthew ging zügig zu den Regalen. Auch hier lag Staub auf jeder freien Fläche. Als er zu Dupoit blickte, der die Bücher nahe am Fenster inspizierte, sah er, dass bei jedem seiner Schritte winzige Staubwölkchen aus dem Teppich aufstiegen und im Sonnenlicht tanzten.
»Findet ihr es nicht auch seltsam, dass ein vollkommen neuer Laden so dick mit Staub eingedeckt ist?« Matthew sah, dass Sarah die Bücher, die vor ihr lagen, jetzt ebenfalls näher unter die Lupe nahm. Sie wandte sich Matthew zu und öffnete schon den Mund, um etwas zu sagen, drehte dann aber den Kopf etwas zur Seite und verharrte konzentriert ins Leere blickend. »Hört ihr das auch?«, fragte sie nach einigen Sekunden.
Matthew blickte nach unten und schloss die Augen. Zunächst hörte er nichts außer den gedämpften Geräuschen der Straße vor dem Laden, aber dann vernahm er tatsächlich ein leises Summen. Es erinnerte ihn an den Klang eines Generators, aber er konnte nicht bestimmen, woher es kam.
»Wir sollten gehen. Irgendetwas verändert sich. Ich kann es spüren und ich denke, das heißt nichts Gutes.« Es war Dupoit und seine Stimme klang auf einmal wieder schwach und brüchig, so wie an dem Abend, als er auf der Bank am Flussufer aufgetaucht war.
Matthew wollte ihm beipflichten, aber bevor er etwas sagen konnte, spürte er ein ungewohntes Kribbeln im Gesicht. Es kam ihm vor, als lade sich die Luft um ihn herum mit knisternder Elektrizität auf. Das Summen des Generators wurde plötzlich vom Rauschen einer toten Radiofrequenz abgelöst.
Inmitten des Rauschens erhob sich ein dumpfes Dröhnen. Matthew konnte es in seinem Bauch und hinter seinen Augen spüren. Dann gaben seine Knie nach und er knickte ein. Während der Boden auf ihn zukam, schien er nicht einfach nur zu stürzen; vielmehr hatte er das Gefühl des abrupten und schnellen Fallens, das ihn manchmal heimsuchte, wenn er bereits halb schlafend im Bett lag. Doch da war noch etwas anderes. In dem Maße, in dem er fiel, sagte ihm sein Kopf, dass er eigentlich nach oben stieg.
Seine Hände berührten den Boden. Auch jetzt, da er auf allen vieren war, hörten diese widersprüchlichen Empfindungen nicht auf. Um sie herum veränderte sich das Licht. Die wenigen Sonnenstrahlen, die in den Laden fallen konnten, zogen sich langsam zurück, und der Schatten aus dem hinteren Teil des Raumes kroch über den staubigen Teppichboden auf ihn zu. Er hob den Kopf und blickte zu Sarah. Sie stand noch auf ihren Füßen, eine Hand klammerte sich an eines der Regalbretter vor ihr, aber er konnte sehen, dass ihre Beine bereits nachgaben. Ihre Augen waren zusammengekniffen und Schweiß glänzte auf ihrer Stirn. Dupoit zu seiner Linken war ebenfalls auf den Knien und presste beide Hände gegen sein Gesicht. »Es ist ein Tor«, schrie er, und seine Stimme überschlug sich dabei vor Panik. »Es passiert schon wieder!«
Dann war es, als ob jemand schweigend den Raum betrat. Innerhalb eines Augenblicks verstummten alle Geräusche und zwei schwere, kalte Hände legten sich um Matthews Herz, mehr noch, um seinen Geist, und schienen jedes gute Gefühl, jede glückliche Erinnerung, jeden Anflug von Hoffnung aus ihm herauszupressen. Nie hatte er es für möglich gehalten, so viel Boshaftigkeit und Hass zu spüren, ein Hass, der ihn wie eine gewaltige schwarze Welle traf, abgrundtiefer Hass in einem weiten, leeren Raum ohne Zuflucht. Für einen Moment war er überzeugt, dass dies sein Ende war, dass sein Geist einfach verwelken und er als leere Hülle tot in diesem Staub zurück bleiben würde.
War er überhaupt noch auf dem Boden? War er noch in dieser Stadt? Seine Umgebung war jetzt nicht viel mehr als ein schwaches Echo der Wirklichkeit, das verschwommen hinter diesen immer neuen Wellen lag. So schwach es auch war, er konnte es spüren. Aber es fühlte sich fremd an, genauso fremd wie das unsichtbare Wesen, das so unvermittelt in diesen Raum und in seine Seele eingedrungen war. Was war mit Sarah und Dupoit? Er konnte sie nicht mehr sehen, so getrübt war sein Blick von dem Schmerz und der plötzlichen Verzweiflung.
Aber dann wurde der Griff schlagartig schwächer und die Wellen ebbten ab. Wieder veränderte sich etwas. Erst zaghaft, dann immer deutlicher, spürte er hinter sich eine zweite Präsenz. Matthew öffnete die Augen und er konnte wieder den Teppich erkennen, der jetzt nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war. Die Kälte kroch langsam aus seinem Herzen, während die Schatten sich wieder zurückzogen. Was er nun hinter sich wahrnahm, fühlte sich ebenso fremd an wie die erste Präsenz, aber statt Verzweiflung durchströmte ihn jetzt wärmende Hoffnung. Es war kein Hass, sondern Mitgefühl, das dieses Wesen antrieb. Sein Blick wurde klarer und er sah, dass Sarah wieder aufrecht stand. Sie hielt ihre Augen noch geschlossen, aber der Ausdruck auf ihrem Gesicht wirkte jetzt entspannt. Matthew sah besorgt zu Dupoit, aber auch er war schon wieder dabei aufzustehen.
Das Gefühl kehrte in Matthews Knie zurück. Er stützte sich mit einer Hand auf und drückte sich nach oben. Leicht schwankend stellte er sich hin. Die Regale und Tische waren verschwunden und dort, wo vorhin noch ein Vorhang einen Durchgang verdeckt hatte, sah er jetzt nur die nackte Wand. Sie standen in einem leeren, staubbedeckten Raum. Aber sein Gefühl verriet Matthew, dass sie noch nicht wieder alleine waren.
Er drehte sich um und blickte zur Tür. Der junge Mann, der dort mit geschlossenen Augen und halb erhobenen Händen stand, sprach mit einer tiefen, aber keineswegs bedrohlichen Stimme.
»Mein Name ist Alfred. Ich denke, wir sollten uns unterhalten.«

