Kitabı oku: «Rhöner Nebel», sayfa 4
10.
Schwester Romana lud zur Hausführung, als fordere sie Freiwillige auf, in einen Boxring zu treten. Resolut in die Hände klatschend rief sie: »Die Hausführung fängt in fünf Minuten an. Bitte sammelt euch am Eingang!« Ihre Stimme trug weit über den Hof.
Katinka stellte ihren Teller weg. Sie hatte sich eine Portion Reissalat genommen und trank rasch ein paar Schlucke Limonade hinterher. Mit Anja war nicht mehr zu reden. Sie hatte sich in eine Unterhaltung mit Gitta Krone geflüchtet und Katinka nicht einbezogen. Irgendein sehr spezielles Problem hat sie, dachte Katinka, während sie unweit der beiden Frauen stehen blieb und unaufmerksam den Ausführungen von Gitta Krone lauschte. Unter Pädagogik verstand die Erzieherin anscheinend, Menschen die korrekte, also ihre, Sicht auf das Leben und alles weitere beizubringen, und sie beschwerte sich bitterlich, dass ihre selbstlosen Bemühungen bis heute nicht anerkannt wurden.
»Es wird immer schlimmer, Anja, das können Sie mir glauben. Heutzutage bewältigen Sie den pädagogischen Alltag nicht ohne eine Nahkampfausbildung. Ich bin so froh, dass Manfred und ich endlich aus allem raus sind. Internatsarbeit ist eine Stressbelastung wie in einem Flughafentower.«
Katinka verdrehte die Augen, während sie ihre Klientin antippte. »Anja? Wir wäre es mit der Hausführung? Ich glaube, Herr Gebsen möchte sich auch anschließen.« Sie wies mit dem Kinn auf den Mann in seiner Motorradkluft, der sich bereits am Eingang aufgestellt hatte. Mit seinen fast zwei Metern überragte er alle anderen.
»Ich komme gleich.« Demonstrativ wandte Anja sich wieder Gitta Krone zu.
Katinka schloss sich den Leuten an der Eingangstür an. Eine Menschentraube wartete auf Schwester Romana, die die paar Stufen zum Haus hochstieg und alle aufforderte, nah beieinander zu bleiben. Freudiges Gelächter erklang.
»Ihnen müssen die Räumlichkeiten ja vertraut sein«, sagte Katinka zu Tobias Gebsen, an dessen Seite sie sich wie selbstverständlich eingefunden hatte.
»Das stimmt.« Er grinste Katinka an. »Warum siezen Sie eigentlich Ihre Freundin?«
»Wir kennen uns noch nicht so lang. Waren Sie denn früher mit Anja befreundet? Oder hatte man nur miteinander zu tun, weil man zufällig am selben Ort arbeitete?«
»Nein, wir unternahmen recht viel zu Beginn des Schuljahres. Abends mal flott nach Mellrichstadt runter, Disko. Ab November wurde das leider schwierig wegen des Wetters. Es schneit wie verrückt hier.«
Die Gruppe folgte Schwester Romana einen Gang hinunter.
»Unseren ehemaligen Schülern muss ich wohl nichts über die Musikübungsräume sagen, nicht wahr?«, dröhnte die Schwester. Katinka lugte in eine Kammer, gerade groß genug für ein Klavier und zwei Hocker.
»Wenn die Anfänger Unterricht hatten, mied man die Ecke gern«, lachte Gebsen. »Manchmal hat einer geübt, ganz der brave Klavierschüler, und sein Kumpel konnte im selben Zimmer unbeobachtet den Moonwalk nach Michael Jackson üben. Der war anno dazumal total in.«
»Hat Sie das nicht gestört? An so einem entlegenen Ort festzusitzen?«
»Eigentlich nicht. Ich stamme aus der Gegend. Raues Wetter macht mir nichts aus. Zudem war der Hausmeister sehr nett zu mir und ein wahres Bastelgenie. Ich habe mich schon immer für Technik interessiert. Was ich bei ihm alles gelernt habe …«
»Also hat sich der Zivildienst gelohnt.«
Gebsen nickte. »Schauen Sie, Romana öffnet gerade die Tür zum Speisesaal. Lange Tische mit Stühlen, kein Bild an der Wand, drei tote Fliegen auf dem Fenstersims. So war das damals.«
Katinka lachte. Gebsens lockere Art tat ihr gut, vor allem nach Anjas Geheimnistuerei. »Konnte einem auf den Appetit schlagen, schätze ich.«
»Der Geräuschpegel hier drin war so hoch, dass Gehörschutz eine gute Investition gewesen wäre. Allerdings nur bis zu dem Moment, in dem das Essen auf den Tisch kam.«
Katinka ließ den Blick schweifen. Ein ganzes Schülerleben so zu verbringen, eingetaktet in die Abläufe eines Tages – man musste dafür geboren sein.
Aus Anlass der Geburtstagsfeier hatte man aus den langen Tafeln Sechsertische gemacht. Einige Frauen wirbelten durch den Saal, dekorierten, deckten die Tische. Die Atmosphäre knisterte, Vorfreude lag in der Luft.
»Anja meinte, es hätte sogar ein Schwimmbad gegeben.«
»Als ich hier Zivi war, ja. Später hat man das zugeschüttet. Zu pflegeintensiv, zu teuer.«
»Ich nehme an, Sie waren so etwas wie ein Kleeblatt?«
»Was?«
»Sie, Anja und Kirsten?«
»Wenn Sie so wollen … Wir haben uns gleich gut verstanden. Später hat sich Anja in Martin verguckt und ich mich in Kirsten.«
»Wirklich?«
»Ja, aber wir waren letztlich zu unterschiedlich. Ich kam aus einer Familie mit vier Geschwistern und den Großeltern, die bei uns lebten, war also an Umtrieb und Chaos gewöhnt. Kirsten hatte nur ihre Mutter und sehnte sich oft nach Ruhe. Die Mutter arbeitete an einem Theater. Kirsten kannte viele Schauspieler und andere kreative Leute. Ich war es gewohnt, mit praktisch denkenden Menschen zu tun zu haben. Am Anfang zogen wir einander an. Die viel beschworenen Gegensätze. Dann wurde es schnell schwierig. Die Erwartungen waren zu unterschiedlich. Zudem waren wir noch richtige Kinder.«
»Kirsten ist heute nicht da?«
Gebsen blieb ruckartig stehen, Katinka wäre beinahe gegen ihn geprallt.
»Hat Anja Ihnen das nicht erzählt?«
»Was denn?«
Die Gruppe war vorausgegangen und in der Küche verschwunden. Von fern drang Schwester Romanas Organ zu ihnen heraus.
»Kirsten ist tot.«
»Ach du Schreck.«
»Ja. Sie starb während ihres sozialen Jahres. Eine Tragödie war das. Echt. Ich hätte nie gedacht …« Sein Blick verlor sich in der Vergangenheit.
»Sie hätten nie gedacht?«
»Ach, sei’s drum. Ist müßig.« Ein trauriges Lächeln spielte um seine Lippen. »Wollen Sie nicht die Küche bestaunen?« Damit eilte er auf seinen langen Beinen davon.
Katinka hatte Mühe, dass sie hinterherkam.
*
11.
Letztlich ist stets das Geld das Problem. Sogar im Kloster.
Der Unterhalt des Hauses war und ist zu kostspielig. Müssen wir unser Zuhause wirklich aufgeben? Das Leben erscheint mir so aussichtslos. Abgeschoben werden, in ein Altersheim für Nonnen. Darf das unser Ende sein?
Wir haben uns ins Zeug gelegt, mit den veränderten Bedingungen umzugehen, haben Häuser und Besitz verkauft, das Geld in Fonds angelegt, alles gemacht, was die Berater vorschlugen, ohne genau zu verstehen, was wir da taten. Ist es nicht besser, die Dinge auf sich beruhen zu lassen? Muss man jeden Dreck wieder unter dem Teppich hervorkehren? Ist es nicht barmherziger, wenn er sich dort festtritt? Alle haben zurück in ihr Leben gefunden. Warum es erneut auseinanderreißen?
Nichts hat uns sattelfest gemacht. Kein Gebet, keine Vernunftentscheidung, kein Zähneknirschen.
Ich habe geahnt, dass diese Feier keine gute Sache sein wird. Es wäre angemessener, wenn wir beteten für die, die wir vernichtet haben, ohne es zu wollen. Wie eigenartig das Leben mit uns Menschen spielt! Oder spielt Gott mit uns?
Heiliger Geist,
Geist der Weisheit und der Einsicht
Geist der Erkenntnis und der Frömmigkeit
Geist der Gottesfurcht
Geist des Glaubens und der Hoffnung
Geist der Liebe
– erbarme dich unser2
*
2 Aus: Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch der Erzdiözese Bamberg 2013. Heilig-Geist-Litanei, S. 609f.
10.2.1988
12.
Es schneite. Der Winter wollte kein Ende nehmen. Mähling hatte den Motor gehört und trat ans Esszimmerfenster. Schob die Gardine ein wenig zur Seite. Tatsache. Horweg. Unangemeldet. Er ließ den Store fallen, aber Horweg hatte ihn bereits erspäht und machte keinen Hehl daraus. Gönnerhaft winkte er Mähling zu. Vor ein paar Tagen hatte die Nachbarin gesagt: »Sie bekommen ganz schön oft Besuch von drüben! Dass die ihre Leute so oft rauslassen.«
Die alte Wagner, zum Henker! Die hatte vorne und hinten Augen. Natürlich war ihr aufgefallen, dass immer derselbe Wartburg auf der Auffahrt parkte. Mähling begann zu schwitzen. Seine Frau war bei ihrer Schwester. Wenigstens hatte er freie Bahn.
Er ging zur Tür und öffnete, ehe Horweg klingelte.
»Herr Horweg!« Er bemühte sich um einen fröhlichen Klang. Ein netter Überraschungsbesuch unter Freunden. Wer würde an diese Version glauben? Horweg bestimmt nicht.
»Es tut mir leid, dass ich so unangekündigt hereinschneie. Im wahrsten Sinne des Wortes. Was für ein Wetter! In der Rhön oben steckt man beinahe fest. Wenigstens waren die Schneepflugfahrer fleißig. Auf beiden Seiten.« Er grinste.
»Kommen Sie rein.« Mähling führte ihn ins Arbeitszimmer. »Darf’s ein Drink sein?«
»Da sage ich nicht Nein.«
Mähling goss Bourbon in zwei schwere Tumbler.
»Zum Wohl!«
»Auf die Feindbilder!« Horwegs Augen blitzten. »Was wären wir ohne sie, nicht wahr, Eduard?«
Mähling hob sein Glas. »Was führt Sie zu mir?«
»Meine Kunden warten. Es geht um einen fähigen Beamten des Ministeriums für Staatssicherheit. Er musste bei einer Beförderung leider in die zweite Reihe treten. Tja, zu schade, dass es nur eine beschränkte Anzahl hoher Positionen gibt und zu viele Kandidaten mit herausragenden Talenten, die eine Beförderung verdienen.«
Horweg trug seine Worte so überzeugt vor, dass Mähling sich fragte, ob der Mann wirklich an diesen Mist glaubte.
»Sie haben Angst, dass der Übergangene Druck macht, wenn er nicht mit einem gleichwertigen Bonus beschwichtigt wird«, sagte er ruhig.
Horweg lehnte sich zurück. Sein Haar war zu lang für einen DDR-Kader. Er agiert in einer Grauzone, dachte Mähling. Ein zu smarter, zu cleverer Typ. Der sich in alle Richtungen absichert. Eine schillernde Schmeißfliege.
»Lassen Sie mich ehrlich sein, Eduard. Sie zögern nun schon recht lang.«
»Der Künstler braucht mehr Zeit.«
»Für eine simple Kohlezeichnung, die er streng genommen bloß abpausen musste?«
Mähling schwitzte noch mehr. Spaßend hob er den Zeigefinger: »Lassen Sie das um Gottes willen nicht den Künstler hören.«
Horweg beugte sich vor. Er wusste um die Macht des Schweigens. Nachdenklich drehte er den Tumbler in seinen feingliedrigen Fingern, während er angelegentlich den Perserteppich musterte. »Bei euch im Westen nagen die Künstler am Hungertuch. Der arme Poet. Der arme Maler.«
Mähling erwiderte nichts. Er ließ sich auf das Kräftemessen ein. Ihm blieb nichts anderes übrig. Dass Künstler Mimosen seien, diese Ausrede hatte er längst überstrapaziert. Er wollte aussteigen aus diesem Geschäft, aber er war zu ängstlich. Wenn das Ministerium für Materialbeschaffung in Ostberlin sein Fotopapier nicht mehr wollte, stünde er da. Zumal ihm in der Folge auch das Geld aus dem Business mit Horweg abginge. Ein Sechsjähriger könnte ausrechnen, dass er bis zum Sommer pleite wäre.
»Ich will damit sagen«, fuhr Horweg fort, als Mähling keine Anstalten machte, etwas zu erwidern, »ich kann mir nicht vorstellen, dass der Mann den guten Verdienst einfach so in den Wind schreibt.«
»Vermutlich arbeitet er darüber hinaus noch für andere. Ich kann ihn nicht drängen, das ist die Basis meiner Zusammenarbeit mit ihm. Ansonsten macht er dicht. Dann war es das.«
Horweg ließ die braune Flüssigkeit im Glas schwappen. »Eduard. Ich darf Sie doch Eduard nennen, nach allem, was wir in der Vergangenheit miteinander ausgehandelt haben? Männer wie wir können die Welt verändern, mein Freund.«
Verändere erst mal dein absurdes Land da drüben, dachte Mähling. Er hätte sich nie auf Horweg einlassen dürfen. Der Mann war mit allen Wassern gewaschen und würde nicht davor zurückscheuen, Opfer zu bringen. Man wusste genug über die Machenschaften der Stasi, über die »Zersetzung« unliebsamer Bürger, die man kaputtmachte, indem man ihre sozialen Beziehungen zerstörte, ihnen die wirtschaftliche Lebensgrundlage nahm, sie wegsperrte. Leute wie Horweg hatten diesen menschenverachtenden Irrsinn perfektioniert.
»Sie haben doch einen Sohn. Nicht?«
»Ich habe eine Tochter.« In Mählings Innerem wurde alles ganz leer und kalt.
»Eine Tochter, aber auch einen Sohn. Ihre Frau weiß nichts davon, wie?«
Die folgende Stille knallte gegen Mähling wie eine Druckwelle. Du dreckiges Arschloch, dachte Mähling. Er stand auf. Lauernd sah Horweg ihn von unten an. Die Wanduhr tickte, und Mähling fand den Gedanken, dass seine Zeit ablief, absurd und erschreckend real zugleich.
»Ich werde sehen, was ich tun kann.«
»In spätestens vier Wochen.« Horweg erhob sich ebenfalls. »Immer wieder eine Freude, mit Ihnen Geschäfte zu machen, mein Freund.«
*
18.5.2018
13.
Die Hausführung endete nach einem Marsch durch sämtliche Stockwerke in der Kapelle, einem hellen Raum mit blauem Deckengewölbe, der im Stil des naiven Bauernkatholizismus gehalten war. Katinka meinte sich zu erinnern, dass dieser Begriff von Schwester Romana mit einem spöttischen Lächeln ausgesprochen worden war. Das Geburtstagskind blühte sichtlich auf. Mit ihren 80 Jahren entfaltete die Schwester eine Energie, die Katinka im Augenblick völlig abging. Sie sehnte sich nach einer Pause von den vielen Eindrücken und nach einer Stunde Ruhe, in der sie über Anja und ihre wahren Beweggründe, eine Detektivin zu engagieren, nachdenken konnte. Die Gruppe löste sich auf, einige wollten einen Spaziergang unternehmen, andere ihre Zimmer beziehen.
»Nicht vergessen, um 16 Uhr ist die Andacht, danach Abendessen!«, rief Schwester Romana in die Runde.
Katinka stöhnte leise. Von einem Programmpunkt zum nächsten getrieben zu werden, war ihre Sache nicht. Während der Hausführung war sie weiter bei Tobias Gebsen geblieben, obwohl dieser auf ihre Frage nach der geheimnisvollen Kirsten hin nachgerade verstummt war. Jedes Wort musste sie ihm aus der Nase ziehen. Nun hastete er davon, ängstlich darauf bedacht, nicht wieder in ein Gespräch verwickelt zu werden. Anja wechselte ein paar Worte mit Gitta Krone und verließ ebenfalls die Kapelle.
Katinka ging ihr nach. Im zweiten Stock angekommen, zögerte Anja kurz, bevor sie den Schlüssel in die Zimmertür schob. Sie gab sich einen Ruck und sperrte auf. Als sie die Tür schließen wollte, drückte Katinka dagegen und trat mit Anja in das Zimmer.
»Frau Riedeisen, ich reise ab. Ich stelle Ihnen einen halben Tag und die Fahrtkosten in Rechnung. Das war es dann.«
»Wie bitte?« Anjas Gesichtsausdruck, eben noch schroff, geriet zu einer erschrockenen Grimasse.
Katinka schloss die Tür hinter sich und sank auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Schweigend sah sie zu, wie ihre Klientin nach Worten rang.
»Was ist denn los?«, brach es schließlich aus Anja heraus.
»Das wüsste ich auch gern. Warum haben Sie mich als Begleitperson verpflichtet? Worum geht es Ihnen wirklich? Ich kann so nicht arbeiten.«
»Ich wollte nur eine Begleitung.«
»Da hätten Sie wer weiß wen mitnehmen können. Einen Ihrer Söhne oder eine echte Freundin. Warum mich?«
»Ist das so wichtig? Sie passen bis morgen auf mich auf. Das ist alles, was ich will, und ich bezahle dafür.«
»Sind Sie in Gefahr? In dem Fall brauche ich Fakten. Ansonsten kann ich Sie nicht beschützen und setze meinen guten Namen aufs Spiel.« Katinkas Handy gab Laut. Sie zog es aus der Tasche. Eine Antwort von Hardo zu dem Foto, das sie vor Stunden geschickt hatte. »Sapperlot«, schrieb er. Sonst nichts. Katinka steckte das Smartphone weg.
»Ich verstehe nicht«, murmelte Anja.
»Wer kann Ihnen gefährlich werden, Frau Riedeisen? Und in welcher Weise?«
Anja rang die Hände. »Niemand, glaube ich. Aber … ich fühle mich unwohl hier.«
»Vorhin hatten Sie ein angeregtes Gespräch mit Gitta Krone. Da wirkte nichts feindselig. Auch nicht im Kontakt mit den Schwestern Romana und Gertrudis. Geschweige denn Ihr kleiner Flirt mit Süderbeck. Also, was ist der Punkt?«
Anja ging zum Fenster. Sie schlüpfte aus ihrem Blazer, warf ihn aufs Bett. »Sie haben sich doch einverstanden erklärt mit meinem Auftrag. Warum setzen Sie mich jetzt unter Druck?«
Katinka hatte einen Grundsatz. Sie ließ sich nicht auf Psychodiskussionen ein.
»Wer war Kirsten, Frau Riedeisen?«
Anja fuhr herum. Ihr Gesicht war käseweiß.
»Was …«
»Sie, Tobias Gebsen und Kirsten waren Freunde. Sie hatten alle ein Jahr oder etwas mehr im Internat zu verbringen, alles war neu für Sie drei. Zu Beginn des Schuljahres unternahmen Sie ab und zu etwas gemeinsam, fuhren nach Mellrichstadt, gingen in die Disko. Und hernach brach das ab. Gebsen sagte, es hätte am Wetter gelegen, in diesen Breiten ist es im Herbst oft umständlich, bei überfrierender Nässe oder Schnee am Abend kilometerweit über die Höhen zu fahren. Außerdem verliebten Sie sich in Martin. Ein netter Kerl übrigens.«
Anja schluckte. Sie starrte auf Katinkas Füße. Die fühlte das Bedürfnis, mit den Zehen zu wackeln.
»Also blieben Tobias und Kirsten allein übrig. Die beiden verliebten sich. Und? Wo war das Problem?«
»Es gab kein Problem«, erwiderte Anja heiser.
»Tobias und Kirsten verstanden sich später nicht mehr so gut. Die Abgeschiedenheit, der Umstand, dass für beide ein neuer Lebensabschnitt in einer fremden Umgebung begann, führte sie zu Beginn zusammen. Nach einer Weile trug das nicht mehr.«
»Kirsten war wie ich im pädagogischen Dienst. Sie wollte später vielleicht Theaterpädagogik studieren. Ihre Mutter war Dramaturgin am Theater in Würzburg.« Anjas stieß sich vom Fenster ab, setzte sich aufs Bett. Nachdenklich strich sie über die Decke. »Fühlt sich genauso an wie damals. Dicke Federbetten. Die haben mich anfangs erdrückt. In den kalten Winternächten war ich doch sehr dankbar darum. Die Heizung funktionierte zwar gut, aber sie wurde ab zehn Uhr abends ausgestellt und sprang erst morgens um fünf wieder an.«
Katinka wartete. Waren Menschen erst einmal ins Reden gekommen, hörten sie so schnell nicht mehr auf.
»Kirsten verguckte sich ziemlich schnell in Tobias. Zuvor hatte sie eine harte Trennung von ihrem vorherigen Freund vollzogen. Dann knallte es schnell wieder.«
»Sie verstanden sich gut, Sie beide?«
»Total. Wie Seelenverwandte. Ich musste nur ein Thema antippen, sofort stimmte Kirsten ein. Wir empfanden die Welt beide gleich. Wollten etwas besser machen. Raus aus der Enge des Elternhauses. Bei mir war es der dominante Vater, der zu viel verbot. Für Kirsten war es anders: Ihre Mutter war antiautoritär eingestellt. Sie feierte viele Erfolge in ihrer Theaterwelt, hatte unzählige Freunde und Bewunderer, war stets von kreativen Typen umgeben. Kirsten verspürte den inneren Zwang nachzuziehen, sich beweisen zu müssen. Dass sie auch etwas schaffte. Auf einem anderen Gebiet als die Mutter.«
Katinka dachte, dass junge Menschen um die 20 sich alle endgültig von ihrem Elternhaus lösen, ihren eigenen Weg finden mussten. Der Erfolg bestand ja gerade darin, es ohne Hilfe zu schaffen. Vom Innenhof drang Stimmengewirr herauf. Eine Wolke verschleierte kurz die Sonne.
»Kirsten hatte das Zimmer, in dem Sie jetzt wohnen. Ich dieses. Wir beide lebten allein auf diesem Stock, die anderen Zimmer waren schon nicht mehr bewohnt. Ich fürchtete mich oft, wenn ich bei Kirsten im Zimmer saß und spät nachts zu mir rüber wollte. Bloß über den Gang zu gehen, war unheimlich.«
»Das Ehepaar Krone, wo wohnten die?«
»Im anderen Haus, bei den älteren Schülern. Sie hatten eine eigene große Wohnung. Luden die Kollegen ab und zu ein, zu Bier und Brotzeit. Ab der Oberstufe gab es keine Schlafsäle mehr, die Schüler wohnten in Zweibettzimmern, hatten sogar eine kleine Teeküche zur Verfügung.«
»Und hier im Haus?«
»Im ersten Stock befanden sich das Direktorat mit Vorzimmer, außerdem die Schwesternzimmer. Da hat sich bis heute nichts verändert. Allerdings gab es noch einen Mädchenschlafsaal auf der ersten Etage. Die Jungen der Unter- und Mittelstufe verteilten sich über den dritten Stock. Sechs Kinder pro Schlafsaal. Kirsten und ich waren morgens für das Wecken zuständig. Wenn wir die Nacht durchdiskutiert hatten, über Gott und die Welt, schleppten wir uns halb tot um 6.15 Uhr nach oben. Oder nach unten.« Sie lachte auf. Allmählich nahm ihr Gesicht wieder Farbe an.
»Es muss doch noch andere Angestellte gegeben haben.«
»Die wohnten nicht hier. Nur Gitta und Manfred Krone und wir Freiwilligen. Die Küchenangestellten kamen alle aus der Umgebung. Eine Frühschicht war für das Frühstück zuständig, die traten ihren Dienst um fünf Uhr morgens an. Mittags wurde warm gekocht. Wenn Schüler später aus der Schule kamen, wärmten sie sich meistens selbst etwas auf, das waren ohnehin die Älteren, die machten das selbstständig. Die letzte Küchenhilfe verließ das Internat gegen 16 Uhr, zu der Zeit war das Abendbrot bereits auf den Servierwagen gerichtet. Die Pädagogen kamen gegen zwölf. Sie betreuten die Hausaufgaben, machten Freizeitangebote. Deren Spätschicht endete gegen 22 Uhr.«
»Wo war Gebsen untergebracht?«
»Drüben, im anderen Haus. Da ist auch die Hausmeisterwohnung.« Anja hatte sich durch die umständlichen Ausführungen ein wenig beruhigt. Katinka wartete eine Weile. Schließlich fragte sie:
»Und Kirsten? Warum starb sie?«
Anja hob den Blick. Tränen standen in ihren Augen, als sie Katinka ansah und entgegnete:
»Das weiß ich nicht. Niemand weiß das. Wirklich nicht.«
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