Schlumpf hatte dem Wachtmeister erzählt, er habe bei einem Ehepaar gewohnt, das in der Bahnhofstraße ein Korbereigeschäft betrieben habe. Hofmann hätten die Leute geheißen.
Das Haus war nicht schwer zu finden. Auf dem Trottoir, vor dem Laden, standen geflochtene Blumenständer, die sich nach einem Salon und der obligaten Palme zu sehnen schienen. Studer trat ein, eine Klingel schrillte gedämpft in einem hinteren Zimmer und dann betrat eine Frau den Laden. Sie trug eine blaugestreifte Ärmelschürze, ihre Haare waren grau und ordentlich frisiert. Sie fragte, was der Herr wolle, und ihre Höflichkeit wirkte angelernt.
Er komme, sagte Studer, um über den Schlumpf Erwin, der ja hier gewohnt habe, Auskunft einzuziehen. Wachtmeister Studer von der Kantonspolizei. Man habe ihn mit der Verfolgung des Falles betraut, und er hätte gern etwas über den Burschen erfahren.
Die Frau nickte, ihr Gesicht wurde traurig.
Das sei eine heillose Geschichte, meinte sie. Der Wachtmeister möge doch eintreten, sie sei allein, ihr Mann sei hausieren gegangen, ob der Wachtmeister nicht ein wenig in die Küche kommen wolle, sie habe gerade Kaffee gemacht, er könne auch eine Tasse trinken, wenn er wolle.
Ganz ungeniert.
Auf Kaffee hatte Studer gerade Lust…
Und er bereute es nicht, denn der Kaffee war gut, keine laue Brühe wie im ›Bären‹. Die Küche war klein, weiß, sehr sauber. Nur der Stuhl, auf dem Studer Platz genommen hatte, war ein wenig zu schmal…
Studer begann vorsichtig zu fragen.
– Ob der Schlumpf pünktlich gezahlt habe? – O ja, jeden Monat, am letzten, wenn er Zahltag gehabt hätte, sei er gekommen und habe 25 Franken auf den Tisch gelegt. – Und sei am Abend immer daheim geblieben? – Das erste Jahr schon, aber seit färn sei er am Abend oft spät zurückgekommen. – Aha, meinte Studer, eine Liebschaft?
Frau Hofmann lächelte. Es war ein freundliches, mütterliches Lächeln. Studer freute sich im stillen über die Frau. Sie nickte.
– Aber das Mädchen sei nie zum Schlumpf ins Zimmer gekommen? – Nie, nein. Solche Sachen wolle sie nicht haben. Nicht dass sie etwas daran finde, aber in einem Dorf!… Der Wachtmeister werde verstehen…
Studer verstand. Es war an ihm zu nicken, und er nickte überzeugt. Er saß da in seiner Lieblingshaltung, die Schenkel gespreizt, die Unterarme auf den Schenkeln und die Hände gefaltet. Sein magerer Kopf war gesenkt.
– Das Mädchen sei auch nie gekommen, um den Schlumpf abzuholen? – Nein… Das heißt, wohl einmal… am Mittwochabend…
»Um welche Zeit?«
»Um halb sieben. Der Schlumpf ist gerade von der Arbeit zurückgekommen, hat sich im Zimmer gewaschen… Er war gerade am Waschen, da ist das Meitschi in den Laden gekommen, ganz blass war sie, aber das hat mich weiter nicht gewundert, weil doch ihr Vater ermordet aufgefunden worden war… Sie hat gesagt, sie müsse den Schlumpf sprechen und ob ich ihn rufen wolle. Er ist dann gekommen, ich hab’ die beiden in der Küche allein gelassen, aber sie haben kaum eine Minute miteinander gesprochen. Dann ist das Meitschi wieder fortgegangen. Und der Schlumpf ist erst nach Mitternacht heimgekommen…«
»Das war am Mittwoch, also am Abend nach der Entdeckung des Mordes, nicht wahr?«
»Ja, Herr Wachtmeister. Ich hab schlecht geschlafen in der Nacht, um vier Uhr hab ich den Schlumpf gehört, wie er auf den Socken die Treppe hinuntergeschlichen ist. Um sieben Uhr ist dann schon der Murmann gekommen und hat den Schlumpf verhaften wollen. Aber da war der Erwin schon fort…«
Der Erwin… Der Name klang zärtlich im Mund der grauen Frau. Zwei Jahre hatte der Erwin also bei den gleichen Leuten gewohnt, er musste sich gut aufgeführt haben, sonst hätten sie ihn wohl nicht so lange behalten…
»Und habt Ihr sein Vorleben gekannt?«
»Ach, Wachtmeister«, sagte Frau Hofmann. »Er hat Unglück gehabt, der Erwin. Mein Vater hat immer gesagt: ›Richtet nicht, auf dass Ihr nicht gerichtet werdet‹. Nein, nein, ich geh’ nicht zu den Stündelern, aber Ihr wisst ja, Wachtmeister, wie es manchmal gehen kann. Der Erwin hat uns in der zweiten Woche alles erzählt, von seinen Einbrüchen und von Thorberg und von der Zwangserziehungsanstalt… Einmal hat ihn seine Mutter besucht… Eine gute Frau… Der Erwin hat viel von seiner Mutter gehalten… Habt Ihr die Mutter gesehen?«
Studer nickte. Er hörte die alte, ruhige Stimme, die fragte: »Aber er darf noch z’Morgen nehmen?«
Über der Küchentür schrillte die Klingel. Es sei wohl jemand im Laden, meinte die Frau, stand auf, füllte vorsorglich Studers Tasse – mit Zucker und Milch solle er sich nur bedienen, meinte sie –, und dann ging sie ihre Kunden bedienen.
Studer trank die Tasse in kleinen Schlücken leer, zog die Uhr: es war bald sechs. Er hatte noch Zeit.
Er spazierte in der kleinen Küche umher, die Hände auf dem Rücken verschränkt, dachte an nichts und schüttelte nur von Zeit zu Zeit den Kopf, wenn ihn irgendein Gedanke belästigen wollte. Zweimal, dreimal kam er an dem weißen Küchenschaft vorbei, ohne ihn richtig zu sehen, bis er sich, bei einer brüsken Kehrtwendung, schmerzhaft an einer Ecke stieß. Nun betrachtete er erst das Möbel, aufmerksam und missbilligend. Es war ein weißer Küchenschaft, unten breit, mit Holztüren; auf diesem breiten unteren Teil erhob sich ein schmäleres Gestell mit Glasfenstern. Ein Stapel Teller, daneben Tassen und Gläser, einige Bratenschüsseln. Auf dem obersten Brett lagen alte Zeitungen, ordentlich aufgeschichtet und neben ihnen, durcheinander, altes Packpapier. Die Türen waren nur angelehnt. Studer starrte auf den unordentlichen Stoß Packpapier. Und da er sich langweilte, nahm er das Packpapier heraus – er packte es fest mit beiden Händen, damit nicht irgendein kleineres Blatt zu Boden flatterte –, legte den Stoß auf den Tisch und begann es sorgfältig zusammenzulegen.
Als er das fünfte Blatt hochhob (noch später erinnerte er sich an die Farbe dieses Papiers, es war blaues Papier, wie man es zum Einwickeln von Zuckerhüten braucht), sah er etwas Schwarzes liegen.
Studer stützte die Fäuste auf den Tisch und besah mit schiefgeneigtem Kopf das schwarze Ding. Kein Zweifel: eine Browningpistole, Kaliber 6,5, eine zierliche Waffe. Aber was hatte dieser Browning in der Küche der Frau Hofmann zu suchen? Wie war er unter dieses Papier gerutscht? Hatte der Schlumpf…? Eine böse Geschichte. Wenn der Untersuchungsrichter in Thun von diesem Fund erfuhr…
Studer schwankte. Vielleicht waren Fingerabdrücke auf dem Kolben zu finden, obwohl der Kolben gerippt war und die Abdrücke sicher nicht so klar waren, dass man etwas mit ihnen würde beweisen können…
Wieder schrillte die Klingel über der Küchentür kurz auf. Die Kunden hatten wohl den Laden verlassen. Frau Hofmann würde gleich zurückkommen.
»Ah bah«, sagte Studer laut, nahm das zierliche schwarze Ding – und ganz kurz sah er das Loch, das dies Ding gemacht hatte, die Einschussöffnung drei Finger etwa vom rechten Ohr im Hinterkopf des Wendelin Witschi – dann steckte Studer die Pistole in seine hintere Hosentasche…
Die Küchentür ging auf. Frau Hofmann kam nicht allein zurück. Sonja Witschi begleitete sie.
Er habe ein wenig Ordnung machen wollen zum Dank für den Kaffee, sagte Studer, aber das sei ja nicht mehr nötig. Er nahm den Stoß Packpapier, warf ihn auf das obere Brett des Küchenschaftes und setzte sich wieder. Er schien das Mädchen gar nicht zu beachten.
»Im Dorf wissen sie schon, dass Ihr die Untersuchung führt, Herr Wachtmeister, und da hat die Sonja mit Euch reden wollen«, sagte Frau Hofmann. Und zu dem Mädchen gewandt: – Es solle abhocken, Kaffee sei noch da…
Studer sah das Mädchen an. Das kleine Gesicht mit der spitzen Nase und den Sommersprossen an den Schläfen war bleich und sah verstört aus. Und immer wichen die Augen Studers Blick aus. Diese Augen blickten furchtsam in der Küche umher, wanderten vom Tisch, auf dem das Packpapier gelegen hatte, zum Schaft, in dem der Stapel nun lag. Die Lippen pressten sich aufeinander.
Am liebsten wäre Studer aufgestanden, hätte dem Mädchen die Haare gestreichelt und es beruhigt, wie man einen zitternden Hund beruhigt. Aber das ging nicht. Vielleicht wusste das Mädchen etwas von der versteckten Pistole? Hatte der Schlumpf die Waffe versteckt und am Abend vor seiner Flucht dem Mädchen erzählt, wo sie lag? Warum war dann Sonja nicht früher gekommen, um sie beiseite zu schaffen? Fragen, viele Fragen!… Studer seufzte.
Nun kam Sonja auf ihn zu, sie schien ihn als denjenigen wiederzuerkennen, der im Zug die Bemerkung über Felicitas Rose gemacht hatte, denn sie wurde rot, als sie Studer die Hand gab. Aber vielleicht hatte die Röte auch eine andere Ursache. Die friedliche Atmosphäre, die vorher in der Küche geherrscht hatte, war gestört. Es war eine Spannung da, die nicht nur von der Verlegenheit (oder war es Angst?) der kleinen Sonja Witschi erzeugt wurde – nein, Studer schien es, als habe sich auch die Haltung Frau Hofmanns verändert.
Das Schweigen, das über der kleinen Küche lag, wurde nur vom Ticken der Uhr unterbrochen, einer weißen Porzellanuhr mit blauen Ziffern. Und während dieses Schweigens wurde Studers optimistische Stimmung zernagt und langsam wuchs eine lähmende Mutlosigkeit in ihm. Vielleicht trug zum Wachsen dieser Mutlosigkeit auch das ungewohnte Gewicht bei, das in seiner hinteren Hosentasche lastete.
– Es seien wohl noch andere Kunden dagewesen, meinte Studer plötzlich. – Nein, keine Kunden… Frau Hofmann schüttelte den Kopf. Zwei Herren seien dagewesen… – Zwei Herren? Wie sie geheißen hätten? – Der Gemeindepräsident und der Lehrer Schwomm. – Was die Herren denn gewollt hätten?
Frau Hofmann schwieg verstockt. Studer blickte auf Sonja Witschi, die er bei sich Felicitas nannte. Aber das Mädchen zuckte nur die Achseln.
– Ob sie mit den beiden Herren gekommen sei? fragte Studer das Mädchen.– Es habe die beiden geholt, als es den Wachtmeister habe in den Laden gehen sehen.
Studer stand auf, kratzte sich die Stirne – das wurde ja immer komplizierter… Aus Frau Hofmann war wohl nichts mehr zu holen… Aber vielleicht aus dem Mädchen?…
»Adieu, Frau Hofmann«, sagte Studer freundlich. »Und du, komm einmal mit. Wir wollen noch ein wenig zusammen reden…«
Es hatte keinen Sinn, sich Schlumpfs Zimmer anzusehen. Das war sicher geputzt und gefegt worden und die Sachen, die Schlumpf gehört hatten, waren verpackt und lagen irgendwo…
Als Studer aus dem Hause trat, wusste er, dass er mit dieser Ansicht recht hatte. Am grünen Laden eines Fensters im oberen Stock baumelte ein weißes Kartonstück.
Darauf stand in ungeschickter Schrift geschrieben:
›Zimmer zu vermieten.‹
Der Wachtmeister wandte sich noch einmal an Frau Hofmann, zeigte auf die Ankündigung und fragte, ob sich schon Mieter gemeldet hätten.
Frau Hofmann nickte.
– Wer denn?
Frau Hofmann zögerte mit der Antwort, doch schien ihr die Frage nicht gefährlich. Und sie sagte:
»Der Lehrer Schwomm hätt’ das Zimmer gern gehabt für einen Verwandten, der einen Monat zu ihm kommen will. Dann ist der Gerber vorbeigekommen, der ist beim Coiffeur als Gehilfe… ja, das wären alle.«
»Und Ihr habt die beiden in die Küche geführt und ihnen Kaffee angeboten?«
Frau Hofmann wurde rot, sie rieb sich verlegen die Hände: »Wenn man den ganzen Tag allein ist, wisst Ihr…«
Studer nickte, lüpfte den Hut und ging mit langen Schritten davon. An seiner Seite trippelte Sonja Witschi. Ihre Absätze klapperten auf dem Asphalt. Aber sie hatte die Strümpfe gewechselt. Wenigstens war über der Ferse des rechten Schuhes kein Loch mehr zu sehen…
Das Haus stand abseits auf einer Anhöhe, inmitten einer kleinen Wohnkolonie, aber es war älter als die Bauten, die es umgaben. Die Ladentüre war neben der Eingangstüre, links; daneben lag eine Art offener Veranda, an deren Hinterwand sich ein gemalter See vor Schneebergen ausbreitete, und die Schneeberge waren rosa, wie wässeriges Himbeereis. Über der Türe prangte in verschnörkelter Schrift der Spruch:
Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein!
Unter den Fenstern des ersten Stockes in blauer Farbe der Name des Hauses:
Alpenruh
Über dem Schaufenster des Ladens, in dem bunte Maggiplakate verblassten, ein Schild, das ebenfalls verwittert war:
W. Witschi-Mischler, Lebensmittelhandlung.
Der Garten war verlottert, hohes Unkraut stand zwischen den Erbsen, die nicht aufgebunden waren. An einer Hausecke lehnte ein verrosteter Rechen.
Auf dem ganzen Weg hatte Studer geschwiegen und gewartet, ob das Mädchen beginnen würde zu sprechen. Aber auch Sonja hatte geschwiegen. Nur einmal hatte sie schüchtern gesagt: »Ich hab heut’ morgen im Zug schon gedacht, dass Ihr von Bern kommt wegen dem Schlumpf, dass Ihr von der Polizei seid…« Studer hatte genickt, gewartet, was noch weiter kommen werde. »Und wie ich gesehen hab’ Ihr geht zu der Frau Hofmann in den Laden, hab ich den Onkel Äschbacher geholt. Die Frau Hofmann ist eine gar Schwatzhafte…«
Studer hatte schweigend die Achseln gezuckt. Die ganze Geschichte ließ sich plötzlich schlecht an. Er wünschte, er hätte mit dem Landjäger Murmann am Morgen eingehender gesprochen.
Der Lehrer Schwomm und der Coiffeurgehilfe Gerber, dachte er – Gerber hieß also der Jüngling, der John-Kling-Romane las und sich Füllfederhalter schenken ließ –, diese beiden waren in der Küche der Frau Hofmann gewesen. Und Sonja… Und der Schlumpf natürlich.
Wer hatte den Revolver versteckt? Warum war er gerade an diesem Platz versteckt worden? Hatte man gehofft, Frau Hofmann werde ihn finden und damit zur Polizei laufen? Angenommen, Frau Hofmann hätte ihn gefunden, dann hätte sie ihn natürlich in die Hand genommen und neugierig, wie Frauen einmal sind, untersucht. Dann wäre selbstverständlich kein Fingerabdruck mehr festzustellen gewesen. Also war es nicht so arg, so tröstete sich Studer, dass er den Browning so ohne Vorsichtsmaßnahmen einfach eingesteckt hatte… Schade, dass er Frau Hofmann nicht gefragt hatte, wann der Schlumpf am Dienstagabend oder vielmehr in der Dienstagnacht heimgekommen war… Aber eigentlich war diese Frage nicht nötig, die Antwort stand sicher in den Akten, richtig, Studer erinnerte sich an eine Seite, auf der stand:
»Frau Hofmann gibt auf Befragen an, der Angeklagte sei in der Mordnacht erst gegen ein Uhr heimgekommen…« Studer schüttelte den Kopf. Merkwürdig, dass diese belastende Tatsache ihn so gar nicht interessierte. Es war alles zu einfach aufgebaut. Ein Vorbestrafter, der einen Mord begeht, der natürlich kein Alibi hat, bei dem das Geld des Ermordeten gefunden wird, der nicht reden will, aber seine Unschuld beteuert, der einen Selbstmordversuch begeht… Es schmeckte – ja, das Ganze schmeckte nach einem schlechten Roman…
Aber natürlich, der unschuldig Schuldige, das war in diesem Fall eine recht reale Figur, ein Mensch, dem es schlecht gegangen war, der wieder eine Zeit lang auf den geraden Weg gekommen war, und der nun… Was hatte der Schlumpf in der Freizeit gelesen? Etwa auch Felicitas Rose? Oder John Kling? Eigentlich wäre das ganz interessant festzustellen. Das kleine Mädchen wusste es sicher, das Mädchen, das teure Füllfederhalter verschenkte… Hatte es eine Liebschaft mit dem Coiffeurgehilfen Gerber? Es sah eigentlich nicht so aus… Aber warum dann das teure Geschenk?… Der Füllfederhalter… Ja… Man trug den Füllfederhalter gewöhnlich in der linken Brusttasche des Rockes oder in der oberen Westentasche. Man nahm ihn mit, besonders wenn man Bestellungen sammeln ging. Hatte ihn der Wendelin Witschi am Dienstag auch mitgenommen?… Doch wann hatte er ihn seiner Tochter gegeben?… Die Taschen des Wendelin Witschi waren leer und auf dem Rücken seines Rockes hafteten keine Tannennadeln…
Die beiden betraten die Küche… Im Schüttstein unaufgewaschenes Geschirr… Auf dem Tisch stand ein Teller, Butter darauf, daneben lag ein Kamm.
Studer war allein, Sonja war verschwunden…
Durch eine offene Tür betrat der Wachtmeister das anliegende Zimmer. Die Vorhänge vor den Fenstern waren grau, auf dem Klavier lag eine Staubschicht. Die Tür fiel zu. Es zog in diesem Haus. Durch die Erschütterung des Zuschlagens löste sich von dem Bilde, das über dem Klavier hing, eine graue Wolke ab. Das Bild stellte den seligen Wendelin Witschi vor, in jungen Jahren, und war wohl bei der Hochzeit aufgenommen worden. Zwischen den Spitzen des steifen Umlegkragens lugte ein kleiner schwarzer Kopf hervor. Der Schnurrbart war schon damals traurig gewesen. Und die Augen…
Auf dem Tische, der eine Decke mit Fransen trug, rot-gelb-blau lagen viele Hefte. Auch das schwere schwarze Büfett war mit Heften überdeckt.
Studer blätterte in den Heften. Sie waren alle von der gleichen Art: Bilder von Hunden oder von Kindern, eine Bergkapelle, ein Roman, Winke für die Hausfrau, grafologische Ecke. und, auffällig, auf allen Titelblättern:
»Wir versichern unsere Abonnenten… Bei Ganzinvalidität oder Tod zahlen wir aus…«
Fünf verschiedene Sorten Hefte. Wenn alle die Versicherung auszahlten, ergab das… es ergab eine ganz stattliche Summe… Und was hatte der Notar Münch gesagt? Der alte Ellenberger habe Schuldbriefe und wolle sie kündigen?
Im oberen Stockwerk liefen Schritte auf und ab. Was machte Sonja dort oben, warum ließ sie ihn allein in der Wohnung? Es wurde ein schwerer Gegenstand gerückt. Studer lächelte. Das Mädchen machte wohl die Betten, jetzt am Abend. Eine merkwürdige Ordnung herrschte in der Familie Witschi…
Studer blätterte weiter in den Heften. Er stieß auf ein paar Stellen, die angestrichen waren und las:
»Da stieg es in ihr auf, heiß und brennend. Sie warf sich in seine Arme, sie umklammerte seinen Hals, als sollte sie ihn nie, nie mehr loslassen…«
Und weiter:
»Und wir, Sonja, mein süßes Lieb, mein holdes Weib – wir werden glücklich sein…«
»Leichenblass bis in die Lippen, bebend an allen Gliedern, stand Sonja vor ihm…«
Studer seufzte. Er dachte an lauen Kaffee und an eine Frau, die am Morgen schmachtend war, weil sie in der Nacht zu viele Romane gelesen hatte…
Dann trat der Wachtmeister ans schwere Büfett. Gerade unter der Fotografie des Wendelin Witschi stand oben auf dem Aufsatz eine Vase mit wächsernen Rosen und einigen Zweigen bunten Herbstlaubs. Und Witschi schien auf diese Vase zu schielen. Gedankenlos hob sie Studer herab, sie war merkwürdig schwer – übrigens war das Herbstlaub auch künstlich. Studer schüttelte die Vase. Es rasselte. Er kehrte die Vase um…
Zwei, vier, sechs, zehn – fünfzehn Patronenhülsen fielen heraus, Kaliber 6,5… Im oberen Stock war es still geworden. Studer steckte eine der Hülsen in seine Rocktasche, die anderen ließ er in die Vase zurückgleiten, ordnete den Strauß und stellte ihn an seine alte Stelle. Es kamen Schritte die Treppe herunter. Studer öffnete die Küchentür und blieb auf der Schwelle stehen.
Der Herr Wachtmeister müsse entschuldigen, sagte Sonja, sie habe oben noch Ordnung machen wollen, wenn er das Haus besichtigen wolle? Die Mutter komme erst nach dem Neun-Uhr-Zug heim, so lange müsse sie auf dem Bahnhof bleiben… Aber der Armin werde bald zurück sein.
Sonja plapperte und wich Studers Blick aus; aber sobald Studer beiseite sah, fühlte er, wie die Augen des Mädchens auf sein Gesicht gerichtet wurden, sah er wieder hin, klappten die Lider über die Augen. Lange Wimpern hatte das Mädchen. Die Stirn war gerundet, sprang ein wenig vor. Die Haare waren gebürstet. Sonja sah viel ordentlicher aus als heut morgen im Zuge.
– Übrigens lasse der Schlumpf sie grüßen, sagte Studer nebenbei. Er sah zum Fenster hinaus. Am Ende des Gemüsegartens stand ein alter, verfallener Schuppen. Die Tragstützen des Daches waren eingeknickt, einige Ziegel fehlten. Auch die Tür des Schuppens fehlte.
Sonja schwieg. Und als Studer sich umwandte, sah er, dass das Mädchen weinte. Es war ein hemmungsloses Weinen, das kleine Gesicht war verzogen, um die spitz vorspringende Nase gruben sich tiefe Falten ein, die Lippen waren verzerrt, und aus den Augen flossen die Tränen die Wangen herab, blieben am Kinn haften, tropften dann auf die Bluse. Die Hände waren geballt.
»Aber, Meitschi«, sagte Studer, »aber Meitschi!…« Unbehaglich wurde es ihm zumute. Schließlich fiel ihm nichts anderes ein, als sein Schnupftuch aus der Tasche zu ziehen, neben Sonja zu treten und ungeschickt die fließenden Tränen aufzutupfen.
»Komm, Meitschi, komm, hock ab…«
Sonja hatte sich an den Wachtmeister gelehnt, ihr Körper zitterte, die Schultern waren weich. Studer seufzte grundlos. »Komm, Meitschi, komm…«
Sonja setzte sich auf einen Stuhl. Ihre Arme lagen lang ausgestreckt auf der Tischplatte neben dem Teller mit dem Anken, neben dem Kamm…
Draußen wurde die Dämmerung dicht. Studer hatte wenig Zeit. Um halb acht Uhr sollte er bei Murmann zum Nachtessen sein…
Sonja dauerte ihn. Er wollte sie nicht ausfragen… Ihr Vater war tot, ihr Liebster saß in einer Zelle, tagsüber ging sie nach Bern schaffen, ihr Bruder ließ sich von einer Kellnerin Geld geben, und ihre Mutter las im Bahnhofkiosk Romane…
»Der Erwin«, sagte Studer sanft, »der Erwin hat mir gesagt, er lasse dich grüßen…«
»Und glaubet Ihr, dass er schuldig ist?«
Studer schüttelte stumm den Kopf. Einen Augenblick lächelte Sonja, dann kamen die Tränen wieder.
»Er wird’s nicht beweisen können, dass er unschuldig ist…«, sagte sie schluchzend.
»Hast du ihm das Geld gegeben?«
Merkwürdig, wie ein Gesicht sich verändern konnte!… Sonja blickte starr vor sich hin, zum Fenster hinaus, in die Richtung, wo der alte, verfallene Schuppen stand, dessen Eingang ein schwarzes Rechteck war… Und schwieg.
»Warum hast du dem Gerber, dem Coiffeur, den Füllfederhalter geschenkt?«
»Weil… weil… er etwas weiß…«
»So, so«, sagte Studer.
Er hatte sich an den Tisch gesetzt, das Hockerli war zu klein für seinen schweren Körper, er fühlte sich ungemütlich.
»– Ob sie schon lange in dem Hause wohnten? fragte er. – Der Vater habe es bauen lassen mit dem Geld der Mutter, erzählte Sonja, und es schien, als sei sie froh, sprechen zu können. Der Vater sei bei der Bahn gewesen, als Kondukteur, und dann habe die Mutter eine Erbschaft gemacht. Die Mutter stamme von hier, aus Gerzenstein, der Vater sei aus dem Seeland gewesen. Die Mutter habe den Laden eingerichtet und der Vater habe weiter auf der Bahn geschafft. Während dem Krieg sei das Geschäft gut gegangen, es hätte damals noch wenig Läden gegeben in Gerzenstein. Da habe sich der Vater pensionieren lassen. Vielmehr, er sei einfach ausgetreten und habe auf die Pension verzichtet, weil er einen Herzfehler gehabt habe, und sie hätten ihm auf der Bahn Schwierigkeiten gemacht. Ja, während dem Krieg sei es gut gegangen. Der Armin habe später aufs Gymnasium können nach Bern, nachdem er hätte studieren sollen. Aber dann sei der große Bankkrach gekommen und die Eltern hätten alles verloren. Und dann sei es aus gewesen. Die Mutter sei hässig geworden und der Vater sei reisen gegangen. Aber er habe wenig verdient. Und alles sei so teuer!… Die Mutter könne nicht mit dem Geld wirtschaften, sie gebe immer alles aus für Medizinen und solches Zeug. Der Onkel Äschbacher sei ein oder zweimal eingesprungen…«
Die letzten Worte waren sehr stockend herausgekommen.
»Was ist’s mit dem Onkel Äschbacher?« fragte Studer.
Schweigen…
»Und doch bist du ihn holen gegangen, wie du mich hast zur Frau Hofmann gehen sehen?«
Viel Qual drückte das Gesicht aus. Studer hatte Mitleid. Er wollte nicht weiter fragen. Nur eines noch:
»Wer ist der Lehrer Schwomm?«
Sonja wurde rot, holte Atem, wollte sprechen, die Stimme versagte, sie hustete, suchte nach einem Taschentuch, wischte sich die Augen mit dem Handrücken, stotterte dann:
»Er ist an der Sekundarschule, er ist Gemeindeschreiber, auch Sektionschef, und den gemischten Chor leitet er auch…«
»Dann hat er viel mit dem Gemeindepräsidenten zu tun? Mit dem ›Onkel‹ Äschbacher?«
Sonja nickte.
»Leb wohl.« Studer streckte ihr die Hand hin. »Und wein’ nicht. Es kommt schon besser.«
»Lebet wohl, Wachtmeister«, sagte Sonja und streckte ihre kleine Hand aus. Die Nägel waren sauber.
Sie stand nicht auf und ließ Studer allein hinausgehen. Im Hausgang blieb Studer stehen und suchte nach seinem Schnupftuch, fand es nicht, erinnerte sich, dass er es in der Küche gebraucht hatte, kehrte an der Haustüre um und betrat, ohne anzuklopfen, die Küche.
Sie war leer. Die Tür zum anderen Zimmer war offen… Vor dem schweren schwarzen Büffet stand Sonja. Sie hielt die Vase mit den Wachsrosen und dem künstlichen Herbstlaub in der Hand und schien das Gewicht der Vase zu prüfen. Ihre Augen waren auf das Bild des Vaters gerichtet.
Auf dem Boden neben dem Küchentisch lag Studers Nastuch.
Studer ging leise zum Tisch, hob es auf, schlich zur Türe zurück:
»Gut’ Nacht, Meitschi«, sagte er.
Sonja fuhr herum, stellte die Vase ab. Sie riss sich zusammen:
»Gut’ Nacht, Wachtmeister…«
Merkwürdig, ihr Blick erinnerte Studer an den des Burschen Schlumpf: Erstaunen lag darin und viel verstockte Verzweiflung.
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