Kitabı oku: «Friedrich Glauser – Wachtmeister Studer», sayfa 17
Die erste Frau
Bald nach Olten begann es zu schneien. Studer saß im Speisewagen und sah durch die Scheiben. Die Hügel, die vorbeiglitten, waren weich hinter dem weißen Vorhang, der so regelmäßig-ununterbrochen fiel, dass er bewegungslos schien…
Vor dem Wachtmeister stand blaues Kaffeegeschirr und daneben in Reichweite eine Karaffe mit Kirsch. Studer wandte die Blicke vom Fenster ab und dem neuen Ringbuch zu, das aufgeschlagen vor ihm lag. Er hielt den Bleistift zwischen Zeige- und Mittelfinger und schrieb in seiner winzigen Schrift, deren Buchstaben selbstständig nebeneinander standen, wie beim Griechischen:
»Cleman-Hornuss Josepha, Witwe, 55 Jahre alt. Gasvergiftung. Selbstmord? Dagegen sprechen: schiefe Stellung des Haupthahns am Gasmesser. Fehlen der Schlüssel zur Wohnungstür und zum Gartentor, aufgesprengte Schublade am Schreibtisch… Und der Telefonanruf.«
Der Telefonanruf! Studer auf seinem Platz im Speisewagen des Schnellzuges Basel-Bern hörte die Stimme wieder – und wie damals im Wohnraum der Witwe Cleman-Hornuss kam sie ihm bekannt vor. Sie erinnerte ihn an eine andere Stimme, die er vor wenigen Tagen gehört hatte, in einer kleinen Beize bei den Pariser Markthallen – das heißt der Ton der Stimme war der gleiche, die Stimmlage ähnlich…
Und betrunken hatte die Stimme getönt. Atemlos, wie bei einem Mann, der hintereinander ein paar Gläser Kognak hinuntergeschüttet hat. Erste Frage: Was hatte dieser Betrunkene mit seinem Anruf bezweckt? Und die zweite: Wo hatte sich Pater Matthias vom Orden der Weißen Väter in dieser Zeit aufgehalten? In welcher Kirche hatte er seine Morgenmesse gelesen? In jener Zementkirche, die von den Baslern das »Seelensilo« getauft worden war?
Studer starrte gedankenverloren zum Fenster hinaus, streckte die Hand aus, erwischte statt des Kaffeekännlis die Karaffe mit dem Kirsch, goss seine Tasse voll, führte sie zum Mund und merkte den Irrtum erst, als er die Tasse schon geleert hatte. Er sah auf, begegnete dem Grinsen des Kellners, grinste freundlich zurück, zuckte mit den Achseln, hob die Karaffe noch einmal, z’Trotz, leerte den Rest des Schnapses in seine Tasse und begann eifrig zu schreiben.
»Cleman Alois Victor. Geologe im Dienste der Gebrüder Mannesmann. Schürfungen nach Blei, Silber, Kupfer. Seine Brotherren werden 1915 in Casablanca standrechtlich erschossen, weil sie einigen Deutschen zur Desertation aus der Fremdenlegion verholfen haben. Cleman als Denunziant! Cleman kehrt 1916 nach der Schweiz zurück, reist aber im gleichen Jahre im Auftrag der französischen Regierung wieder nach Marokko. Inspiziert die von den Gebrüdern Mannesmann im Süden des Landes erstellten Bleiöfen. Wird im Juli 1917 schwer erkrankt mit einem Flugzeug nach Fez gebracht. Stirbt nach Aussagen der Tochter, die sich auf ein unauffindbares Telegramm stützen, am 20. Juli alldort. Hinterlässt geringe Erbschaft. War zweimal verheiratet. Erste Frau lebt in Bern, siehe Angaben des Paters. Scheint Vermögen zu besitzen. Ist Schwester der in Basel verstorbenen Josepha Cleman.«
Herzogenbuchsee… Es hatte aufgehört zu schneien. Die trockene Hitze im Wagen machte schläfrig und Studer träumte vor sich hin…
Fremdenlegion! Marokko! Die Sehnsucht nach den fernen Ländern und ihrer Buntheit, die, schüchtern nur, sich gemeldet hatte, damals, bei Pater Matthias’ Erzählung, sie wuchs in Studers Brust. Ja, in der Brust! Es war ein sonderbar ziehendes Gefühl, die unbekannten Welten lockten und Bilder stiegen auf – ganz wach träumte man sie. Unendlich breit war die Wüste, Kamele trabten durch ihren goldgelben Sand, Menschen, braunhäutige, in wallenden Gewändern, schritten majestätisch durch blendendweiße Städte. Von einer Räuberbande wurde Marie geraubt – wie gelangte Marie plötzlich in den Traum? – sie wurde geraubt und man durfte sie befreien. »Danke, Vetter Jakob!«, sagte sie. Das war Glück! Das war etwas anderes als das ewige Rapportschreiben im Amtshaus z’Bärn, im kleinen Büro, das nach Staub und Bodenöl roch… Dort unten gab es andere Gerüche – fremde, unbekannte. Und in des Wachtmeisters Kopf stiegen Erinnerungen auf: an das »Hohe Lied Salomonis«, an die Märchen aus Tausendundeiner Nacht…
Vielleicht, vielleicht war dies wirklich der große Fall…
Vielleicht, vielleicht wurde man offiziös nach Marokko entsandt…
Auf alle Fälle empfahl es sich, gleich morgen zu frühester Stunde in die Gerechtigkeitsgasse Nr. 44 zu gehen, um die geschiedene Frau des Geologen auszufragen…
Burgdorf… Studer leerte den Rest des kalten Kaffees in seine Tasse, trank das Gemisch, fand seinen Geschmack abscheulich und rief: »Zahlen!« Der Kellner grinste wieder vertraulich. Aber Studer war es nicht mehr ums Lachen zu tun. Er konnte Marie nicht vergessen, die mit dem Sekretär Koller nach Paris gereist war, – Pelzjackett, seidene Strümpfe, Wildlederschuhe! – Es war nicht zu leugnen, dass er Marie liebgewonnen hatte… Es war ihm, als habe er eine Tochter wiedergefunden. Denn seine Tochter hatte vor einem Jahr einen Landjäger aus dem Thurgau geheiratet – nun war sie Mutter, und dem Wachtmeister war es, als habe er sie endgültig verloren. All diese unklaren Empfindungen waren wohl schuld, dass er dem vertraulichen Kellner nur zwanzig Rappen Trinkgeld gab.
Seine Laune besserte sich auch nicht, als er in Bern ausstieg. Die Wohnung auf dem Kirchenfeld war leer – Studer hatte keine Lust, den Ofen zu heizen. Er ging ins Café, um dort Billard zu spielen, besuchte hernach ein Kino und ärgerte sich über den Film… Später trank er irgendwo ein paar große Helle, aber auch die bekamen ihm nicht. So legte er sich denn gegen elf Uhr mit einem zünftigen Kopfweh zu Bett. Er konnte lange nicht einschlafen.
Die alte Frau mit der Warze neben dem linken Nasenflügel, die so ruhig und gelöst in ihrem grünen Lehnstuhl saß, neben dem zweiflammigen Gasréchaud, kam in der Dunkelheit zu Besuch… Marie tauchte auf, verschwand. Dann war der Silvesterabend da, Kommissär Madelin und das Lexikon Godofrey… Besonders dieser Godofrey, der mit seiner Hornbrille einer noch nicht flüggen Eule glich, ließ sich nicht vertreiben… »Pour madame!«, sagte Godofrey und reichte eine Gansleberterrine durchs Waggonfenster… Aber da wurde die Terrine riesig groß, grün und fest und grimassierend hockte sie oben auf einem Wandbrett und war ein Gaszähler – ein Kopf war dieser verdammte Gaszähler, ein Traumungetüm, das mit seinem einzigen Arm signalisierte… Senkrecht, waagrecht, schief stand der Arm… Marie ging mit dem Pater Matthias Arm in Arm – aber es war nicht Pater Matthias, sondern der Sekretär Koller, der aussah wie des Wachtmeisters Doppelgänger…
Im Halbschlaf hörte sich Studer laut sagen:
»Das isch einewäg Chabis!«
Seine Stimme dröhnte durch die leere Wohnung, verzweifelt tastete Studer das Bett neben dem seinen ab. Aber das Hedy war noch immer im Thurgau, um das neue Jakobli zu pflegen… Ächzend zog er den Arm zurück, denn ihn fror. Und dann schlief er plötzlich ein…
Ob es in Paris schön gewesen sei, fragte am nächsten Morgen um neun Uhr Fahnderkorporal Murmann, der mit Studer das Büro teilte. Der Wachtmeister war noch immer schlechter Laune; er grunzte etwas Unverständliches und bearbeitete weiter die Tasten seiner Schreibmaschine. Im Raume roch es nach kaltem Rauch, Staub und Bodenöl. Vor den Fenstern pfiff die Bise, und der Dampf knackte in den Heizkörpern.
Murmann setzte sich seinem Freunde Studer gegenüber, zog den »Bund« aus der Tasche und begann zu lesen. Seine mächtigen Armmuskeln hatten die Ärmel seiner Kutte aus der Façon gebracht.
»Köbu!«, rief er nach einer Weile. »Los einisch!«
»Jaaa«, sagte Studer ungeduldig. Er musste einen Rapport über einen vor undenklichen Zeiten passierten Mansardendiebstahl schreiben, den der Untersuchungsrichter I mit viel Geschrei am Telefon verlangt hatte.
»In Basel«, fuhr Murmann gemütlich fort, »hat sich eine mit Gas vergiftet…«
Das wisse er schon lange, sagte Studer gereizt.
Murmann ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
Selbstmord mit Gas sei ansteckend, meinte er. Heut’ morgen habe man ihn um sechs Uhr in die Gerechtigkeitsgasse geholt, sie hätten gegenwärtig keine Leute auf der Stadtpolizei, alles sei noch in den Ferien… Ja… Und in der Gerechtigkeitsgasse habe sich auch eine Frau mit Gas vergiftet.
»In der Gerechtigkeitsgasse? Welche Nummer?«, fragte Studer.
»Vierevierzig«, murmelte Murmann, kaute an seinem Stumpen, kratzte sich den Nacken, schüttelte den »Bund« zurecht und las den Leitartikel weiter.
Plötzlich schrak er auf, ein Stuhl war umgefallen. Studer beugte sich über den Tisch, sein Atem ging schwer. – Wie die Frau heiße?… Sein sonst bleiches Gesicht war gerötet.
»Köbu«, meinte Murmann gemütlich, »hescht Stimme?«
Nein, Studer hatte keine Gehörshalluzinationen, er verwahrte sich mit heftigem Kopfschütteln gegen derartige Zumutungen, aber er wollte den Namen der Toten wissen.
»E G’schydni, e Charteschlägere…«, sagte Murmann. »Hornuss, Hornuss Sophie«, und betonte den Vornamen auf der ersten Silbe. Die Leiche sei schon im Gerichtsmedizinischen…
»So«, sagte Studer nur, klapperte noch einen Satz, riss den Bogen von der Walze, malte seine Unterschrift, ging zum Kleiderhaken, zog den Raglan an und schmetterte die Türe hinter sich ins Schloss…
»Ja, ja, der Köbu!«, nickte Murmann und zündete den Stumpen wieder an; dann las er schmunzelnd den Leitartikel zu Ende, der vom Anwachsen der roten Gefahr handelte. Denn Murmann war freisinnig und glaubte an diese Gefahr…
Gerechtigkeitsgasse 44. Neben der Haustür das Schild einer Tanzschule. Hölzerne Stiegen. Sehr sauber, nicht wie in jenem anderen Haus – am Spalenberg. Im dritten Stock, auf einer gelb gestrichenen Tür, die offenstand, eine Visitenkarte:
Sophie Hornuss
Diese Frau war also nicht von Beruf Witwe gewesen! Studer trat ein.
Auf dem Boden lag das Schloss, das beim Aufsprengen der Tür herabgefallen war.
Stille…
Das Vorzimmer geräumig und dunkel. Links ging eine Glastüre in die Küche. Studer schnupperte: auch hier wieder der Gasgeruch. Das Küchenfenster stand offen, die Lampe, die von der Decke hing, trug über dem Porzellanschirm ein Stück quadratischen Seidenstoffes von violetter Farbe, an dessen Ecken braune Holzkugeln hingen. Sie pendelte hin und her.
Nahe dem Fenster ein solider Gasherd mit vier Brennern, Backröhre, Grill. Und neben dem Gasherd ein bequemer lederner Klubsessel, der sich merkwürdig genug in der Küche ausnahm. Wer hatte ihn aus dem Wohnzimmer in die Küche geschleppt? Die alte Frau?
Auf dem mit Wachstuch überzogenen Küchentisch lagen Spielkarten, vier Reihen zu acht Karten. Die erste Karte der obersten Reihe war der Schaufelbauer, der Pique-Bube.
Studer hatte die Hände auf den Rücken gelegt und ging in der Küche auf und ab, öffnete den Schaft, schloss ihn wieder, nahm eine Pfanne von der Wand, lupfte einen Deckel…
Im Schüttstein stand eine Tasse mit schwarzem Satz auf dem Grunde… Studer roch daran: ein schwacher Anisgeruch. Er kostete.
Der bittere Nachgeschmack, der lange an der Zunge haftete… Der Geruch! – Es war ein Zufall, dass Studer beides kannte. Vor zwei Jahren hatte ihm der Arzt gegen Schlaflosigkeit Somnifen verschrieben.
Somnifen!… Der gallenbittere Geschmack, der Anisgeruch… Hatte die alte Frau auch an Schlaflosigkeit gelitten?
Aber warum, zum Tüüfu, hatte sie ein Schlafmittel genommen, hernach einen Klubfauteuil in die Küche geschleppt und schließlich die Hähne des Gasherdes aufgedreht? Warum?
Eine tote Frau in Basel, eine tote Frau in Bern… Als Verbindungsglied zwischen den beiden der Mann: Cleman Alois Victor, Geologe und Schweizer, gestorben im Militärhospital zu Fez während des Weltkrieges. Warum begingen die beiden Frauen des Mannes Cleman fünfzehn Jahre später Selbstmord? Die eine heute, die andere gestern? Begingen Selbstmord auf eine, gelinde gesagt, merkwürdige Manier?
War dies vielleicht der »Große Fall«, von dem jeder Kriminalist träumt, auch wenn er nur ein einfacher Fahnder ist?
»Einfach!«… Das Wort passte eigentlich nicht auf den Wachtmeister. Wäre Studer »einfach« gewesen, so hätten seine Kollegen, vom Polizeihauptmann bis zum simplen Gefreiten, nicht behauptet, er »spinne mängisch«.
An dieser Behauptung war zum Teil die große Bankgeschichte schuld, die ihm das Genick gebrochen hatte, damals, als er wohlbestallter Kommissär bei der Stadtpolizei gewesen war. Er hatte den Abschied nehmen und bei der Kantonspolizei als einfacher Fahnder wieder anfangen müssen. In kurzer Zeit war er zum Wachtmeister aufgestiegen; denn er sprach fließend drei Sprachen: Französisch, Italienisch, Deutsch. Er las Englisch. Er hatte bei Groß in Graz und bei Locard in Lyon gearbeitet. Er besaß gute Bekannte in Berlin, London, Wien – vor allem in Paris. An kriminologische Kongresse wurde gewöhnlich er delegiert. Wenn seine Kollegen behaupteten, er spinne, so meinten sie vielleicht damit, dass er für einen Berner allzu viel Fantasie besaß. Aber auch dies stimmte nicht ganz. Er sah vielleicht nur etwas weiter als seine Nase, die lang, spitz und dünn aus seinem hageren Gesicht stach und so gar nicht zu seinem massiven Körper passen wollte.
Studer erinnerte sich, dass er einen Assistenten am Gerichtsmedizinischen von einem früheren Fall her kannte. Er ging durch die Wohnung und suchte das Telefon. Im Wohnzimmer – rote Plüschfauteuils mit Deckchen, verschnörkelter Tisch, Säulchenschreibtisch – war das Telefon an der Wand angebracht.
Studer hob den Hörer ab, stellte die Nummer ein.
»Ich möchte Dr. Malapelle sprechen… Ja?… Sind Sie’s, Dottore? Haben Sie die Sektion schon gemacht?… Jawohl, von der Gasleiche, wie Sie sagen… Senti, Dottore!…« Und Studer sprach weiter Italienisch, erzählte von seinem Verdacht auf Somnifen… Der Arzt versprach das Protokoll auf den Nachmittag.
Dann blätterte der Wachtmeister weiter im Telefonbuch. Nein, hier war keine Fiebertabelle versteckt. Das Zimmer sah nicht aus, als sei es durchsucht worden. Studer probierte die Schubladen am Schreibtisch, sie waren verschlossen.
Das Schlafzimmer… Ein riesiges Bett darin und vor dem einzigen Fenster rote Plüschvorhänge. Sie verdunkelten den Raum. Studer zog die Vorhänge auf.
Über dem Bett hing das Bild eines Mannes.
In Bern eine einsame Frau, in Basel eine einsame Frau. – Die Frau in Bern hatte es ein wenig schöner gehabt, Zweizimmerwohnung mit Küche, während die Josepha in Basel den Durchgangskorridor zum Wohn- und Schlafzimmer als Küche benutzt hatte. Aber einsam waren sie beide gewesen. Studer ertappte sich darauf, die alten Frauen bei ihrem Vornamen zu nennen. Die Josepha in Basel und die Sophie in Bern, beide schlurften in Finken in ihren Wohnungen herum, wahrscheinlich gingen sie auch in Finken über die Straße »go poschte«…
Merkwürdig, dass in der Wohnung der Josepha in Basel kein Bild des verstorbenen Geologen hing. Josepha war doch die rechtmäßige Gattin gewesen, während die Sophie nur eine »G’schydni« war…
Aber über dem Bett der Geschiedenen hing, mit dicken Holzleisten eingerahmt, die vergrößerte Fotografie des Cleman Alois Victor. Denn nur um diesen konnte es sich handeln.
Er trug auf dem Bilde einen dunklen, gekräuselten Bart, der den hohen Westenausschnitt so vollständig verdeckte, dass die Form der Krawatte nicht festzustellen war. Ein Bart! Zeichen der Männlichkeit vor dem Krieg!
Der Bart musste dem Geologen und Schweizer heiß gegeben haben, dort unten in Marokko, beim Silber-, Blei- und Kupferschürfen!… Dazu trug der Mann eine Brille, deren ovale Gläser die Augen verbargen. Verbargen? Es war nicht das richtige Wort!… Sie ließen nur den Blick sonderbar matt und unbeteiligt erscheinen – unpersönlich. Und dadurch wurde auch das ganze Gesicht ausdruckslos.
Ein schöner Mann! Wenigstens das, was man in jenen vorsintflutlichen Zeiten unter einem schönen Mann verstanden hatte…
Studer starrte auf das Bild; er schien zu hoffen, dass ihm der Ehemann von zwei Frauen etwas erzählen werde. Aber der weitgereiste Geologe blickte so gleichgültig drein, wie nur ein Wissenschaftler gleichgültig dreinblicken kann. Und der Wachtmeister kehrte ihm endlich verärgert den Rücken zu.
Als er wieder die Küche betrat, war der lederne Klubsessel nicht mehr leer.
Ein Mann saß darin, der ein merkwürdiges Spiel spielte: er hatte seine Mütze, die aussah wie ein vom Töpfer verpfuschter Blumentopf, über den Zeigefinger seiner Rechten gestülpt. Mit seiner Linken gab er dem vertätschten Gebilde kleine Stöße und brachte es zu einem langsamen Kreisen.
Der Mann, der eine weiße Kutte trug, blickte auf:
»Bonjour, Inspecteur!«, sagte er. Und dann fügte er in einem fremdländisch klingenden Schweizerdeutsch hinzu: »Es guets Neus!«
»Glychfalls!«, antwortete Studer, blieb unter der Tür stehen und lehnte sich an den Pfosten.
Pater Matthias
Der Gründer unseres Ordens, Kardinal Lavigerie«, sagte Pater Matthias und fuhr fort, seinem verpfuschten Blumentopf, den sie drüben in Afrika Scheschia nannten, kleine Stöße zu geben, »unser großer Kardinal soll einmal geäußert haben: ›Ein wahrer Christ kommt nie zu spät.‹ Ganz sicher ist dieser Ausspruch nur in übertragener Bedeutung richtig, denn auf unser Erdenleben angewandt, kann er nicht stimmen. Dieses ist abhängig von menschlichen Einrichtungen, als da sind: Eisenbahnzüge, Dampfboote, Automobile… Meine Nichte Marie, die ich gestern Abend noch traf, erzählte mir, was in Basel vorgefallen ist. Ich habe darum schleunigst ein Taxi gemietet und bin nach Bern gefahren, denn es fuhr kein Zug mehr. Unterwegs hatten wir eine Panne – auch das kommt vor. Und so bin ich erst jetzt hier angekommen, die Tür war aufgebrochen, das Schloss lag am Boden – es roch noch ganz leicht nach Gas… Und dann hörte ich Schritte in der Wohnung. ›Ist vielleicht‹, dachte ich bei mir selbst, ›jener sympathische Inspektor anwesend, dessen Bekanntschaft zu machen ich in Paris die Ehre und das Vergnügen hatte? Das wäre eine wahrhaft göttliche Fügung!‹ Es stimmte…«
Zuerst hatte Studer überhaupt nicht zugehört, sondern mehr dem Klange der Rede gelauscht und ihn mit dem Tonfall jener anderen Stimme verglichen, die ihn am Telefon ausgelacht hatte. Der Pater sprach ein ausgezeichnetes Hochdeutsch, nur hin und wieder, bei Worten wie »gedacht« und »leicht« klang das »ch« gaumig-schweizerisch… Die Stimme war eine richtige Kanzelstimme, tief, orgelnd, und sie passte eigentlich nicht recht zu dem dürftigen Körper. Aber Stimmen kann man verstellen, nicht wahr? In der kleinen Pariser Beize hatte die Stimme etwas anders geklungen, ein wenig höher vielleicht. War die französische Sprache, die der Pater damals gebraucht hatte, an dieser Verschiedenheit schuld?
Studer bückte sich plötzlich und hob das Schloss vom Boden auf. Er betrachtete es aufmerksam, sah dann in die Höhe und seine Blicke suchten nach dem Gaszähler. Er war nicht in der Küche. Gerade über der Flurtür hockte er und sah genau so grün und feist und grimassierend aus wie sein Bruder in Basel…
Und der Hebel, der als Haupthahn funktionierte, stand schief. Er stand schief und bildete einen Winkel von fünfundvierzig Grad…
Studer betrachtete wieder das Schloss in seiner Hand. Da hörte er die Kanzelstimme sagen:
»Falls Sie eine Lupe brauchen sollten, Inspektor, so kann ich mit einer solchen dienen. Ich beschäftige mich nämlich mit Botanik und Geologie und trage darum immer ein Vergrößerungsglas in der Tasche…«
Der Wachtmeister blickte nicht auf, er hörte die Federn des Klubsessels ächzen, dann wurde ihm etwas in die Hand geschoben – er hielt das Glas vors Auge…
Kein Zweifel, rund um das Schlüsselloch waren graue Fäserchen zu sehen, besonders am vorstehenden, oberen Rand, so, als habe sich ein Schnürlein an der scharfen Kante gewetzt.
Und der Haupthahn bildete einen Winkel von fünfundvierzig Grad!
Verrückt!… Angenommen, die alte Frau hatte ein Schlafmittel genommen und war darauf in ihrem ledernen Klubsessel eingenickt – wäre es da für den mutmaßlichen Mörder nicht einfacher gewesen, im Vorbeigehen den Haupthahn zu öffnen und sich dann still zu entfernen?… Wenn nämlich ein Mord vorlag…
Warum unnötig komplizieren? Eine Schnur am Haupthahn anbringen, sie oben über die Gasröhre führen, das Ende der Schnur durchs Schlüsselloch stecken und dann von außen ziehen, ziehen, bis die Schlinge vom eisernen Hebelschlüssel abrutschte und man die Schnur hinausziehen konnte?…
»Alte Frauen haben einen leisen Schlaf…«, sagte Pater Matthias. Lächelte er? Es war schwer festzustellen, trotz der spärlichen Schnurrbarthaare, die über seinen Mund fielen wie ein feingehäkelter Spitzenvorhang. Aber er hielt den Kopf gesenkt und ließ seine rote Mütze kreisen. Ein Sonnenstrahl fiel durchs Küchenfenster und um die Tonsur am Hinterkopf glitzerten die kurzen Haare wie Eis…
»Danke«, sagte Studer und gab die Lupe zurück. Der Pater ließ sie in seiner grundlosen Kuttentasche verschwinden, zog die Tabaksdose hervor, schnupfte ausgiebig und sagte dann:
»Damals, in Paris, als mir die Ehre zuteil wurde, Ihre Bekanntschaft zu machen, musste ich so plötzlich aufbrechen, dass es mir versagt geblieben ist, Ihnen andere wichtige Details zu erzählen…« Stocken… »… über meinen Bruder, meinen zu Fez verstorbenen Bruder.«
»Wichtiges?«, fragte Studer und hielt den angebrannten Strohhalm unter die Brissago.
»Wie man’s nimmt.« Der Pater schwieg, spielte mit seiner Scheschia, schien plötzlich einen Entschluss gefasst zu haben, denn er stand auf, die vertätschte Kappe ließ er auf dem Stuhl liegen und sagte:
»Ich werde Ihnen einen Kaffee brauen…«
»Mira…«, murmelte Studer. Er saß auf einem weißgescheuerten Küchenhockerli neben der Tür und hatte die Augen bis auf einen schmalen Spalt geschlossen. Nur die Verwunderung verbergen, dachte er, und besonders die Neugierde! Der Mann dort hatte es darauf abgesehen, ihn zu verwirren. Denn: Tatsache war, dass in dieser Küche vor nicht langer Zeit eine alte Frau ums Leben gekommen war. Aber der Pater schien nicht einen Augenblick an diese Tatsache zu denken, er nahm eine Pfanne, füllte sie am Wasserhahn, stellte sie auf einen Brenner. Dann scheuchte er den Wachtmeister von seinem Hockerli auf, bestieg den Schemel, um den Haupthahn ganz aufzudrehen, nun stand er senkrecht, kletterte herab und sagte zerstreut: »Wo mag wohl der Kaffee sein?«
Und Studer sah das Holzgestell über dem Gasréchaud in der Küche am Spalenberg und die Blechdosen mit der abgestoßenen Emailglasur: »Kaffee«, »Salz«, »Mehl«. Hier gab es nichts dergleichen. Im Küchenschaft ein roter Papiersack mit Kaffeepulver.
Ein leiser Knall – der Pater hatte die Flamme unter der Pfanne angezündet. Nun ging er mit weitausholenden Schritten in der Küche auf und ab, die Falten an seiner Kutte zersplitterten, formten sich wieder, und bisweilen, sekundenlang nur, traf den weißen Stoff ein Sonnenstrahl: dann leuchtete die Stelle wie ein frischgeprägter Silberling…
»Er hat es prophezeit, mein Hellseherkorporal«, sagte Pater Matthias. »Er hat es gewusst… Zuerst die in Basel, dann die in Bern. Und wir beide haben die beiden alten Frauen nicht mehr retten können. Ich nicht, weil ich jedes Mal zu spät gekommen bin. Sie nicht, Inspektor, weil Sie ungläubig waren.«
Schweigen. Die Gasflamme schlug zurück, es pfiff sonderbar dumpf und höhnisch; Pater Matthias behob die Störung.
»Ich hatte den beiden Frauen geschrieben, sie möchten sich in acht nehmen, es drohe ihnen Gefahr. Ich habe Josepha in Basel besucht, gleich nach meiner Ankunft, das war vorgestern – vorgestern Morgen. Am Abend wollte ich noch einmal zu ihr, aber es war spät geworden. Um elf Uhr läutete ich an ihrer Wohnung. Alles war dunkel, niemand öffnete mir.«
»Roch es nicht nach Gas?«, fragte Studer und auch er sprach Schriftdeutsch.
»Nein.« Pater Matthias beschäftigte sich mit der Pfanne auf dem Herd. Er hatte dem Wachtmeister den Rücken zugekehrt. Das Wasser kochte. Pater Matthias schüttete das Kaffeepulver darein, ließ die Mischung aufkochen, drehte das Gas ab und schüttete mit einer Kelle ein wenig kaltes Wasser in die Brühe. Dann nahm er Tassen aus dem Schaft, murmelte: »Wo hat die alte Frau ihren Schnaps verwahrt? Wo? – Im untern Küchenschrank! – Wollen Sie wetten, Inspektor, dass er im untern Küchenschrank steht?… Sehen Sie!«
Er füllte die Tassen, tat geschäftig mit: »Bleiben Sie nur sitzen! Lassen Sie sich nicht stören!« Und brachte den Kaffee, den er tapfer mit Kirsch verdünnt hatte, dem Wachtmeister. Es war gespenstisch, fand Studer, das Kaffeetrinken um zehn Uhr morgens in der leeren Wohnung. Es kam ihm vor, als hocke die alte Frau, deren Gesichtszüge ihm unbekannt waren, in dem ledernen Klubsessel und sage: »Servieret-ech ungscheniert, Wachtmeischter, aber denn suechet myn Mörder!«
Und es war wie ein Weiterspinnen dieser Vision, als Studer fragte:
»Wie sah sie eigentlich aus, die Sophie Hornuss?«
Pater Matthias, der wieder seine Wanderung durch die Küche aufgenommen hatte, blieb stehen. Seine Hand fuhr in die unergründliche Tasche seiner Kutte und brachte ein kleines Ding aus rotem Leder zum Vorschein, das wie ein Taschenspiegel aussah. Aber statt des Spiegels sah man beim Aufklappen zwei Fotografien.
Studer betrachtete die Bilder. Das eine stellte die Josepha dar: denn nicht zu verkennen war die Warze neben dem linken Nasenflügel. Nur war das Bild aufgenommen worden, als die Frau noch jung war. Viel Güte lag um den Mund, um die Augen…
Das andere Bild – Studer wusste gar nicht, dass er sich räusperte, dass er auf die Fotografie starrte und starrte…
Die Augen vor allem: verschlagene, stechende Augen. Ein schmaler Mund – nur ein Strich waren die Lippen in dem jugendlichen Gesicht. Jugendlich? Warum nicht gar! Gewiss, die Fotografie stellte eine Frau dar, Mitte der Zwanzigerjahre, aber es war eines jener Gesichter, die nie altern – oder nie jung sind. Beides war richtig. Und noch etwas ließ sich aus dem Bild begreifen: dass der Schweizer Geologe Cleman Alois Victor die Scheidung verlangt hatte. Mit solch einer Frau war nicht gut zusammenspannen!… – Eine hochgeschlossene Bluse, ein Stehkragen mit Stäbli, der das spitze Kinn trug… Und Studer konnte es nicht verhindern, dass ihm ein Frösteln über den Rücken lief…
Die Augen! Sie waren geladen mit Hohn, mit höhnischem Wissen. Sie schrien es dem Beschauer entgegen: »Ich weiß, ich weiß viel! Aber ich sage nichts!«
Was wusste die Frau?
»Wann hat sich Ihr Bruder scheiden lassen?«, fragte Studer und seine Stimme war ein wenig heiser.
»1908. Und im nächsten Jahr heiratete er wieder. 1910 wurde Marie geboren…«
»Und 1917 ist Ihr Bruder gestorben?«
»Ja.«
Pause.
Pater Matthias blieb stehen, blickte zu Boden – und dann begann er seine Wanderung aufs neue.
»Es ist da eine Merkwürdigkeit, die ich vergessen habe, ihnen mitzuteilen. Mein Hellseherkorporal Collani hat sich 1920 in Oran anwerben lassen – schon das ist sonderbar, dass er auf afrikanischem Boden engagiert hat – und während des großen Krieges soll er sich, Angaben zufolge, die bei seinen Personalakten lagen, als Krankenpfleger in Marokko betätigt haben – in Fez. In Fez ist mein Bruder gestorben, das wissen Sie wohl, Inspektor. Ich war damals auch im Land, ich zog in der Gegend von Rabat herum und wusste nichts davon, dass Victor im Sterben lag…«
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