Kitabı oku: «Friedrich Glauser – Wachtmeister Studer», sayfa 16
Gas
Nachdem Wachtmeister Studer seinen ramponierten Schweinslederkoffer in einem Abteil des Nachtschnellzuges Paris-Basel verstaut hatte, ließ er im Gang das Fenster herab und nahm Abschied von seinen Freunden. Kommissär Madelin zog mit Ächzen und Stöhnen eine in Zeitungspapier verpackte Flasche aus der Manteltasche, Godofrey reichte ein Päcklein zum Waggonfenster hinauf, das ohne Zweifel eine Terrine Gansleberpastete enthielt, und lispelte: »Pour madame!« Dann fuhr der Zug aus der Halle des Ostbahnhofes und Studer kehrte in sein Drittklass-Abteil zurück.
Seinem Eckplatz gegenüber hatte ein Fräulein Platz genommen. Pelzjackett, graue Wildlederschuhe, grauseidene Strümpfe. Das Fräulein zündete eine Zigarette an – ausgesprochen männliche Raucherware, französische Régie-Zigaretten: Gauloises. Sie streckte Studer das blaue Päcklein hin und der Wachtmeister bediente sich. Das Fräulein erzählte, es sei Baslerin und wolle seine Mutter besuchen. Über Neujahr. – Wo wohne die Mutter? – Auf dem Spalenberg. – So so? Auf dem Spalenberg? – Ja…
Studer begnügte sich mit dieser Auskunft. Das junge Meitschi war zwei-, höchstens dreiundzwanzigjährig und es gefiel dem Wachtmeister ausnehmend. Es gefiel ihm – in allen Ehren. Schließlich hatte man nicht das Recht als Großvater, als solider Mann… Äbe!… Und es war angenehm, mit dem Meitschi z’brichte…
Dann wurde Studer müde, entschuldigte sein Gähnen, er sei sehr beschäftigt gewesen in Paris – das Meitschi lächelte, unverschämt ein wenig, – was tat das? Der Wachtmeister lehnte den schweren Kopf in die Ecke auf seinen grauen Regenmantel und schlummerte ein. Als er erwachte, saß ihm gegenüber immer noch das Meitschi, es schien sich kaum bewegt zu haben. Nur das blaue Päckli mit den Zigaretten, das in Paris noch voll gewesen war, lag als leeres Papier, zusammengeknäuelt, in einer Ecke. Und Studer hatte Kopfweh, weil das Kupée blau von Rauch war…
Er trug seinen Koffer und den seiner Mitreisenden bis an den Zoll, verabschiedete sich dann und stieß mit einem Manne zusammen, der auf dem Kopfe eine Kappe trug, die aussah wie ein von einem Töpfer verpfuschter Blumentopf; eine weiße Mönchskutte hüllte seinen mageren Körper ein und die Füße, die blutten, steckten in offenen Sandalen…
Wachtmeister Studer erwartete eine herzliche Begrüßung. Sie erfolgte nicht. Das Gesicht, mit dem Schneiderbärtlein am Kinn, sah ängstlich aus und traurig, der Mund –wie bleich waren die Lippen! – murmelte: »Ah, Inspektor! Wie geht’s?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich Pater Matthias dem jungen Mädchen zu, das mit Studer gereist war, und nahm ihm den Koffer ab. Vor dem Bahnhof stiegen die beiden in ein Taxi und fuhren davon.
Der Wachtmeister hob die mächtigen Achseln. Die Prophezeiungen des Hellseherkorporals, die ein Weißer Vater drei Kriminalisten in einer Beize bei den Pariser Markthallen aufgetischt hatte, schienen jeder Bestätigung zu entbehren. Denn hätte der Pater ihnen Glauben geschenkt, so wäre es seine Pflicht gewesen, Wache zu halten bei der… der… wie hieß sie nur? Einerlei!… bei der Frau auf dem Spalenberg, um sie zu schützen gegen einen Tod, der irgend etwas mit Pfeifen zu tun hatte… Pfeifen… Was pfiff? Ein Pfeil… Der Bolzen eines Blasrohres… Was noch? Eine Schlange?… Das waren alles Erinnerungen aus den Detektivgeschichten des Herrn Conan Doyle, der unter die Spiritisten gegangen war. – Es gab da eine Geschichte… Wie hieß sie? Das getupfte… getupfte… Ja, das getupfte Band! Da wickelte sich eine Schlange um eine Klingelschnur. Nun, Herr Conan Doyle besaß Fantasie, aber Studer hatte keine Brissagos mehr. So liebenswürdig und gastfreundlich die Franzosen auch waren, Brissagos kannten sie nicht… Und darum ließ sich der Wachtmeister sein längliches Lederetui am Bahnhofkiosk frisch füllen. Aber er versagte sich den Genuss, sogleich einen dieser Stengel anzuzünden, sondern begab sich zuerst ins Buffet, allwo er z’Morgen aß, ausgiebig und friedlich. Und dann beschloss er, einen Freund aufzusuchen, der in der Missionsstraße wohnte.
Unterwegs, zuerst in der Freien Straße, denn es war noch früh am Morgen und Studer machte einen Umweg, um seinen Freund nicht zu früh aufzustören, schüttelte er den Kopf. Das schadete wenig, denn es gab keine Passanten, die sich über dies Kopfschütteln und das nachherige Selbstgespräch hätten aufhalten können. Wachtmeister Studer schüttelte also seinen Kopf und murmelte: »Er duzt die Engel nicht.« Und Pater Matthias schien ein Mann zu sein, der voller Ränke war.
Auf dem Marktplatz schüttelte er noch einmal den Kopf und murmelte dann: »Das junge Jakobli lässt den alten Jakob grüßen.« Das Hedy war doch ein merkwürdiges Frauenzimmer!… Nun war es nah an den Fünfzig, Großmutter dazu, aber es liebte eine originelle Ausdrucksweise. Früher hätte sich Studer darüber geärgert. Aber nach siebenundzwanzigjähriger Ehe wird man nicht mehr taub… s’Hedy!… Die Frau hatte es nicht immer leicht gehabt. Aber ein tapferer Kerl war sie… Und nun: eine tapfere Großmutter…
Großmutter… Studer blickte auf, blieb stehen, denn es ging bergauf. Richtig: der Spalenberg! Und eine Nummer leuchtete ihm entgegen…
Da flog das Haustor auf, ein Mädchen stürzte heraus, und da der Wachtmeister der einzige Mensch auf der Straße war, packte es natürlich ihn am Ärmel und keuchte:
»Kommen Sie mit!… Die Mutter!… Es riecht nach Gas!…«
Und Wachtmeister Studer von der Berner Fahndungspolizei folgte seinem Schicksal: diesmal hatte es die Gestalt eines jungen Meitschis angenommen das gerne starke französische Zigaretten rauchte und ein Pelzjackett, graue Wildlederschuhe und graue Seidenstrümpfe trug.
»Blyb uf dr Loube!«, sagte Studer, nachdem er keuchend drei Stockwerke erstiegen hatte. Ohne Zweifel, der Gasgeruch war deutlich! Keine Klinke, kein Schlüssel an der Türe… Tannenholz – und ein schwaches Schloss…
Studer nahm sechs Schritte Anlauf, keinen einzigen mehr. Aber eine simple Tannenholztüre vermag dem Anprall eines Doppelzentners nicht standzuhalten. So gab die Türe gehorsam nach – nicht das Holz, sondern das Schloss – und eine Wolke von Gas strömte Studer entgegen. Zum Glück war sein Nastuch groß. Er knotete es im Nacken fest, sodass es Mund und Nase bedeckte.
»Blyb dusse, Meitschi!«, rief Studer noch. Zwei Schritte – und die winzige Küche war durchquert; eine Türe wurde aufgestoßen. Das Wohnzimmer war quadratisch, weißgekalkt. Der Wachtmeister riss das Fenster auf und lehnte sich hinaus… Und das Nastuch ließ sich wie eine Fastnachtsmaske abstreifen…
Ein Gewirr von Dächern… Kamine stießen friedlich ihren Rauch in die kalte Winterluft. Reif glänzte auf den dunklen Ziegeln. Und über den höchsten First kroch langsam eine bleiche Wintersonne. Der eindringende Luftzug nahm das giftige Gas mit sich.
Studer wandte sich um und sah einen flachen Schreibtisch, eine Couch, drei Stühle; an der Wand das Telefon. Er durchquerte den Raum, gelangte in die korridorartige Küche. Die beiden Hähne des Réchauds waren geöffnet, das Gas pfiff aus den Brennern. Gedankenlos schloss Studer diese Hähne. Es war nicht sehr einfach, denn ein Lehnstuhl stand im Wege, mit grünem Samt überzogen. In ihm saß eine alte Frau, sonderbar friedlich, gelöst und schien zu schlafen. Die eine Hand ruhte auf der Armlehne, der Wachtmeister ergriff sie, tastete nach dem Puls, schüttelte den Kopf und legte die kalte Hand vorsichtig auf das geschnitzte Holz zurück.
Winzig war die Küche wirklich. Anderthalb Meter auf zwei, ein Korridor eher. Über dem Gasréchaud hing an der Wand ein Holzgestell. Blechdosen – ehemals weiß emailliert, jetzt gebräunt, die Glasur abgestoßen: »Kaffee«, »Mehl«, »Salz«… Alles war ärmlich. Und durch den leichten Gasgeruch, der noch zurückblieb, stach deutlich ein anderer: Kampfer…
Es roch nach alter Frau, nach einsamer, alter Frau.
Es war ein ganz bestimmter Geruch, den Studer kannte; er kannte ihn aus den winzigen Wohnungen in der Metzgergasse, wo es hin und wieder einer alten Frau zu langweilig wurde oder zu einsam und sie dann den Gashahn aufdrehte. Manchmal aber war es weder Einsamkeit noch Langeweile; sondern Not…
Studer trat vor die Wohnungstür. Links am Türpfosten, unter dem weißen Klingelknopf, ein Schild:
Josepha Cleman-Hornuss
Witwe
Witwe!… Als ob Witwe ein Beruf wäre!…
Er rief dem Meitschi, das am Geländer der Laube lehnte – g’späßig war das Haus gebaut: die Laube ging auf ein Gärtlein, obwohl die Wohnung im dritten Stockwerk lag, und das Gärtlein war von einer Mauer umgeben, in die eine Türe eingelassen war; wohin führte die Tür?… wohl auf eine Nebengasse – er rief dem Meitschi und es kam näher.
Es war natürlich und selbstverständlich, dass der Wachtmeister das Meitschi sanft zu dem Lehnstuhl führte, in dem eine alte Frau friedlich schlummerte.
Aber während die Tochter ihr winziges Nastuch zog und sich die Tränen trocknete, fiel dem Wachtmeister etwas auf:
Die alte Frau im Lehnstuhl trug einen roten Schlafrock, der mit Kaffeeflecken übersät war. Aber an den Füßen trug sie hohe Schnürstiefel, Ausgehschuhe – nein! Keinerlei Pantoffeln!
Dann suchte Studer nach dem Gaszähler: Er hockte oben an der Wand, gleich neben der Wohnungstür, auf einem Brett und sah mit seinen Zifferblättern aus wie ein grünes und feistes und grimassierendes Gesicht.
Aber der Haupthahn stand schief!…
Er stand schief. Er bildete, wollte man genau sein, einen Winkel von fünfundvierzig Grad…
Warum war er nur halb geöffnet? Warum nicht ganz?
Im Grunde ging einen der ganze Fall ja nichts an. Man war Wachtmeister bei der Berner Fahndungspolizei, da sollten die Basler sehen, wie sie zu Schlag kamen. Übrigens, es schien ein Selbstmord zu sein, ein Selbstmord durch Leuchtgas – nichts Ungewöhnliches. Und nichts Ungewohntes…
Studer ging in den Wohnraum, der zugleich Schlafzimmer war – die Couch in der Ecke! – und suchte nun nach dem Telefonbuch. Es lag auf dem Schreibtisch, neben einem ausgebreiteten Kartenspiel. Während er nach der Nummer der Sanitätspolizei suchte, dachte der Wachtmeister verschwommen, wie ungewöhnlich es eigentlich war, dass eine Selbstmörderin vor dem Freitode noch Patiencen legte… Da fiel ein Blatt Papier aus dem Telefonbuch zu Boden, Studer hob es auf, legte es neben das ausgebreitete Kartenspiel – merkwürdig, oben in der Ecke links, die Karten waren in vier Reihen ausgelegt, lag der Piquebub, der Schuflebuur… Studer stellte die Nummer ein. Es summte, summte. Der Sanitätspolizist hatte wohl ausgiebig Silvester gefeiert. Endlich meldete sich eine teigige Stimme. Studer gab Auskunft: Spalenberg 12, dritter Stock, Josepha Cleman-Hornuss. Selbstmord… Dann hängte er an.
Er hielt das Papier noch in der Hand, das aus dem Telefonbuch zu Boden geflattert war. Es war vergilbt, zusammengefaltet, die unbeschriebene Seite nach außen. Studer öffnete es. – Eine Fieberkurve…
HÔPITAL MILITAIRE DE FEZ.
Nom: Cleman, Victor Alois. Profession: Géologue.
Nationalité: Suisse.
Entrée: 12/7/1917. – Paludisme.
Ins Deutsche übertragen hieß dies, dass es sich um einen gewissen Cleman Victor Alois handelte; sein Beruf: Geologe; sein Heimatland: die Schweiz; das Datum seines Eintrittes: zwölfter Juli neunzehnhundertsiebenzehn. Und erkrankt war der Mann an Sumpffieber, an Malaria.
Die Fieberkurve hatte steile Spitzen, sie lief vom 12. bis zum 30. Juli. Und hinter dem 30. Juli hatte ein Blaustift ein Kreuz gezeichnet. Am 30. Juli war also der Cleman Alois Victor, Geologe, Schweizer, gestorben.
Cleman?… Cleman-Hornuss?… Spalenberg 12?…
Studer zog sein Ringbuch. Da stand es, auf der ersten Seite des Weihnachtsgeschenkes!…
»Meitschi!«, rief Studer; das Fräulein im Pelzjackett schien über die Anrede nicht übermäßig erstaunt zu sein.
»Los, Meitschi«, sagte Studer. Und es solle abhocken. Er hatte sein Ringbuch auf den Tisch gelegt und machte sich, Notizen während er das Mädchen ausfragte.
Und es sah wirklich aus, als habe Wachtmeister Studer einen neuen Fall übernommen.
»War das dein Vater?«, fragte Studer und zeigte auf den Namen oben auf der Fieberkurve.
Nicken.
»Wie heißest?«
»Marie… Marie Cleman.«
»Also, ich bin der Wachtmeister Studer von Bern. Und der Mann, der dich heut morgen abgeholt hat, der hat mich um Schutz gebeten – falls etwas passiere in der Schweiz. Er hat mir ein Märli erzählt, aber an dem Märli ist eins wahr: deine Mutter ist tot.«
Studer stockte. Er dachte an das Pfeifen. Kein Pfeil. Kein Bolzen. Kein getupftes Band… Gas!… Gas pfiff auch, wenn es aus den Brennern strömte… Item!… Und vertiefte sich in die Fieberkurve.
Am 18. hatte die Abend- und am 19. Juli die Morgentemperatur 37,25 betragen. Über diesem Strich war vermerkt:
»Sulfate de quinine 2 km.«
Seit wann gab man Chinin kilometerweise? Ein Schreibfehler? Wahrscheinlich handelte es sich um eine Einspritzung und statt 2 ccm, was die Abkürzung für Kubikzentimeter gewesen wäre, hatte irgendein Stoffel »km« geschrieben.
Mira…
»Dein Vater«, sagte Studer, »ist in Marokko gestorben. In Fez. Er hat dort, wie ich gehört habe, nach Erzen geschürft. Für die französische Regierung… Apropos, wer war der Mann, der dich heut am Bahnhof abgeholt hat?«
»Mein Onkel Matthias«, sagte Marie erstaunt.
»Stimmt«, sagte Studer. »Ich hab’ ihn in Paris kennengelernt.«
Schweigen. Der Wachtmeister saß hinter dem flachen Schreibtisch, bequem zurückgelehnt. Marie Cleman stand vor ihm und spielte mit ihrem Nastuch. In das Schweigen schrillte die Klingel des Telefons; Marie wollte aufstehen, aber Studer winkte ihr zu: sie solle nur sitzenbleiben. Er nahm den Hörer ab, sagte, wie er es von seinem Büro im Amtshaus gewöhnt war: »Ja?«
»Ist Frau Cleman da?«
Eine unangenehme Stimme, schrill und laut.
»Im Augenblick nicht, soll ich etwas ausrichten?«, fragte Studer.
»Nein! Nein! Übrigens weiß ich ja, dass Frau Cleman tot ist. Mich erwischen Sie nicht. Sie sind wohl von der Polizei, Mann? Hahahaha…« Ein richtiges Schauspielerlachen! Der Mann sprach die »Ha«. – Und dann knackte es im Hörer.
»Wer war’s?«, fragte Marie ängstlich.
»Ein Löli!«, sagte Studer trocken. Und fragte gleich darauf – war es die Stimme, die ihn auf den Gedanken gebracht hatte –: »Wo ist dein Onkel Matthias?«
»Die katholischen Priester«, meinte Marie müde, »müssen jeden Morgen ihre Messe lesen… Wo sie auch sind.
Sonst brauchen sie, glaub’ ich, einen Dispens… Vom Papst – oder vom Bischof – ich weiß nicht…« Sie seufzte, zog die Fieberkurve zu sich heran und begann sie eifrig zu studieren.
»Was ist das?«, fragte sie plötzlich und deutete auf das blaue Kreuz.
»Das?« Studer stand hinter dem Mädchen. »Das wird wohl der Todestag deines Vaters sein.«
»Nein!« Marie schrie das Wort. Dann fuhr sie ruhiger fort: »Mein Vater ist am 20. Juli gestorben. Ich hab’ selbst den Totenschein gesehen und den Brief vom General! Am 20. Juli 1917 ist mein Vater gestorben.«
Sie schwieg und auch Studer hielt den Mund.
Nach einer Weile sprach Marie weiter: Die Mutter habe es oft genug erzählt. Am einundzwanzigsten Juli sei ein Telegramm gekommen, das Telegramm müsse noch bei den Andenken sein, dort im Schreibtisch, in der zweituntersten Schublade. Und dann, etwa vierzehn Tage später, habe der Briefträger die große gelbe Enveloppe gebracht. Nicht viel habe sie enthalten. Den Pass des Vaters, viertausend Franken in Noten der algerischen Staatsbank und den Beileidsbrief eines französischen Generals. Lyautey habe der Mann geheißen. Ein sehr schmeichelhafter Brief: Wie gut Herr Cleman die Interessen Frankreichs vertreten habe, wie dankbar das Land Herrn Cleman sei, dass er zwei deutsche Spione entlarvt habe…
»Zwei Spione?«, fragte Studer. Er saß auf einem Stuhl in der Ecke beim offenen Fenster, hatte die Ellbogen auf die Schenkel gestützt und die Hände gefaltet. Er starrte zu Boden. »Zwei Spione?«, wiederholte er.
Marie schloss das Fenster. Sie blickte auf den Hof, ihre Finger trommelten einen eintönigen Marsch gegen die Scheiben und ihr Atem ließ auf dem Glase einen trüben Fleck entstehen: Tröpflein bildeten sich, kollerten herab, bis der Fensterrahmen sie aufhielt.
»Ja, zwei Spione.« Maries Stimme war eintönig. »Die Gebrüder Mannesmann… Mit dem Brief aber war es so: Wir wohnten damals an der Rheinschanze und hatten eine große Wohnung. Dann kam eines Tages der Brief. Ich hatte Ferien… Der Briefträger brachte die große Enveloppe, sie war rekommandiert, und die Mutter musste unterschreiben. Es fielen zwei Tränen in das Büchlein des Briefträgers und die Schrift des Tintenbleistifts lief auseinander. Der Vater hinterließ nicht viel, und nach seinem Tode ging es uns schlecht. Die Mutter wunderte sich später oft, dass so wenig Geld zurückgeblieben war. Die Tante in Bern, die besaß ein Vermögen…«
Studer blätterte in seinem Notizbuch. Die erste Frau!… Hatte der Mönch, der Weiße Vater, nicht von ihr gesprochen? Da: »Sophie Hornuss, Gerechtigkeitsgasse 44, Bern.«
»Wie ist der Vater mit den zwei Spionen – mit den… wie hast du sie genannt?… ah ja!… mit den Gebrüdern Mannesmann ausgekommen?«
»Gut. Ganz gut zuerst. Ich weiß das alles nur von der Mutter. Sie hatten Schürfungen gemacht, wie ich Ihnen erzählte. Besonders im Süden von Marokko. Das heißt, der Vater hatte das Vorkommen der Erze entdeckt. Die Brüder Mannesmann gaben sich als Schweizer aus; und dann, während dem Krieg, haben sie einigen Deutschen aus der Fremdenlegion zur Rückkehr in die Heimat verholfen. Das hat der Vater erfahren und dem General mitgeteilt. Und dann wurden die beiden ganz einfach an die Wand gestellt. Zum Dank für den Ver… für die Benachrichtigung ist der Vater bald nachher von der französischen Regierung angestellt worden…«
»So syg das gsy«, nickte Studer. Er stand auf, beugte sich wieder über den Schreibtisch. Die ausgelegten Karten hatten es ihm angetan.
»Und was habe es für eine Bewandtnis mit den Karten?«
Marie Cleman stützte die Hände auf das Fensterbrett und saß leicht auf dem vorspringenden Absatz, während ihre Fußspitzen den Rand des abgeschabten Teppichs berührten. Dünne Fesseln hatte das Mädchen!…
Die Karten! Das sei eben das Elend gewesen! Darum sei sie von der Mutter fort, erklärte Marie. »Ach!«, seufzte sie, »es ist nicht mehr zum Aushalten gewesen, der ganze Schwindel! Die Dienstmädchen, die zehn Franken zahlten, um zu wissen, ob der Schatz ihnen treu sei; die Kaufleute, die Rat wollten für eine Spekulation; die Politiker, denen die Mutter bestätigen musste, dass sie wieder gewählt würden… Und zum Schluss kam noch der Bankdirektor. Aber dieser Herr kam wegen mir. Und wissen Sie, Onkel Studer, ich glaub’, die Mutter schien nicht einmal etwas dagegen zu haben, dass ich mit dem Bankdirektor… Da bin ich eines Tages abgereist…«
Studer war aufgefahren. Er stand dem Meitschi gegenüber. Wie hatte ihn die Marie genannt? Onkel Studer? Das verschlug ihm den Atem… Aber, b’hüetis, was war dabei? Er hatte das Meitschi geduzt, nach alter Berner Manier. Hatte da die Marie nicht ebenfalls das Recht auf eine gewisse Familiarität? Onkel Studer! Es wärmte… Exakt wie Bätziwasser.
»Wenn du schon«, sagte Studer, und seine Stimme klang ein wenig heiser, »Onkel sagst, dann sag wenigstens: Vetter Jakob. Onkel! Das sagen die Schwaben…«
Marie war rot geworden. Sie blickte dem Wachtmeister ins Gesicht und sie hatte eine besondere Art, die Leute anzusehen: nicht eigentlich prüfend, mehr erstaunt – ruhig erstaunt, hätte man es nennen können. Studer fand, diese Art des Anschauens passe zu dem Mädchen. Aber er konnte sich vorstellen, dass sie anderen Leuten auf die Nerven fiel.
»Gut! Also!«, sagte Marie. »Vetter Jakob!« Und gab dem Wachtmeister die Hand. Die Hand war klein, kräftig. Studer räusperte sich.
»Du bist abgereist… schön. Nach Paris hat mir dein Onkel erzählt. Mit wem?«
»Mit dem ehemaligen Sekretär meines Vaters. Koller hieß er. Er kam uns einmal besuchen und erzählte, er habe sich selbstständig gemacht und brauche jemanden, zu dem er Vertrauen haben könne. Ob ich ihn begleiten wolle, als Stenotypistin? Ich hatte die Handelsschule besucht und sagte ja…«
Pelzjackett, seidene Strümpfe, Wildlederschuhe… Langte das Salär einer Sekretärin für so teure Anschaffungen? Studer vergrub die Hände in den Hosensäcken. Ihm war ein wenig traurig zumute; darum rundete er den Rücken und fragte:
»Warum bist du jetzt auf einmal zur Mutter gefahren?«
Wieder der merkwürdig prüfende Blick.
»Warum?«, wiederholte Marie. »Weil der Koller plötzlich verschwunden ist. Von einem Tag auf den anderen. Vor drei Monaten, dreieinhalb. Genau: am fünfzehnten September. Viertausend Franzosenfranken hat er mir zurückgelassen, und mit dem Geld hab’ ich gelangt – bis Ende Dezember. Da hab’ ich grad noch genug gehabt, um nach Basel zu fahren.«
»Warum bist du nicht mit deinem Onkel gefahren?«
»Er hat allein fahren wollen.«
»Hast du das Verschwinden angezeigt?«
»Ja. Auf der Polizei. Sie hat die Papiere beschlagnahmt… Ein gewisser Madelin hat sich um die Sache gekümmert. Einmal hat er mich vorgeladen…«
Ein Satz!… Ein Satz!… War er nicht zu erwischen, der Satz, den Kommissär Madelin gesprochen hatte, an jenem Abend, da Studer ihm das Telegramm vom neuen Jakobli gezeigt hatte? Was hatte Madelin da zum lebendigen Konversationslexikon Godofrey gesprochen:
»… Es stimmt etwas nicht mit den Papieren des Koller…« Das war es. Handelte es sich um den gleichen Koller?
Studer fragte:
»Wo hat deine Mutter die Andenken an deinen Vater aufbewahrt?«
»Im Schreibtisch«, erwiderte Marie und wandte dem Raume wieder den Rücken zu. »In der zweituntersten Schublade.«
In der zweituntersten Schublade…
Sie war leer. Doch das allein wäre nicht allzu auffällig gewesen.
Auffällig aber war, dass der Einbrecher, der sie aufgebrochen hatte, sorgsam ein abgesplittertes Stück Holz wieder eingesetzt hatte. Studer schob die leere Schublade zu, dann folgte er dem Beispiel seines Vorgängers und passte das Holzstückchen genau an seinen Platz. Er richtete sich auf, zog sein Nastuch aus der Tasche, beugte sich noch einmal zur Schublade herab und rieb dort alles sauber. Dazu murmelte er: »Man kann nie wissen…«
»Finden Sie etwas, Vetter Jakob?«, fragte Marie, ohne sich umzuwenden.
»Die Mutter hat’s wohl an einem anderen Ort verräumt…«, brummte Studer. Und lauter fügte er hinzu: »Die erste Frau deines Vaters wohnt also in Bern und heißt…« Studer schlug sein Notizbuch auf, aber Marie kam ihm zuvor:
»Hornuss heißt sie, Sophie Hornuss, Gerechtigkeitsgasse 44. Sie war die ältere Schwester meiner Mutter und eigentlich meine Tante, wenn Sie so wollen…«
»G’späßige Familienverhältnisse«, stellte Studer trocken fest.
Marie lächelte. Dann verschwand das Lächeln und ihre Augen wurden dunkel und traurig. – Das habe sie manchmal auch gefunden, meinte sie, und Studer schalt sich einen Dubel, weil seine dumme Bemerkung dem Meitschi sicher Kummer gemacht hatte…
Im Flur kamen Schritte näher. Die aufgesprengte Tür kreischte in ihren Angeln und eine Stimme erkundigte sich, ob hier jemand Selbstmord begangen habe. – Es müsse wohl hier sein, sagte eine zweite Stimme, es stehe ja am Türpfosten! Cleman! Und fügte hinzu: »Äbe joo«, und da habe man die Bescherung.
Studer kehrte in die kleine Küche zurück und stieß dort mit einem Uniformierten zusammen. Der Stoß war weich, denn der Sanitätspolizist war dick, rosig und glatt wie ein Säugling. Er schien ständig ein Gähnen unterdrücken zu müssen, überschüttete den Wachtmeister mit einem Schwall von Fragen, die tapfer mit »jä« und »joo« gewürzt waren. Außerdem gurgelte der Mann mit den »R« wie mit Mundwasser, anstatt sie ordentlich, wie sonstige Schweizer Christenmenschen, mit der Zunge gegen den Vordergaumen zu rollen. Der Herr Gerichtsarzt war alt und sein Schnauz vom vielen Zigarettenrauchen gelb.
Studer stellte sich vor, stellte Marie vor.
Die Tote in ihrem Lehnstuhl schien zu lächeln. Der Wachtmeister blickte ihr noch einmal ins Gesicht. Neben dem linken Nasenflügel saß eine Warze…
Die Leiche wurde fortgebracht, und zwar durch das Türlein in der Mauer. Es dauerte lange, bis man den Schlüssel zu diesem Mauertor aufgetrieben hatte – in der Wohnung der Toten war kein einziger Schlüssel zu entdecken. Ein Mieter, vom Lärm herbeigelockt, half aus.
Studer war müde. Er hatte keine Lust, seinem Kollegen von der Sanitätspolizei die Merkwürdigkeiten des Falles aufzuzählen: den schiefen Hebel am Gaszähler, die Ausgehstiefel der alten Frau im Schlafrock… Der Wachtmeister stand und starrte auf das Messingschild: »Josepha Cleman-Hornuss. Witwe.«
Dann lud er Marie zu einem Kaffee ein. Das schien ihm das Vernünftigste…