Friedrich Glauser – Wachtmeister Studer

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Der Fall Wendelin Witschi zum ersten

Ihr sei­d…« (Räus­pern.) »Ihr seid der Wacht­meis­ter Stu­der?«

»Ja.«

»Nehmt Platz.«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter war klein, ma­ger, gelb. Sein Rock war über den Ach­seln ge­pols­tert und von li­la­brau­ner Far­be. Zu ei­nem wei­ßen, sei­de­nen Hemd trug er eine korn­blu­men­blaue Kra­wat­te. In den di­cken Sie­gel­ring war ein Wap­pen ein­gra­viert – der Ring schi­en üb­ri­gens alt.

»Wacht­meis­ter Stu­der, ich möch­te Euch sehr höf­lich fra­gen, was Ihr Euch ei­gent­lich vor­stellt. Wir kommt Ihr dazu, Euch ei­gen­mäch­tig – ich wie­der­ho­le: ei­gen­mäch­tig! in einen Fall ein­zu­mi­schen, der…«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter stock­te und wuss­te selbst nicht wes­halb. Da saß vor ihm ein ein­fa­cher Fahn­der, ein äl­te­rer Mann, an dem nichts Auf­fäl­li­ges war: Hemd mit wei­chem Kra­gen, grau­er An­zug, der ein we­nig aus der Form ge­ra­ten war, weil der Kör­per, der dar­in steck­te, dick war. Der Mann hat­te ein blei­ches, ma­ge­res Ge­sicht, der Schnurr­bart be­deck­te den Mund, so­dass man nicht recht wuss­te, lä­chel­te der Mann oder war er ernst. Die­ser Fahn­der also hock­te auf sei­nem Stuhl, die Schen­kel ge­spreizt, die Un­ter­ar­me auf den Schen­keln und die Hän­de ge­fal­tet… Der Un­ter­su­chungs­rich­ter wuss­te selbst nicht, warum er plötz­lich vom ›Ihr‹ zum ›Sie‹ über­ging.

»Sie müs­sen be­grei­fen, Wacht­meis­ter, es scheint mir, als hät­ten Sie Ihre Kom­pe­ten­zen über­schrit­ten…« Stu­der nick­te und nick­te: na­tür­lich, die Kom­pe­ten­zen!… »Was hat­ten Sie für einen Grund, den Ein­ge­lie­fer­ten, den ord­nungs­mä­ßig ein­ge­lie­fer­ten Schlumpf Er­win noch ein­mal zu be­su­chen? Ich will ja ger­ne zu­ge­ben, dass Ihr Be­such höchst op­por­tun ge­we­sen ist – das will aber noch nicht sa­gen, dass er sich mit dem Kom­pe­tenz­be­reich der Fahn­dungs­po­li­zei ge­deckt hat. Denn, Herr Wacht­meis­ter, Sie sind schon lan­ge ge­nug im Diens­te, um zu wis­sen, dass ein frucht­ba­res Zu­sam­men­ar­bei­ten der di­ver­sen In­stan­zen nur dann mög­lich ist, wenn jede dar­auf sieht, dass sie sich streng in den Gren­zen ih­res Kom­pe­tenz­be­rei­ches häl­t…«

Nicht ein­mal, nein, drei­mal das Wort Kom­pe­tenz… Stu­der war im Bild. Das trifft sich güns­tig, dach­te er, das sind die Bö­ses­ten nicht, die im­mer mit der Kom­pe­tenz auf­rücken. Man muss nur freund­lich zu ih­nen sein und sie recht ernst neh­men, dann fres­sen sie ei­nem aus der Han­d…

»Na­tür­lich, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter«, sag­te Stu­der und sei­ne Stim­me drück­te Sanft­mut und Re­spekt aus, »ich bin mir be­wusst, dass ich wahr- und wahr­haf­tig mei­ne Kom­pe­ten­zen über­schrit­ten habe. Sie stell­ten ganz rich­tig fest, dass ich es bei der Ein­lie­fe­rung des Häft­lings Schlumpf Er­win hät­te be­wen­den las­sen sol­len. Und dann – ja, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter, der Mensch ist schwach – dann dach­te ich, dass der Fall viel­leicht doch nicht so klar lie­ge, wie ich es an­fangs an­ge­nom­men hat­te. Es könn­te mög­lich sein, dach­te ich, dass eine wei­te­re Un­ter­su­chung des Fal­les sich als nö­tig er­wei­sen wür­de und dass ich viel­leicht mit de­ren Ver­fol­gung be­traut wer­den könn­te, und da woll­te ich im Bil­de sein…«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter war sicht­lich schon ver­söhnt.

»Aber, Wacht­meis­ter«, sag­te er, »der Fall ist doch ganz klar. Und schließ­lich, wenn die­ser Schlumpf sich auch er­hängt hät­te, das Mal­heur wäre nicht groß ge­we­sen – ich wäre eine un­an­ge­neh­me Sa­che los ge­wor­den und der Staat hät­te kei­ne Ge­richts­kos­ten zu tra­gen brau­chen…«

»Ge­wiss, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter. Aber wäre mit dem Tode des Schlumpf wirk­lich der gan­ze Fall er­le­digt ge­we­sen? Denn dass der Schlumpf un­schul­dig ist, wer­den auch Sie bald her­aus­fin­den.«

Ei­gent­lich war eine der­ar­ti­ge Be­haup­tung eine Frech­heit. Aber so ehr­er­bie­tig war Stu­ders Stim­me, so zwin­gend heisch­te sie Be­ja­hung, dass dem Herrn mit dem wap­pen­ge­schmück­ten Sie­gel­ring nichts an­de­res üb­rig blieb, als zu­stim­mend zu ni­cken.

Mit brau­nem Holz wa­ren die Wän­de des Rau­mes ge­tä­felt, und da die Lä­den vor den Fens­tern ge­schlos­sen wa­ren, schim­mer­te die Luft wie dunkles Gold.

»Die Ak­ten des Fal­les«, sag­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter ein we­nig un­si­cher. »Die Ak­ten des Fal­les… Ich habe noch nicht recht Zeit ge­habt, mich mit ih­nen zu be­schäf­ti­gen… War­ten Sie…«

Rechts von ihm wa­ren fünf Ak­ten­bün­del über­ein­an­der ge­schich­tet. Das un­ters­te, das dünns­te, war das rich­ti­ge. Auf dem blau­en Kar­ton­de­ckel stand:

SCHLUMPF ERWIN

MORD

»Lei­der«, sag­te Stu­der und mach­te ein un­schul­di­ges Ge­sicht. »Lei­der hat man in letz­ter Zeit ziem­lich viel von man­gel­haft ge­führ­ten Un­ter­su­chun­gen ge­hört. Und da wäre es viel­leicht bes­ser, wenn man sich auch bei ei­nem so kla­ren Fall mit den not­wen­di­gen Kau­te­len um­ge­ben wür­de…«

In­ner­lich grins­te er: Kommst du mir mit Kom­pe­tenz, komm ich dir mit Kau­te­len.

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter nick­te. Er hat­te eine Horn­bril­le aus ei­nem Fut­te­ral ge­zo­gen, sie auf die Nase ge­setzt. Jetzt sah er aus wie ein trau­ri­ger Film­ko­mi­ker.

»Ge­wiss, ge­wiss, Wacht­meis­ter. Sie müs­sen nur be­den­ken, es ist mei­ne ers­te schwe­re Un­ter­su­chung, und da wird mir na­tür­lich Ihre Kom­pe­tenz in die­sen An­ge­le­gen­hei­ten…«

Wei­ter kam er nicht. Stu­der hob ab­weh­rend die Hand.

Aber der Un­ter­su­chungs­rich­ter be­ach­te­te die Be­we­gung nicht. Er hat­te zwei Fo­to­gra­fi­en in der Hand und reich­te sie über den Tisch:

»Auf­nah­men des Ta­tor­tes…«, sag­te er.

Stu­der be­trach­te­te die Bil­der. Sie wa­ren nicht schlecht, ob­wohl sie von kei­nem kri­mi­no­lo­gisch ge­schul­ten Fach­mann auf­ge­nom­men wor­den wa­ren. Auf bei­den sah man das Un­ter­holz ei­nes Tan­nen­wal­des und auf dem Bo­den, der mit dür­ren Na­deln über­sät war – die Bil­der wa­ren sehr scharf –, lag eine dunkle Ge­stalt auf dem Bauch. Rechts am kah­len Hin­ter­kopf, schät­zungs­wei­se drei Fin­ger breit von der Ohr­mu­schel, ge­ra­de über ei­nem dün­nen Haar­kranz, der zum Teil den Rock­kra­gen be­deck­te, war ein dunkles Loch zu se­hen. Es sah ziem­lich ab­sto­ßend aus. Aber Stu­der war an sol­che Bil­der ge­wöhnt. Er frag­te nur:

»Ta­schen leer?«

»War­ten Sie, ich habe hier den Rap­port vom Land­jä­ger­kor­po­ral Mur­mann…«

»Ah«, un­ter­brach Stu­der, »der Mur­mann ist in Ger­zen­stein. So, so!«

»Ken­nen Sie ihn?«

»Doch, doch. Ein Kol­le­ge. Hab ihn aber schon vie­le Jah­re nicht ge­se­hen. Was schreibt der Mur­mann?«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter dreh­te das Blatt um, dann mur­mel­te er hal­be Sät­ze vor sich hin. Stu­der ver­stand:

»… männ­li­che Lei­che auf dem Bau­che lie­gen­d… Ein­schuss hin­ter dem rech­ten Ohr… Ku­gel im Kopf ste­cken ge­blie­ben… wahr­schein­lich aus ei­nem 6,5 Brow­ning…«

»In Waf­fen kennt er sich aus, der Mur­mann!« be­merk­te Stu­der.

»… Ta­schen leer…«, sag­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter.

»Was?« ganz scharf die Fra­ge. »Ha­ben Sie zu­fäl­lig eine Lupe?« Alle Höf­lich­keit war aus Stu­ders Stim­me ver­schwun­den.

»Eine Lupe? Ja. War­ten Sie. Hier…«

Ein paar Au­gen­bli­cke war es still. Durch einen Spalt der Fens­ter­lä­den fiel ein Son­nen­strahl ge­ra­de auf Stu­ders Haar. Schwei­gend be­trach­te­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter den Mann, der da vor ihm hock­te, den brei­ten, run­den Rücken und die grau­en Haa­re, die glänz­ten, wie das Fell ei­nes Ap­fel­schim­mels.

»Das ist lus­tig«, sag­te Wacht­meis­ter Stu­der mit lei­ser Stim­me. (Was, zum Teu­fel, ist an der Fo­to­gra­fie ei­nes Er­mor­de­ten lus­tig! dach­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter.) »Der Rock ist ja ganz sau­ber auf dem Rücken…«

»Sau­ber auf dem Rücken? Ja, und?«

»Und die Ta­schen sind leer«, sag­te Stu­der kurz, als sei da­mit al­les er­klärt.

»Ich ver­steh’ nicht…« Der Un­ter­su­chungs­rich­ter nahm die Bril­le ab und putz­te die Glä­ser mit sei­nem Ta­schen­tuch.

»Wenn…«, sag­te Stu­der und tipp­te mit der Lupe auf die Auf­nah­me. »Wenn Sie sich vor­stel­len, dass der Mann hier im Wal­de meuch­lings über­fal­len wor­den ist, dass ihn ei­ner von hin­ten nie­der­ge­schos­sen hat, so geht aus der Lage der Lei­che her­vor, dass der Mann vorn­über aufs Ge­sicht ge­fal­len ist. Nicht wahr? Er liegt also auf dem Bauch, rührt sich nicht mehr. Aber sei­ne Ta­schen sind leer. Wann hat man die Ta­schen ge­leert?«

»Der An­grei­fer hät­te den Wit­schi zwin­gen kön­nen, die Brief­ta­sche aus­zu­lie­fern…«

»Nicht sehr wahr­schein­lich… Was sagt das Sek­ti­ons­pro­to­koll, wann der Tod mut­maß­lich ein­ge­tre­ten ist?«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter blät­ter­te in den Ak­ten, eif­rig, wie ein Schü­ler, der ger­ne vom Leh­rer eine gute Note be­kom­men möch­te. Merk­wür­dig, wie schnell die Rol­len sich ver­tauscht hat­ten. Stu­der hock­te im­mer noch auf dem un­be­que­men Stuhl, der si­cher­lich sonst für die vor­ge­führ­ten Häft­lin­ge be­stimmt war, und doch sah es so aus, als ob er die gan­ze An­ge­le­gen­heit in die Hand ge­nom­men hät­te…

»Das Sek­ti­ons­pro­to­koll«, sag­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter jetzt, räus­per­te sich tro­cken, rück­te an sei­ner Bril­le und las: »Zer­trüm­me­rung des Oc­ci­pi­tal­kno­chens… Me­sence­pha­lum… ste­cken­ge­blie­ben in der Ge­gend des lin­ken… Aber das wol­len Sie ja al­les nicht wis­sen… Hier… Tod ap­pro­xi­ma­tiv zehn Stun­den vor Auf­fin­dung der Lei­che ein­ge­tre­ten… Das woll­ten Sie wis­sen, Wacht­meis­ter? Auf­ge­fun­den ist die Lei­che zwi­schen halb acht und vier­tel vor acht Uhr mor­gens von Jean Cot­te­reau, Ober­gärt­ner in den Baum­schu­len El­len­ber­ger… Der Mord wäre also un­ge­fähr um zehn Uhr abends ver­übt wor­den.«

 

»Zehn Uhr? Gut. Wie stel­len Sie sich die Sze­ne vor? Der alte Wit­schi kommt von ei­ner Tour zu­rück, er fährt mit sei­nem Zehn­der ru­hig nach Hau­se. Plötz­lich wird er an­ge­hal­ten… Schon da ist vie­les nicht klar. Wa­rum steigt er ab? Hat er Angst?… Neh­men wir an, er sei an­ge­hal­ten wor­den. Gut, er wird ge­zwun­gen, sei­nen Kar­ren an einen Baum zu leh­nen, man treibt ihn in den Wald… Wa­rum nimmt ihm der An­grei­fer nicht auf der Stra­ße die Brief­ta­sche fort und drückt sich?… Nein! Er zwingt den Wit­schi, mit ihm hun­dert Me­ter – es wa­ren doch hun­dert Me­ter? – in den Wald zu ge­hen. Schießt ihn von hin­ten nie­der. Der Mann fällt auf den Bauch… Wol­len Sie mir sa­gen, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter, wann ihm die Brief­ta­sche mit den ver­schwun­de­nen drei­hun­dert Fran­ken aus der Ta­sche ge­nom­men wor­den ist?«

»Brief­ta­sche? Drei­hun­dert Fran­ken? War­ten Sie, Wacht­meis­ter. Ich muss mich zu­erst ori­en­tie­ren…«

Stil­le. Eine Flie­ge summ­te dröh­nend. Stu­der hat­te sich kaum be­wegt, sein Kopf blieb ge­senkt.

»Sie ha­ben recht… Frau Wit­schi gibt an, ihr Mann habe am Mor­gen zu ihr ge­sagt, er wer­de wahr­schein­lich am Abend hun­dert­fünf­zig Fran­ken mit­brin­gen. Es sei­en Rech­nun­gen fäl­lig. Hun­dert­fünf­zig Fran­ken habe er noch be­ses­sen… Te­le­fo­ni­sche Er­kun­di­gun­gen ha­ben er­ge­ben, dass wirk­lich zwei Kun­den des Wit­schi ihre Rech­nun­gen be­zahlt ha­ben. Die eine Rech­nung be­trug hun­dert Fran­ken, die an­de­re fünf­zig…«

»Die eine hun­dert und die an­de­re fünf­zig? Merk­wür­dig…«

»Wa­rum merk­wür­dig?«

»Weil der Schlumpf drei Hun­der­ter­no­ten in sei­nem Be­sitz ge­habt hat. Eine, die er im ›Bä­ren‹ ge­wech­selt hat, und zwei, die ich ihm ab­ge­nom­men habe. Wo ist die Brief­ta­sche hin­ge­kom­men?«

»Sie ha­ben recht, Wacht­meis­ter. Der Fall hat ei­ni­ge dunkle Punk­te…«

»Dunkle Punk­te!« Stu­der zuck­te die Ach­seln.

Ein un­ge­müt­li­cher Mann, dach­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter. Er war ner­vös wie sei­ner­zeit beim Staats­ex­amen. Vi­el­leicht war die­ser Wacht­meis­ter für Schmei­che­lei emp­fäng­lich… Da­rum sag­te er: »Ich sehe, Wacht­meis­ter, dass Ihre prak­ti­sche kri­mi­no­lo­gi­sche Schu­lung der mei­ni­gen über­le­gen ist…«

Stu­der brumm­te ir­gend et­was.

»Was woll­ten Sie sa­gen?« Der Un­ter­su­chungs­rich­ter leg­te die Hand ans Ohr, als wol­le er kein Wort sei­nes Ge­gen­übers ver­lie­ren.

Aber Stu­der schi­en auf ein­mal ver­ges­sen zu ha­ben, wo er sich be­fand. Denn er zün­de­te um­ständ­lich eine Bris­sa­go an.

»Rau­chen Sie nicht lie­ber eine Zi­ga­ret­te?« wag­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter schüch­tern zu fra­gen, denn er hass­te den Bris­sa­go­rauch. Er reich­te dem Wacht­meis­ter ein ge­öff­ne­tes Etui über den Tisch. Stu­der schüt­tel­te ab­leh­nend den Kopf. Ihm, dem Wacht­meis­ter Stu­der, Zi­ga­ret­ten mit Gold­mund­stück!…

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter frag­te in die Stil­le:

»Wo ha­ben Sie sich Ihre prak­ti­schen Kennt­nis­se an­ge­eig­net, Herr Stu­der?« Aber nicht ein­mal der Wech­sel in der An­re­de­form – Herr Stu­der statt Wacht­meis­ter – ver­moch­te den schwei­gen­den Mann aus sei­nem Grü­beln zu we­cken.

»Wie kommt es, dass Sie es mit Ihren Kennt­nis­sen nicht we­nigs­tens zum Po­li­zei­leut­nant ge­bracht ha­ben?«

Stu­der fuhr auf:

»Was?… Wie mei­nen Sie?… Ha­ben Sie einen Aschen­be­cher?«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter lä­chel­te und schob eine Mes­sing­scha­le über den Tisch.

»Ich hab sei­ner­zeit beim Pro­fes­sor Groß in Graz ge­ar­bei­tet. Und warum ich es nicht wei­ter ge­bracht habe? Wis­sen Sie, ich hab’ mir ein­mal die Fin­ger ver­brannt an ei­ner Ban­kaf­fä­re. Da­mals war ich Kom­mis­sär bei der Stadt­po­li­zei… ja, und wäh­rend des Krie­ge­s… Nach der Ban­kaf­fä­re bin ich in Un­gna­de ge­fal­len und hab’ wie­der von un­ten an­fan­gen müs­sen… Das gibt es… Aber was ich sa­gen woll­te: wie ge­den­ken Sie die An­ge­le­gen­heit zu be­han­deln? Was für Schrit­te wer­den Sie un­ter­neh­men?«

Zu­erst woll­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter den Mann an sei­nen Platz ver­wei­sen, ihm klar­ma­chen, hier habe er zu be­feh­len, er tra­ge schließ­lich die Verant­wor­tung für die Un­ter­su­chung… Aber dann ver­warf er die­se Auf­wal­lung. Der Blick Stu­ders hat­te et­was so Er­war­tungs­voll-Ängst­li­ches… Da­rum sag­te er ziem­lich ver­söhn­lich: »Nun, wie ge­wohnt, denk ich. Die Fa­mi­lie Wit­schi vor­la­den, den Meis­ter des… des… An­ge­klag­ten…«

»Schlumpf Er­win«, un­ter­brach Stu­der, »vor­be­straft we­gen Ein­bruch, Dieb­stahl und an­de­rer klei­ne­rer De­lik­te…«

»Ganz rich­tig. Im Grun­de also eine Per­sön­lich­keit, der man das Ver­bre­chen gut zu­trau­en könn­te, nicht wahr?«

»Schon… mög­lich…« Pau­se. »Aber auch ein Vor­be­straf­ter kann nicht zau­bern… Und der Schlumpf wird nicht das Maul auf­tun… Sie wer­den lan­ge fra­gen kön­nen. Der lässt sich le­bens­läng­lich nach Thor­berg schi­cken– und wenn er ein­mal dort ist, hängt er sich wie­der auf. Im Grund ist es scha­d’ um den Bur­schen… ja, es ist scha­d’ um ihn…«

»Ihre Men­sch­lich­keit in Ehren, Herr Stu­der, aber… Wir ha­ben eine Un­ter­su­chung zu füh­ren, oder?«

»Ja, ja… üb­ri­gens ist die Lei­che noch in Ger­zen­stein?«

Wie­der blät­ter­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter in den Ak­ten.

»Sie ist am Mitt­wo­cha­bend ins Ge­richts­me­di­zi­ni­sche In­sti­tut über­führt wor­den. Der Re­gie­rungs­statt­hal­ter von Rogg­wil hat das an­ge­ord­net…«

Stu­der zähl­te an den Fin­gern ab:

»Am Mitt­woch, dem drit­ten Mai um halb acht Uhr mor­gens wird die Lei­che ge­fun­den. Ge­gen Mit­tag die ers­te Ob­duk­ti­on von Dok­tor… Dok­tor… Wie heißt er schon?«

»Dr. Neu­en­schwan­der«

»Neu­en­schwan­der. Gut. Mitt­wo­cha­bend wech­selt Schlumpf die Hun­der­ter­no­te im ›Bä­ren‹. Don­ners­tag Flucht. Heu­te, Frei­tag, ver­haf­te ich ihn bei sei­ner Mut­ter. Wann ist die Lei­che ins Ge­richts­me­di­zi­ni­sche In­sti­tut ge­bracht wor­den?«

»Mitt­wo­cha­ben­d…«

»Wann glau­ben Sie, kön­nen wir den Rap­port vom In­sti­tut ha­ben?«

»Ich habe ge­dacht, wir könn­ten den An­ge­klag­ten mit der Lei­che kon­fron­tie­ren. Was mei­nen Sie dazu?« Die Fra­ge war höf­lich, aber der Un­ter­su­chungs­rich­ter dach­te da­bei: Wenn der Kerl nur bald ab­schie­ben wür­de, die Bris­sa­go stinkt, er ist auf­dring­lich, ich wer­de mich bei der Be­hör­de be­schwe­ren, aber was nützt mir das? Des­we­gen werd’ ich ihn doch nicht so bald los. Also sei­en wir freund­lich…

»Kon­fron­tie­ren?« wie­der­hol­te Stu­der. »Da­mit er wie­der einen Flucht­ver­such macht?«

»Was? Er hat Ih­nen durch­bren­nen wol­len? Und Sie ha­ben mir nichts da­von ge­sagt?«

Stu­der sah den Un­ter­su­chungs­rich­ter mit sei­nen ru­hi­gen Au­gen an. Er zuck­te die Ach­seln. Was soll­te man auf sol­che Fra­gen ant­wor­ten?

»Ich will ganz of­fen mit Ih­nen sein, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter«, sag­te Stu­der plötz­lich, und sei­ne Stim­me klang merk­wür­dig dumpf und er­regt. »Wir ha­ben lan­ge ge­nug her­um­ge­re­det. Sie den­ken bei sich: Die­ser alte, ab­ge­säg­te Fahn­der, der knapp vor der Pen­sio­nie­rung steht, will sich wich­tig ma­chen. Er drängt sich auf. Ich werd ihm aber schon aufs Dach ge­ben las­sen. Heut am Abend noch, so­bald er fort ist, te­le­fo­nie­re ich an die Po­li­zei­di­rek­ti­on und be­schwe­re mich…«

Schwei­gen. Der Un­ter­su­chungs­rich­ter hat­te einen Blei­stift in der Hand und zeich­ne­te Krei­se aufs Lösch­blatt. Stu­der stand auf, pack­te die Leh­ne des Stuh­les, schwang den Stuhl her­um, bis er vor ihm stand, stütz­te sich auf die Leh­ne – und die Bris­sa­go qualm­te, die zwi­schen zwei Fin­gern stak – und dann sag­te er:

»Ich will Ih­nen et­was sa­gen, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter. Ich rei­che gern mei­ne De­mis­si­on ein, wenn der Fall nicht so un­ter­sucht wird, wie ich es wün­sche. Aber wenn ich dann de­mis­sio­niert habe, dann kann ich ma­chen, was ich will. Es wird lus­tig wer­den. Ich hab’ dem Schlumpf ver­spro­chen, sei­ne Sa­che in die Hand zu neh­men…«

»Sind Sie Für­sprech ge­wor­den, Wacht­meis­ter?« warf der Un­ter­su­chungs­rich­ter spöt­tisch ein.

»Nein. Aber ich kann ja einen neh­men. Ei­nen, der die gan­ze An­kla­ge über den Hau­fen wirft – wäh­rend der Schwur­ge­richts­ver­hand­lung. Wenn Sie das lie­ber wol­len? Aber Sie müs­sen sich das recht leb­haft vor­stel­len! Sie wer­den als Zeu­ge von der Ver­tei­di­gung vor­ge­la­den wer­den, und dann wird man Ih­nen alle Feh­ler der Vor­un­ter­su­chung vor­hal­ten… Wird Ih­nen das ge­fal­len?«

Der Kerl ist ja ganz ver­rückt! dach­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter. Der rich­ti­ge Que­ru­lant! Wa­rum hat man ge­ra­de die­sen Stu­der zur Ver­haf­tung ab­kom­man­diert! Ein Ge­rech­tig­keits­fa­na­ti­ker! Dass es so et­was noch gibt! Ich habe die gan­ze Zeit ein­ge­lenk­t… Kann der Mann denn Ge­dan­ken le­sen? Dum­me Ge­schich­te! Und wenn die­ser Schlumpf un­schul­dig ist, dann gibt es wo­mög­lich einen Skan­dal, Leu­te ge­ra­ten in Ver­dacht. Es wird doch bes­ser sein, ich ar­bei­te mit dem Ker­l… Laut sag­te er:

»Das hat ja al­les kei­nen Sinn, Wacht­meis­ter. Ich weiß nur we­nig von der Sa­che. Und dro­hen? Wa­rum fah­ren Sie gleich so schwe­res Ge­schütz auf? Hab’ ich mich ge­wei­gert, Sie an­zu­hö­ren? Sie sind un­ge­dul­dig, Herr Stu­der. Wir kön­nen doch ganz ru­hig die Sa­che be­spre­chen. Sie sind sehr emp­find­lich, Wacht­meis­ter, scheint mir, aber Sie müs­sen den­ken, dass an­de­re Leu­te manch­mal auch Ner­ven ha­ben…«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter war­te­te, und wäh­rend des War­tens starr­te er auf die qual­men­de Bris­sa­go in Stu­ders Han­d…

»Ach so!« sag­te Stu­der plötz­lich. »Das al­so…« Er ging zum Fens­ter, stieß die Lä­den auf und warf die Bris­sa­go hin­aus. »Ich hät­t’ dar­an den­ken sol­len. Leu­te wie Sie… War das der Grund? Ich hab’s ge­spürt, dass Sie et­was ge­gen mich ha­ben, und ge­dacht, es sei we­gen dem Schlumpf… Und dann war’s nur die Bris­sa­go?« Stu­der lach­te.

Ko­mi­scher Mensch! dach­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter. Ver­steht doch al­ler­hand!… Der Bris­sa­go­rauch! Kann so et­was eine feind­li­che Stim­mung aus­lö­sen?… In die­se Ge­dan­ken hin­ein sag­te Stu­der:

»Merk­wür­dig. Manch­mal ist es nur eine un­be­deu­ten­de An­ge­wohn­heit, die uns bei ei­nem Men­schen auf die Ner­ven fällt: das Rau­chen ei­ner schlech­ten Zi­gar­re zum Bei­spiel. Bei mir sin­d’s die teu­ren Zi­ga­ret­ten mit Gold­mund­stück…« Und setz­te sich wie­der:

»So, so«, sag­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter nur. Aber in­ner­lich fühl­te er al­ler­hand Hochach­tung für den Ge­dan­ken­le­ser Stu­der. Und dann mein­te er:

»Ich möch­te jetzt den Schlumpf, Ihren Schütz­ling, vor­füh­ren las­sen. Wol­len Sie da­bei sein?«

»Doch. Gern. Aber viel­leicht sind Sie so gut…«

»Ja, ja«, der Un­ter­su­chungs­rich­ter lä­chel­te, »ich werd’ ihn schon so be­han­deln, dass er sich nicht wie­der auf­hängt, we­nigs­tens vor­läu­fig… Ich kann näm­lich auch an­der­s… Und ich will mit dem Staats­an­walt re­den. Wenn eine wei­te­re Un­ter­su­chung nö­tig sein soll­te, for­dern wir Sie an…«