Kitabı oku: «Friedrich Glauser – Wachtmeister Studer», sayfa 17

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Die erste Frau

Bald nach Ol­ten be­gann es zu schnei­en. Stu­der saß im Spei­se­wa­gen und sah durch die Schei­ben. Die Hü­gel, die vor­beig­lit­ten, wa­ren weich hin­ter dem wei­ßen Vor­hang, der so re­gel­mä­ßig-un­un­ter­bro­chen fiel, dass er be­we­gungs­los schien…

Vor dem Wacht­meis­ter stand blau­es Kaf­fee­ge­schirr und da­ne­ben in Reich­wei­te eine Kar­af­fe mit Kirsch. Stu­der wand­te die Bli­cke vom Fens­ter ab und dem neu­en Ring­buch zu, das auf­ge­schla­gen vor ihm lag. Er hielt den Blei­stift zwi­schen Zei­ge- und Mit­tel­fin­ger und schrieb in sei­ner win­zi­gen Schrift, de­ren Buch­sta­ben selbst­stän­dig ne­ben­ein­an­der stan­den, wie beim Grie­chi­schen:

»Cle­man-Hor­nuss Jo­se­pha, Wit­we, 55 Jah­re alt. Gas­ver­gif­tung. Selbst­mord? Da­ge­gen spre­chen: schie­fe Stel­lung des Haup­t­hahns am Gas­mes­ser. Feh­len der Schlüs­sel zur Woh­nungs­tür und zum Gar­ten­tor, auf­ge­spreng­te Schub­la­de am Schreib­tisch… Und der Te­le­fon­an­ruf.«

Der Te­le­fon­an­ruf! Stu­der auf sei­nem Platz im Spei­se­wa­gen des Schnell­zu­ges Ba­sel-Bern hör­te die Stim­me wie­der – und wie da­mals im Wohn­raum der Wit­we Cle­man-Hor­nuss kam sie ihm be­kannt vor. Sie er­in­ner­te ihn an eine an­de­re Stim­me, die er vor we­ni­gen Ta­gen ge­hört hat­te, in ei­ner klei­nen Bei­ze bei den Pa­ri­ser Markt­hal­len – das heißt der Ton der Stim­me war der glei­che, die Stimm­la­ge ähn­lich…

Und be­trun­ken hat­te die Stim­me ge­tönt. Atem­los, wie bei ei­nem Mann, der hin­ter­ein­an­der ein paar Glä­ser Ko­gnak hin­un­ter­ge­schüt­tet hat. Ers­te Fra­ge: Was hat­te die­ser Be­trun­ke­ne mit sei­nem An­ruf bezweckt? Und die zwei­te: Wo hat­te sich Pa­ter Matt­hi­as vom Or­den der Wei­ßen Vä­ter in die­ser Zeit auf­ge­hal­ten? In wel­cher Kir­che hat­te er sei­ne Mor­gen­mes­se ge­le­sen? In je­ner Ze­ment­kir­che, die von den Bas­lern das »See­len­si­lo« ge­tauft wor­den war?

Stu­der starr­te ge­dan­ken­ver­lo­ren zum Fens­ter hin­aus, streck­te die Hand aus, er­wi­sch­te statt des Kaf­fee­känn­lis die Kar­af­fe mit dem Kirsch, goss sei­ne Tas­se voll, führ­te sie zum Mund und merk­te den Irr­tum erst, als er die Tas­se schon ge­leert hat­te. Er sah auf, be­geg­ne­te dem Grin­sen des Kell­ners, grins­te freund­lich zu­rück, zuck­te mit den Ach­seln, hob die Kar­af­fe noch ein­mal, z’Trotz, leer­te den Rest des Schnap­ses in sei­ne Tas­se und be­gann eif­rig zu schrei­ben.

»Cle­man Alois Vic­tor. Geo­lo­ge im Diens­te der Ge­brü­der Man­nes­mann. Schür­fun­gen nach Blei, Sil­ber, Kup­fer. Sei­ne Bro­ther­ren wer­den 1915 in Ca­sab­lan­ca stand­recht­lich er­schos­sen, weil sie ei­ni­gen Deut­schen zur De­ser­ta­ti­on aus der Frem­den­le­gi­on ver­hol­fen ha­ben. Cle­man als De­nun­zi­ant! Cle­man kehrt 1916 nach der Schweiz zu­rück, reist aber im glei­chen Jah­re im Auf­trag der fran­zö­si­schen Re­gie­rung wie­der nach Marok­ko. In­spi­ziert die von den Ge­brü­dern Man­nes­mann im Sü­den des Lan­des er­stell­ten Blei­öfen. Wird im Juli 1917 schwer er­krankt mit ei­nem Flug­zeug nach Fez ge­bracht. Stirbt nach Aus­sa­gen der Toch­ter, die sich auf ein un­auf­find­ba­res Te­le­gramm stüt­zen, am 20. Juli all­dort. Hin­ter­lässt ge­rin­ge Erb­schaft. War zwei­mal ver­hei­ra­tet. Ers­te Frau lebt in Bern, sie­he An­ga­ben des Pa­ters. Scheint Ver­mö­gen zu be­sit­zen. Ist Schwes­ter der in Ba­sel ver­stor­be­nen Jo­se­pha Cle­man.«

Her­zo­gen­buch­see… Es hat­te auf­ge­hört zu schnei­en. Die tro­ckene Hit­ze im Wa­gen mach­te schläf­rig und Stu­der träum­te vor sich hin…

Frem­den­le­gi­on! Marok­ko! Die Sehn­sucht nach den fer­nen Län­dern und ih­rer Bunt­heit, die, schüch­tern nur, sich ge­mel­det hat­te, da­mals, bei Pa­ter Matt­hias’ Er­zäh­lung, sie wuchs in Stu­ders Brust. Ja, in der Brust! Es war ein son­der­bar zie­hen­des Ge­fühl, die un­be­kann­ten Wel­ten lock­ten und Bil­der stie­gen auf – ganz wach träum­te man sie. Unend­lich breit war die Wüs­te, Ka­me­le trab­ten durch ih­ren gold­gel­ben Sand, Men­schen, braun­häu­ti­ge, in wal­len­den Ge­wän­dern, schrit­ten ma­je­stä­tisch durch blen­dend­wei­ße Städ­te. Von ei­ner Räu­ber­ban­de wur­de Ma­rie ge­raubt – wie ge­lang­te Ma­rie plötz­lich in den Traum? – sie wur­de ge­raubt und man durf­te sie be­frei­en. »Dan­ke, Vet­ter Ja­kob!«, sag­te sie. Das war Glück! Das war et­was an­de­res als das ewi­ge Rap­port­schrei­ben im Amts­haus z’Bärn, im klei­nen Büro, das nach Staub und Bo­den­öl ro­ch… Dort un­ten gab es an­de­re Gerü­che – frem­de, un­be­kann­te. Und in des Wacht­meis­ters Kopf stie­gen Erin­ne­run­gen auf: an das »Hohe Lied Sa­lo­mo­nis«, an die Mär­chen aus Tau­send­und­ei­ner Nacht…

Vi­el­leicht, viel­leicht war dies wirk­lich der große Fall…

Vi­el­leicht, viel­leicht wur­de man of­fi­zi­ös nach Marok­ko ent­sandt…

Auf alle Fäl­le emp­fahl es sich, gleich mor­gen zu frü­he­s­ter Stun­de in die Ge­rech­tig­keits­gas­se Nr. 44 zu ge­hen, um die ge­schie­de­ne Frau des Geo­lo­gen aus­zu­fra­gen…

Burg­dor­f… Stu­der leer­te den Rest des kal­ten Kaf­fees in sei­ne Tas­se, trank das Ge­misch, fand sei­nen Ge­schmack ab­scheu­lich und rief: »Zah­len!« Der Kell­ner grins­te wie­der ver­trau­lich. Aber Stu­der war es nicht mehr ums La­chen zu tun. Er konn­te Ma­rie nicht ver­ges­sen, die mit dem Se­kre­tär Kol­ler nach Pa­ris ge­reist war, – Pelz­jackett, sei­de­ne St­rümp­fe, Wild­le­der­schu­he! – Es war nicht zu leug­nen, dass er Ma­rie lieb­ge­won­nen hat­te… Es war ihm, als habe er eine Toch­ter wie­der­ge­fun­den. Denn sei­ne Toch­ter hat­te vor ei­nem Jahr einen Land­jä­ger aus dem Thur­gau ge­hei­ra­tet – nun war sie Mut­ter, und dem Wacht­meis­ter war es, als habe er sie end­gül­tig ver­lo­ren. All die­se un­kla­ren Emp­fin­dun­gen wa­ren wohl schuld, dass er dem ver­trau­li­chen Kell­ner nur zwan­zig Rap­pen Trink­geld gab.

Sei­ne Lau­ne bes­ser­te sich auch nicht, als er in Bern aus­stieg. Die Woh­nung auf dem Kir­chen­feld war leer – Stu­der hat­te kei­ne Lust, den Ofen zu hei­zen. Er ging ins Café, um dort Bil­lard zu spie­len, be­such­te her­nach ein Kino und är­ger­te sich über den Fil­m… Spä­ter trank er ir­gend­wo ein paar große Hel­le, aber auch die be­ka­men ihm nicht. So leg­te er sich denn ge­gen elf Uhr mit ei­nem zünf­ti­gen Kopf­weh zu Bett. Er konn­te lan­ge nicht ein­schla­fen.

Die alte Frau mit der War­ze ne­ben dem lin­ken Na­sen­flü­gel, die so ru­hig und ge­löst in ih­rem grü­nen Lehn­stuhl saß, ne­ben dem zweiflam­mi­gen Gas­réchaud, kam in der Dun­kel­heit zu Be­such… Ma­rie tauch­te auf, ver­schwand. Dann war der Sil­ves­ter­abend da, Kom­mis­sär Ma­de­lin und das Le­xi­kon Go­do­frey… Be­son­ders die­ser Go­do­frey, der mit sei­ner Horn­bril­le ei­ner noch nicht flüg­gen Eule glich, ließ sich nicht ver­trei­ben… »Pour ma­da­me!«, sag­te Go­do­frey und reich­te eine Gans­le­ber­ter­ri­ne durchs Wag­gon­fens­ter… Aber da wur­de die Ter­ri­ne rie­sig groß, grün und fest und gri­mas­sie­rend hock­te sie oben auf ei­nem Wand­brett und war ein Gas­zäh­ler – ein Kopf war die­ser ver­damm­te Gas­zäh­ler, ein Trau­mun­ge­tüm, das mit sei­nem ein­zi­gen Arm si­gna­li­sier­te… Senk­recht, waag­recht, schief stand der Arm… Ma­rie ging mit dem Pa­ter Matt­hi­as Arm in Arm – aber es war nicht Pa­ter Matt­hi­as, son­dern der Se­kre­tär Kol­ler, der aus­sah wie des Wacht­meis­ters Dop­pel­gän­ger…

Im Halb­schlaf hör­te sich Stu­der laut sa­gen:

»Das isch ei­newäg Cha­bis!«

Sei­ne Stim­me dröhn­te durch die lee­re Woh­nung, ver­zwei­felt tas­te­te Stu­der das Bett ne­ben dem sei­nen ab. Aber das Hedy war noch im­mer im Thur­gau, um das neue Ja­kob­li zu pfle­gen… Äch­zend zog er den Arm zu­rück, denn ihn fror. Und dann schlief er plötz­lich ein…

Ob es in Pa­ris schön ge­we­sen sei, frag­te am nächs­ten Mor­gen um neun Uhr Fahn­der­kor­po­ral Mur­mann, der mit Stu­der das Büro teil­te. Der Wacht­meis­ter war noch im­mer schlech­ter Lau­ne; er grunz­te et­was Un­ver­ständ­li­ches und be­ar­bei­te­te wei­ter die Tas­ten sei­ner Schreib­ma­schi­ne. Im Rau­me roch es nach kal­tem Rauch, Staub und Bo­den­öl. Vor den Fens­tern pfiff die Bise, und der Dampf knack­te in den Heiz­kör­pern.

Mur­mann setz­te sich sei­nem Freun­de Stu­der ge­gen­über, zog den »Bund« aus der Ta­sche und be­gann zu le­sen. Sei­ne mäch­ti­gen Arm­mus­keln hat­ten die Är­mel sei­ner Kut­te aus der Façon ge­bracht.

»Köbu!«, rief er nach ei­ner Wei­le. »Los ei­nisch!«

»Jaaa«, sag­te Stu­der un­ge­dul­dig. Er muss­te einen Rap­port über einen vor un­denk­li­chen Zei­ten pas­sier­ten Man­sar­den­dieb­stahl schrei­ben, den der Un­ter­su­chungs­rich­ter I mit viel Ge­schrei am Te­le­fon ver­langt hat­te.

»In Ba­sel«, fuhr Mur­mann ge­müt­lich fort, »hat sich eine mit Gas ver­gif­tet…«

Das wis­se er schon lan­ge, sag­te Stu­der ge­reizt.

Mur­mann ließ sich nicht aus der Ruhe brin­gen.

Selbst­mord mit Gas sei an­ste­ckend, mein­te er. Heut’ mor­gen habe man ihn um sechs Uhr in die Ge­rech­tig­keits­gas­se ge­holt, sie hät­ten ge­gen­wär­tig kei­ne Leu­te auf der Stadt­po­li­zei, al­les sei noch in den Fe­ri­en… Ja… Und in der Ge­rech­tig­keits­gas­se habe sich auch eine Frau mit Gas ver­gif­tet.

»In der Ge­rech­tig­keits­gas­se? Wel­che Num­mer?«, frag­te Stu­der.

»Vie­re­vier­zig«, mur­mel­te Mur­mann, kau­te an sei­nem Stum­pen, kratz­te sich den Na­cken, schüt­tel­te den »Bund« zu­recht und las den Leit­ar­ti­kel wei­ter.

Plötz­lich schrak er auf, ein Stuhl war um­ge­fal­len. Stu­der beug­te sich über den Tisch, sein Atem ging schwer. – Wie die Frau hei­ße?… Sein sonst blei­ches Ge­sicht war ge­rötet.

»Köbu«, mein­te Mur­mann ge­müt­lich, »hescht Stim­me?«

Nein, Stu­der hat­te kei­ne Ge­hörs­hal­lu­zi­na­tio­nen, er ver­wahr­te sich mit hef­ti­gem Kopf­schüt­teln ge­gen der­ar­ti­ge Zu­mu­tun­gen, aber er woll­te den Na­men der To­ten wis­sen.

»E G’schyd­ni, e Char­te­schlä­ge­re…«, sag­te Mur­mann. »Hor­nuss, Hor­nuss So­phie«, und be­ton­te den Vor­na­men auf der ers­ten Sil­be. Die Lei­che sei schon im Ge­richts­me­di­zi­ni­schen…

»So«, sag­te Stu­der nur, klap­per­te noch einen Satz, riss den Bo­gen von der Wal­ze, mal­te sei­ne Un­ter­schrift, ging zum Klei­der­ha­ken, zog den Raglan an und schmet­ter­te die Türe hin­ter sich ins Schloss…

»Ja, ja, der Köbu!«, nick­te Mur­mann und zün­de­te den Stum­pen wie­der an; dann las er schmun­zelnd den Leit­ar­ti­kel zu Ende, der vom An­wach­sen der ro­ten Ge­fahr han­del­te. Denn Mur­mann war frei­sin­nig und glaub­te an die­se Ge­fahr…

Ge­rech­tig­keits­gas­se 44. Ne­ben der Haus­tür das Schild ei­ner Tanz­schu­le. Höl­zer­ne Stie­gen. Sehr sau­ber, nicht wie in je­nem an­de­ren Haus – am Spa­len­berg. Im drit­ten Stock, auf ei­ner gelb ge­stri­che­nen Tür, die of­fen­stand, eine Vi­si­ten­kar­te:

So­phie Hor­nuss

Die­se Frau war also nicht von Be­ruf Wit­we ge­we­sen! Stu­der trat ein.

Auf dem Bo­den lag das Schloss, das beim Auf­spren­gen der Tür her­ab­ge­fal­len war.

Stil­le…

Das Vor­zim­mer ge­räu­mig und dun­kel. Links ging eine Gla­stü­re in die Kü­che. Stu­der schnup­per­te: auch hier wie­der der Gas­ge­ruch. Das Kü­chen­fens­ter stand of­fen, die Lam­pe, die von der De­cke hing, trug über dem Por­zel­lan­schirm ein Stück qua­dra­ti­schen Sei­den­stof­fes von vio­let­ter Far­be, an des­sen Ecken brau­ne Holz­ku­geln hin­gen. Sie pen­del­te hin und her.

Nahe dem Fens­ter ein so­li­der Gas­herd mit vier Bren­nern, Back­röh­re, Grill. Und ne­ben dem Gas­herd ein be­que­mer le­der­ner Klub­ses­sel, der sich merk­wür­dig ge­nug in der Kü­che aus­nahm. Wer hat­te ihn aus dem Wohn­zim­mer in die Kü­che ge­schleppt? Die alte Frau?

Auf dem mit Wachs­tuch über­zo­ge­nen Kü­chen­tisch la­gen Spiel­kar­ten, vier Rei­hen zu acht Kar­ten. Die ers­te Kar­te der obers­ten Rei­he war der Schau­fel­bau­er, der Pi­que-Bube.

Stu­der hat­te die Hän­de auf den Rücken ge­legt und ging in der Kü­che auf und ab, öff­ne­te den Schaft, schloss ihn wie­der, nahm eine Pfan­ne von der Wand, lupf­te einen De­ckel…

Im Schütt­stein stand eine Tas­se mit schwar­zem Satz auf dem Grun­de… Stu­der roch dar­an: ein schwa­cher Anis­ge­ruch. Er kos­te­te.

Der bit­te­re Nach­ge­schmack, der lan­ge an der Zun­ge haf­te­te… Der Ge­ruch! – Es war ein Zu­fall, dass Stu­der bei­des kann­te. Vor zwei Jah­ren hat­te ihm der Arzt ge­gen Schlaf­lo­sig­keit Som­ni­fen ver­schrie­ben.

Som­ni­fen!… Der gal­len­bit­te­re Ge­schmack, der Anis­ge­ruch… Hat­te die alte Frau auch an Schlaf­lo­sig­keit ge­lit­ten?

Aber warum, zum Tüü­fu, hat­te sie ein Schlaf­mit­tel ge­nom­men, her­nach einen Klub­fau­teuil in die Kü­che ge­schleppt und schließ­lich die Häh­ne des Gas­her­des auf­ge­dreht? Wa­rum?

Eine tote Frau in Ba­sel, eine tote Frau in Bern… Als Ver­bin­dungs­glied zwi­schen den bei­den der Mann: Cle­man Alois Vic­tor, Geo­lo­ge und Schwei­zer, ge­stor­ben im Mi­li­tär­hos­pi­tal zu Fez wäh­rend des Welt­krie­ges. Wa­rum be­gin­gen die bei­den Frau­en des Man­nes Cle­man fünf­zehn Jah­re spä­ter Selbst­mord? Die eine heu­te, die an­de­re ges­tern? Be­gin­gen Selbst­mord auf eine, ge­lin­de ge­sagt, merk­wür­di­ge Ma­nier?

War dies viel­leicht der »Gro­ße Fall«, von dem je­der Kri­mi­na­list träumt, auch wenn er nur ein ein­fa­cher Fahn­der ist?

»Ein­fach!«… Das Wort pass­te ei­gent­lich nicht auf den Wacht­meis­ter. Wäre Stu­der »ein­fach« ge­we­sen, so hät­ten sei­ne Kol­le­gen, vom Po­li­zei­haupt­mann bis zum sim­plen Ge­frei­ten, nicht be­haup­tet, er »spin­ne män­gisch«.

An die­ser Be­haup­tung war zum Teil die große Bank­ge­schich­te schuld, die ihm das Ge­nick ge­bro­chen hat­te, da­mals, als er wohl­be­stall­ter Kom­mis­sär bei der Stadt­po­li­zei ge­we­sen war. Er hat­te den Ab­schied neh­men und bei der Kan­tons­po­li­zei als ein­fa­cher Fahn­der wie­der an­fan­gen müs­sen. In kur­z­er Zeit war er zum Wacht­meis­ter auf­ge­stie­gen; denn er sprach flie­ßend drei Spra­chen: Fran­zö­sisch, Ita­lie­nisch, Deutsch. Er las Eng­lisch. Er hat­te bei Groß in Graz und bei Lo­card in Lyon ge­ar­bei­tet. Er be­saß gute Be­kann­te in Ber­lin, Lon­don, Wien – vor al­lem in Pa­ris. An kri­mi­no­lo­gi­sche Kon­gres­se wur­de ge­wöhn­lich er de­le­giert. Wenn sei­ne Kol­le­gen be­haup­te­ten, er spin­ne, so mein­ten sie viel­leicht da­mit, dass er für einen Ber­ner all­zu viel Fan­ta­sie be­saß. Aber auch dies stimm­te nicht ganz. Er sah viel­leicht nur et­was wei­ter als sei­ne Nase, die lang, spitz und dünn aus sei­nem ha­ge­ren Ge­sicht stach und so gar nicht zu sei­nem mas­si­ven Kör­per pas­sen woll­te.

Stu­der er­in­ner­te sich, dass er einen As­sis­ten­ten am Ge­richts­me­di­zi­ni­schen von ei­nem frü­he­ren Fall her kann­te. Er ging durch die Woh­nung und such­te das Te­le­fon. Im Wohn­zim­mer – rote Plüsch­fau­teuils mit Deck­chen, ver­schnör­kel­ter Tisch, Säul­chen­schreib­tisch – war das Te­le­fon an der Wand an­ge­bracht.

Stu­der hob den Hö­rer ab, stell­te die Num­mer ein.

»Ich möch­te Dr. Mala­pel­le spre­chen… Ja?… Sind Sie’s, Dot­to­re? Ha­ben Sie die Sek­ti­on schon ge­macht?… Ja­wohl, von der Gas­lei­che, wie Sie sa­gen… Sen­ti, Dot­to­re!…« Und Stu­der sprach wei­ter Ita­lie­nisch, er­zähl­te von sei­nem Ver­dacht auf Som­ni­fen… Der Arzt ver­sprach das Pro­to­koll auf den Nach­mit­tag.

Dann blät­ter­te der Wacht­meis­ter wei­ter im Te­le­fon­buch. Nein, hier war kei­ne Fie­ber­ta­bel­le ver­steckt. Das Zim­mer sah nicht aus, als sei es durch­sucht wor­den. Stu­der pro­bier­te die Schub­la­den am Schreib­tisch, sie wa­ren ver­schlos­sen.

Das Schlaf­zim­mer… Ein rie­si­ges Bett dar­in und vor dem ein­zi­gen Fens­ter rote Plüsch­vor­hän­ge. Sie ver­dun­kel­ten den Raum. Stu­der zog die Vor­hän­ge auf.

Über dem Bett hing das Bild ei­nes Man­nes.

In Bern eine ein­sa­me Frau, in Ba­sel eine ein­sa­me Frau. – Die Frau in Bern hat­te es ein we­nig schö­ner ge­habt, Zwei­zim­mer­woh­nung mit Kü­che, wäh­rend die Jo­se­pha in Ba­sel den Durch­gangs­kor­ri­dor zum Wohn- und Schlaf­zim­mer als Kü­che be­nutzt hat­te. Aber ein­sam wa­ren sie bei­de ge­we­sen. Stu­der er­tapp­te sich dar­auf, die al­ten Frau­en bei ih­rem Vor­na­men zu nen­nen. Die Jo­se­pha in Ba­sel und die So­phie in Bern, bei­de schlurf­ten in Fin­ken in ih­ren Woh­nun­gen her­um, wahr­schein­lich gin­gen sie auch in Fin­ken über die Stra­ße »go posch­te«…

Merk­wür­dig, dass in der Woh­nung der Jo­se­pha in Ba­sel kein Bild des ver­stor­be­nen Geo­lo­gen hing. Jo­se­pha war doch die recht­mä­ßi­ge Gat­tin ge­we­sen, wäh­rend die So­phie nur eine »G’schyd­ni« war…

Aber über dem Bett der Ge­schie­de­nen hing, mit di­cken Holz­leis­ten ein­ge­rahmt, die ver­grö­ßer­te Fo­to­gra­fie des Cle­man Alois Vic­tor. Denn nur um die­sen konn­te es sich han­deln.

Er trug auf dem Bil­de einen dunklen, ge­kräu­sel­ten Bart, der den ho­hen Wes­ten­aus­schnitt so voll­stän­dig ver­deck­te, dass die Form der Kra­wat­te nicht fest­zu­stel­len war. Ein Bart! Zei­chen der Männ­lich­keit vor dem Krieg!

Der Bart muss­te dem Geo­lo­gen und Schwei­zer heiß ge­ge­ben ha­ben, dort un­ten in Marok­ko, beim Sil­ber-, Blei- und Kup­fer­schür­fen!… Dazu trug der Mann eine Bril­le, de­ren ova­le Glä­ser die Au­gen ver­bar­gen. Ver­bar­gen? Es war nicht das rich­ti­ge Wort!… Sie lie­ßen nur den Blick son­der­bar matt und un­be­tei­ligt er­schei­nen – un­per­sön­lich. Und da­durch wur­de auch das gan­ze Ge­sicht aus­drucks­los.

Ein schö­ner Mann! We­nigs­tens das, was man in je­nen vor­sint­flut­li­chen Zei­ten un­ter ei­nem schö­nen Mann ver­stan­den hat­te…

Stu­der starr­te auf das Bild; er schi­en zu hof­fen, dass ihm der Ehe­mann von zwei Frau­en et­was er­zäh­len wer­de. Aber der weit­ge­reis­te Geo­lo­ge blick­te so gleich­gül­tig drein, wie nur ein Wis­sen­schaft­ler gleich­gül­tig drein­bli­cken kann. Und der Wacht­meis­ter kehr­te ihm end­lich ver­är­gert den Rücken zu.

Als er wie­der die Kü­che be­trat, war der le­der­ne Klub­ses­sel nicht mehr leer.

Ein Mann saß dar­in, der ein merk­wür­di­ges Spiel spiel­te: er hat­te sei­ne Müt­ze, die aus­sah wie ein vom Töp­fer ver­pfusch­ter Blu­men­topf, über den Zei­ge­fin­ger sei­ner Rech­ten ge­stülpt. Mit sei­ner Lin­ken gab er dem ver­tätsch­ten Ge­bil­de klei­ne Stö­ße und brach­te es zu ei­nem lang­sa­men Krei­sen.

Der Mann, der eine wei­ße Kut­te trug, blick­te auf:

»Bon­jour, In­spec­teur!«, sag­te er. Und dann füg­te er in ei­nem fremd­län­disch klin­gen­den Schwei­zer­deutsch hin­zu: »Es guets Neus!«

»Glych­falls!«, ant­wor­te­te Stu­der, blieb un­ter der Tür ste­hen und lehn­te sich an den Pfos­ten.

Pater Matthias

Der Grün­der un­se­res Or­dens, Kar­di­nal La­vi­ge­rie«, sag­te Pa­ter Matt­hi­as und fuhr fort, sei­nem ver­pfusch­ten Blu­men­topf, den sie drü­ben in Afri­ka Sche­schia nann­ten, klei­ne Stö­ße zu ge­ben, »un­ser großer Kar­di­nal soll ein­mal ge­äu­ßert ha­ben: ›Ein wah­rer Christ kommt nie zu spät.‹ Ganz si­cher ist die­ser Auss­pruch nur in über­tra­ge­ner Be­deu­tung rich­tig, denn auf un­ser Er­den­le­ben an­ge­wandt, kann er nicht stim­men. Die­ses ist ab­hän­gig von mensch­li­chen Ein­rich­tun­gen, als da sind: Ei­sen­bahn­zü­ge, Dampf­boo­te, Au­to­mo­bi­le… Mei­ne Nich­te Ma­rie, die ich ges­tern Abend noch traf, er­zähl­te mir, was in Ba­sel vor­ge­fal­len ist. Ich habe dar­um schleu­nigst ein Taxi ge­mie­tet und bin nach Bern ge­fah­ren, denn es fuhr kein Zug mehr. Un­ter­wegs hat­ten wir eine Pan­ne – auch das kommt vor. Und so bin ich erst jetzt hier an­ge­kom­men, die Tür war auf­ge­bro­chen, das Schloss lag am Bo­den – es roch noch ganz leicht nach Gas… Und dann hör­te ich Schrit­te in der Woh­nung. ›Ist viel­leicht‹, dach­te ich bei mir selbst, ›je­ner sym­pa­thi­sche In­spek­tor an­we­send, des­sen Be­kannt­schaft zu ma­chen ich in Pa­ris die Ehre und das Ver­gnü­gen hat­te? Das wäre eine wahr­haft gött­li­che Fü­gung!‹ Es stimm­te…«

Zu­erst hat­te Stu­der über­haupt nicht zu­ge­hört, son­dern mehr dem Klan­ge der Rede ge­lauscht und ihn mit dem Ton­fall je­ner an­de­ren Stim­me ver­gli­chen, die ihn am Te­le­fon aus­ge­lacht hat­te. Der Pa­ter sprach ein aus­ge­zeich­ne­tes Hoch­deutsch, nur hin und wie­der, bei Wor­ten wie »ge­dacht« und »leicht« klang das »ch« gau­mig-schwei­ze­risch… Die Stim­me war eine rich­ti­ge Kan­zel­stim­me, tief, or­gelnd, und sie pass­te ei­gent­lich nicht recht zu dem dürf­ti­gen Kör­per. Aber Stim­men kann man ver­stel­len, nicht wahr? In der klei­nen Pa­ri­ser Bei­ze hat­te die Stim­me et­was an­ders ge­klun­gen, ein we­nig hö­her viel­leicht. War die fran­zö­si­sche Spra­che, die der Pa­ter da­mals ge­braucht hat­te, an die­ser Ver­schie­den­heit schuld?

Stu­der bück­te sich plötz­lich und hob das Schloss vom Bo­den auf. Er be­trach­te­te es auf­merk­sam, sah dann in die Höhe und sei­ne Bli­cke such­ten nach dem Gas­zäh­ler. Er war nicht in der Kü­che. Gera­de über der Fl­ur­tür hock­te er und sah ge­nau so grün und feist und gri­mas­sie­rend aus wie sein Bru­der in Ba­sel…

Und der He­bel, der als Haup­t­hahn funk­tio­nier­te, stand schief. Er stand schief und bil­de­te einen Win­kel von fünf­und­vier­zig Gra­d…

Stu­der be­trach­te­te wie­der das Schloss in sei­ner Hand. Da hör­te er die Kan­zel­stim­me sa­gen:

»Falls Sie eine Lupe brau­chen soll­ten, In­spek­tor, so kann ich mit ei­ner sol­chen die­nen. Ich be­schäf­ti­ge mich näm­lich mit Bo­ta­nik und Geo­lo­gie und tra­ge dar­um im­mer ein Ver­grö­ße­rungs­glas in der Ta­sche…«

Der Wacht­meis­ter blick­te nicht auf, er hör­te die Fe­dern des Klub­ses­sels äch­zen, dann wur­de ihm et­was in die Hand ge­scho­ben – er hielt das Glas vors Au­ge…

Kein Zwei­fel, rund um das Schlüs­sel­loch wa­ren graue Fä­ser­chen zu se­hen, be­son­ders am vor­ste­hen­den, obe­ren Rand, so, als habe sich ein Schnür­lein an der schar­fen Kan­te ge­wetzt.

Und der Haup­t­hahn bil­de­te einen Win­kel von fünf­und­vier­zig Grad!

Ver­rückt!… An­ge­nom­men, die alte Frau hat­te ein Schlaf­mit­tel ge­nom­men und war dar­auf in ih­rem le­der­nen Klub­ses­sel ein­ge­nickt – wäre es da für den mut­maß­li­chen Mör­der nicht ein­fa­cher ge­we­sen, im Vor­bei­ge­hen den Haup­t­hahn zu öff­nen und sich dann still zu ent­fer­nen?… Wenn näm­lich ein Mord vor­lag…

Wa­rum un­nö­tig kom­pli­zie­ren? Eine Schnur am Haup­t­hahn an­brin­gen, sie oben über die Gas­röh­re füh­ren, das Ende der Schnur durchs Schlüs­sel­loch ste­cken und dann von au­ßen zie­hen, zie­hen, bis die Sch­lin­ge vom ei­ser­nen He­bel­schlüs­sel ab­rutsch­te und man die Schnur hin­aus­zie­hen konn­te?…

»Alte Frau­en ha­ben einen lei­sen Schlaf…«, sag­te Pa­ter Matt­hi­as. Lä­chel­te er? Es war schwer fest­zu­stel­len, trotz der spär­li­chen Schnurr­bart­haa­re, die über sei­nen Mund fie­len wie ein fein­ge­hä­kel­ter Spit­zen­vor­hang. Aber er hielt den Kopf ge­senkt und ließ sei­ne rote Müt­ze krei­sen. Ein Son­nen­strahl fiel durchs Kü­chen­fens­ter und um die Ton­sur am Hin­ter­kopf glit­zer­ten die kur­z­en Haa­re wie Eis…

»Dan­ke«, sag­te Stu­der und gab die Lupe zu­rück. Der Pa­ter ließ sie in sei­ner grund­lo­sen Kut­ten­ta­sche ver­schwin­den, zog die Ta­baks­do­se her­vor, schnupf­te aus­gie­big und sag­te dann:

»Da­mals, in Pa­ris, als mir die Ehre zu­teil wur­de, Ihre Be­kannt­schaft zu ma­chen, muss­te ich so plötz­lich auf­bre­chen, dass es mir ver­sagt ge­blie­ben ist, Ih­nen an­de­re wich­ti­ge De­tails zu er­zäh­len…« Sto­cken… »… über mei­nen Bru­der, mei­nen zu Fez ver­stor­be­nen Bru­der.«

»Wich­ti­ges?«, frag­te Stu­der und hielt den an­ge­brann­ten Stroh­halm un­ter die Bris­sa­go.

»Wie man’s nimmt.« Der Pa­ter schwieg, spiel­te mit sei­ner Sche­schia, schi­en plötz­lich einen Ent­schluss ge­fasst zu ha­ben, denn er stand auf, die ver­tätsch­te Kap­pe ließ er auf dem Stuhl lie­gen und sag­te:

»Ich wer­de Ih­nen einen Kaf­fee brau­en…«

»Mi­ra…«, mur­mel­te Stu­der. Er saß auf ei­nem weiß­ge­scheu­er­ten Kü­chen­hocker­li ne­ben der Tür und hat­te die Au­gen bis auf einen schma­len Spalt ge­schlos­sen. Nur die Ver­wun­de­rung ver­ber­gen, dach­te er, und be­son­ders die Neu­gier­de! Der Mann dort hat­te es dar­auf ab­ge­se­hen, ihn zu ver­wir­ren. Denn: Tat­sa­che war, dass in die­ser Kü­che vor nicht lan­ger Zeit eine alte Frau ums Le­ben ge­kom­men war. Aber der Pa­ter schi­en nicht einen Au­gen­blick an die­se Tat­sa­che zu den­ken, er nahm eine Pfan­ne, füll­te sie am Was­ser­hahn, stell­te sie auf einen Bren­ner. Dann scheuch­te er den Wacht­meis­ter von sei­nem Hocker­li auf, be­stieg den Sche­mel, um den Haup­t­hahn ganz auf­zu­dre­hen, nun stand er senk­recht, klet­ter­te her­ab und sag­te zer­streut: »Wo mag wohl der Kaf­fee sein?«

Und Stu­der sah das Holz­ge­stell über dem Gas­réchaud in der Kü­che am Spa­len­berg und die Blech­do­sen mit der ab­ge­sto­ße­nen Email­gla­sur: »Kaf­fee«, »Salz«, »Mehl«. Hier gab es nichts der­glei­chen. Im Kü­chen­schaft ein ro­ter Pa­pier­sack mit Kaf­fee­pul­ver.

Ein lei­ser Knall – der Pa­ter hat­te die Flam­me un­ter der Pfan­ne an­ge­zün­det. Nun ging er mit wei­taus­ho­len­den Schrit­ten in der Kü­che auf und ab, die Fal­ten an sei­ner Kut­te zer­split­ter­ten, form­ten sich wie­der, und bis­wei­len, se­kun­den­lang nur, traf den wei­ßen Stoff ein Son­nen­strahl: dann leuch­te­te die Stel­le wie ein frisch­ge­präg­ter Sil­ber­ling…

»Er hat es pro­phe­zeit, mein Hell­se­her­kor­po­ral«, sag­te Pa­ter Matt­hi­as. »Er hat es ge­wusst… Zu­erst die in Ba­sel, dann die in Bern. Und wir bei­de ha­ben die bei­den al­ten Frau­en nicht mehr ret­ten kön­nen. Ich nicht, weil ich je­des Mal zu spät ge­kom­men bin. Sie nicht, In­spek­tor, weil Sie un­gläu­big wa­ren.«

Schwei­gen. Die Gas­flam­me schlug zu­rück, es pfiff son­der­bar dumpf und höh­nisch; Pa­ter Matt­hi­as be­hob die Stö­rung.

»Ich hat­te den bei­den Frau­en ge­schrie­ben, sie möch­ten sich in acht neh­men, es dro­he ih­nen Ge­fahr. Ich habe Jo­se­pha in Ba­sel be­sucht, gleich nach mei­ner An­kunft, das war vor­ges­tern – vor­ges­tern Mor­gen. Am Abend woll­te ich noch ein­mal zu ihr, aber es war spät ge­wor­den. Um elf Uhr läu­te­te ich an ih­rer Woh­nung. Al­les war dun­kel, nie­mand öff­ne­te mir.«

»Roch es nicht nach Gas?«, frag­te Stu­der und auch er sprach Schrift­deutsch.

»Nein.« Pa­ter Matt­hi­as be­schäf­tig­te sich mit der Pfan­ne auf dem Herd. Er hat­te dem Wacht­meis­ter den Rücken zu­ge­kehrt. Das Was­ser koch­te. Pa­ter Matt­hi­as schüt­te­te das Kaf­fee­pul­ver dar­ein, ließ die Mi­schung auf­ko­chen, dreh­te das Gas ab und schüt­te­te mit ei­ner Kel­le ein we­nig kal­tes Was­ser in die Brü­he. Dann nahm er Tas­sen aus dem Schaft, mur­mel­te: »Wo hat die alte Frau ih­ren Schnaps ver­wahrt? Wo? – Im un­tern Kü­chen­schrank! – Wol­len Sie wet­ten, In­spek­tor, dass er im un­tern Kü­chen­schrank steht?… Se­hen Sie!«

Er füll­te die Tas­sen, tat ge­schäf­tig mit: »Blei­ben Sie nur sit­zen! Las­sen Sie sich nicht stö­ren!« Und brach­te den Kaf­fee, den er tap­fer mit Kirsch ver­dünnt hat­te, dem Wacht­meis­ter. Es war ge­spens­tisch, fand Stu­der, das Kaf­fee­trin­ken um zehn Uhr mor­gens in der lee­ren Woh­nung. Es kam ihm vor, als hocke die alte Frau, de­ren Ge­sichts­zü­ge ihm un­be­kannt wa­ren, in dem le­der­nen Klub­ses­sel und sage: »Ser­vie­ret-ech ungs­che­niert, Wacht­me­isch­ter, aber denn su­e­chet myn Mör­der!«

Und es war wie ein Wei­ter­spin­nen die­ser Vi­si­on, als Stu­der frag­te:

»Wie sah sie ei­gent­lich aus, die So­phie Hor­nuss?«

Pa­ter Matt­hi­as, der wie­der sei­ne Wan­de­rung durch die Kü­che auf­ge­nom­men hat­te, blieb ste­hen. Sei­ne Hand fuhr in die un­er­gründ­li­che Ta­sche sei­ner Kut­te und brach­te ein klei­nes Ding aus ro­tem Le­der zum Vor­schein, das wie ein Ta­schen­spie­gel aus­sah. Aber statt des Spie­gels sah man beim Auf­klap­pen zwei Fo­to­gra­fi­en.

Stu­der be­trach­te­te die Bil­der. Das eine stell­te die Jo­se­pha dar: denn nicht zu ver­ken­nen war die War­ze ne­ben dem lin­ken Na­sen­flü­gel. Nur war das Bild auf­ge­nom­men wor­den, als die Frau noch jung war. Viel Güte lag um den Mund, um die Au­gen…

Das an­de­re Bild – Stu­der wuss­te gar nicht, dass er sich räus­per­te, dass er auf die Fo­to­gra­fie starr­te und starr­te…

Die Au­gen vor al­lem: ver­schla­ge­ne, ste­chen­de Au­gen. Ein schma­ler Mund – nur ein Strich wa­ren die Lip­pen in dem ju­gend­li­chen Ge­sicht. Ju­gend­lich? Wa­rum nicht gar! Ge­wiss, die Fo­to­gra­fie stell­te eine Frau dar, Mit­te der Zwan­zi­ger­jah­re, aber es war ei­nes je­ner Ge­sich­ter, die nie al­tern – oder nie jung sind. Bei­des war rich­tig. Und noch et­was ließ sich aus dem Bild be­grei­fen: dass der Schwei­zer Geo­lo­ge Cle­man Alois Vic­tor die Schei­dung ver­langt hat­te. Mit solch ei­ner Frau war nicht gut zu­sam­men­span­nen!… – Eine hoch­ge­schlos­se­ne Blu­se, ein Steh­kra­gen mit Stäb­li, der das spit­ze Kinn trug… Und Stu­der konn­te es nicht ver­hin­dern, dass ihm ein Frös­teln über den Rücken lie­f…

Die Au­gen! Sie wa­ren ge­la­den mit Hohn, mit höh­ni­schem Wis­sen. Sie schri­en es dem Be­schau­er ent­ge­gen: »Ich weiß, ich weiß viel! Aber ich sage nichts!«

Was wuss­te die Frau?

»Wann hat sich Ihr Bru­der schei­den las­sen?«, frag­te Stu­der und sei­ne Stim­me war ein we­nig hei­ser.

»1908. Und im nächs­ten Jahr hei­ra­te­te er wie­der. 1910 wur­de Ma­rie ge­bo­ren…«

»Und 1917 ist Ihr Bru­der ge­stor­ben?«

»Ja.«

Pau­se.

Pa­ter Matt­hi­as blieb ste­hen, blick­te zu Bo­den – und dann be­gann er sei­ne Wan­de­rung aufs neue.

»Es ist da eine Merk­wür­dig­keit, die ich ver­ges­sen habe, ih­nen mit­zu­tei­len. Mein Hell­se­her­kor­po­ral Col­la­ni hat sich 1920 in Oran an­wer­ben las­sen – schon das ist son­der­bar, dass er auf afri­ka­ni­schem Bo­den en­ga­giert hat – und wäh­rend des großen Krie­ges soll er sich, An­ga­ben zu­fol­ge, die bei sei­nen Per­so­nal­ak­ten la­gen, als Kran­ken­pfle­ger in Marok­ko be­tä­tigt ha­ben – in Fez. In Fez ist mein Bru­der ge­stor­ben, das wis­sen Sie wohl, In­spek­tor. Ich war da­mals auch im Land, ich zog in der Ge­gend von Ra­bat her­um und wuss­te nichts da­von, dass Vic­tor im Ster­ben lag…«

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