Kitabı oku: «Der Hellseherkorporal», sayfa 2
Seppl
Als der alte Kainz, ein Wiener, der nicht mehr gut marschieren konnte, wegen Herzschwäche in die Küche versetzt wurde, hielt er mir eine kleine Rede. Er sagte, ich solle den Seppl gut behandeln, es sei kein Tier wie ein anderes, bockig sei er ja schon manchmal, wie alle Maulesel, aber das Bockigsein habe immer seinen Grund. Er tue es nie aus Bosheit, sagte der alte Kainz und zündete eine Pfeife an, sondern es sei immer ein Grund vorhanden, wenn der Seppl dumm tue, entweder sitze der Sattelgurt nicht gut, oder ein Büschel Haare habe sich unter der Satteldecke aufgestellt und drücke ihn, ich müsse eben dann nachschauen, mir Zeit lassen, und Kainz klopfte dem Seppl die grauen Flanken und den glatten Hinterschenkel … Der Seppl schnaufte.
Ich versprach, mich um den Seppl zu kümmern, und gab ihm ein Stück Brot; das war ein großes Opfer, denn in unserem Posten, Gourrama hieß er und war ganz im Süden von Marokko, war das Brot rar, zeitweise … Seppl nahm das Brot sehr gnädig und zart mit seinen Zähnen, die gelb und vorstehend waren wie bei einer alten Engländerin. Er schnaufte, schnupperte an meinem Ärmel, blies mir seinen warmen Atem in den Hals, dass es mich kitzelte, nieste dann geräuschvoll und klapperte mit seiner Kette.
Jetzt kenne er mich, und das In-den-Hals-Blasen sei ein Zeichen von Sympathie.
«Er mog di gern …», sagte der alte Kainz, und seine Stimme war nicht ganz fest. Darum schraubte er seine Pfeife auseinander und blies lange und anhaltend ins Mundstück. Es war verstopft, Tränen traten dem alten Kainz in die Augen, und das war wohl der Zweck des Manövers. Jetzt konnte er seine Tränen ohne Verlegenheit sehen lassen, sie kamen ja vom Pfeifenausblasen.
Am Morgen gab ich dem Seppl zwei Kilo Gerste, am Mittag eins, am Abend wieder zwei. Wenn wir im Posten waren, ritten wir um elf Uhr ohne Sattel zur Tränke. Die Tränke, das war ein kleiner Fluss, Oued nennt man sie dort unten, eingesäumt von Oleanderbäumen, die im Juni unwahrscheinlich rot blühten.
Er benahm sich sehr anständig, der Seppl, als ich ihn zum ersten Mal ohne Sattel ritt. Er war kleiner als die anderen Tiere der Kompagnie, seine Mutter war eine Eselin gewesen. Er hatte sehr lange Ohren, der Seppl, und mit ihnen konnte er allerlei Kunststücke ausführen. Er konnte Einhorn spielen, das linke Ohr eng an den Kopf gelegt, so dass man es gar nicht mehr sah, das andere stach vor wie ein Spieß, und dann wandte er sich etwa um, nickte mit seinem vornehmen Engländerinnenkopf und begann einen Galopp. Das Umsehen tat er nur aus Höflichkeit, damit ich nicht etwa hinunterfiele. So kamen wir an die Spitze der Kompagnie, der Adjutant, der das Tränken leitete, brüllte mich an, was ich da vorn zu suchen habe. Da stellte Seppl seine beiden Ohren auf, machte ein lammfrommes Gesicht, sah den Adjutanten von unten an, so, als wolle er sagen: «Verstehst du denn keinen Spaß?», und dann lachte der Seppl. Ich will einen Eid darauf schwören, dass der Seppl gelacht hat. Ihr kennt doch so robuste alte Damen, sie sind meistens dick und haben so ein tiefes, weiches Basslachen, es schüttelt sie, man kann nicht anders als miteinstimmen – so lachte der Seppl … Und der Adjutant, der sonst ein grober Kerl war, musste auch lachen. Er stammte aus Korsika, darum konnte er auch Seppls Namen nicht richtig aussprechen. «Le Ssseppelll», sagte er und riss sein Pferd herum, um weiterzureiten. Er schämte sich ein wenig, dass er gelacht hatte.
Unten am Oued soff der Seppl so ausgiebig, dass ich es an meinen Schenkeln fühlte, wie er immer dicker und dicker wurde. Dann war er endlich fertig, hob den Kopf, und Fäden, in allen Regenbogenfarben schillernde, hingen an seinem Munde. Dann wandte er wieder den Kopf, und da ich ziemlich weit nach vorne gerutscht war, stupfte er mich am Knie mit seiner nassen Schnauze. Ich wusste nicht, was er wollte. Er stupfte noch einmal. Ich blieb sitzen. Da zerfloss der Seppl plötzlich unter mir, es war genau dies Gefühl, er war plötzlich nicht mehr da – doch, er war noch da, aber neben mir, und wälzte sich im grauen Sand, alle viere zum Himmel erhoben, wälzte sich und grunzte und spuckte und nieste, dass es eine Freude war. Von da an wusste ich, was der Stupf mit der Nase zu bedeuten hatte – Seppl wollte ein Sandbad nehmen.
Vielleicht kam es daher, dass Seppl von einer Eselin stammte und wenig Zugehörigkeitsgefühl besaß zu seinen Kameraden, die hochbeinig und ein wenig plump waren, während Seppl schmale Fesseln besaß und außerdem zartgliedrig war – kurz, er pflegte keine Kameradschaft. Vielleicht hat er sich deshalb so an mich angeschlossen. Es ist ja bekannt, dass Einzelgänger unter den Tieren sich viel leichter an den Menschen anschließen als Herdenzottler.
Was wollt ihr! Manchmal ist man traurig, man mag mit keinem Menschen reden. So sprach ich manchmal mit dem Seppl. Besonders auf den langen Märschen, wenn die Straße als endlos grauwogendes Band zwischen den Eselsohren abläuft, wenn die Sonne sticht und die roten Felsen der Berge die Hitze zurückwerfen. Dann sagte ich manchmal: «O Seppl!», und Seppl verstand, was alles in den zwei Worten enthalten war. Er nickte weise, nickte immerzu, bis mir ganz schwindlig wurde und ich einschlief auf dem Sattel. Seppls Trab war so gleichmäßig, er folgte so unerschütterlich dem baumelnden Schwanz des Vordertieres, dass ich ihm ruhig die Zügel über den Hals legen konnte.
Es gab auch die Abende, an denen man müde ankommt und hungrig ist. Brennstoff gibt es genug. Auf den Ebenen zwischen den roten Bergen wächst das zähe Alfagras als Heu. Futtermittel ist es, wenn die Gerste ausgegangen ist, und Brennstoff zugleich für die Küche, wenn kein Oued in der Nähe ist und auch kein Holz und die Köche die Suppe kochen müssen mit Gras und wildem Thymian. Dann gibt es die halb oder ganz vom Sand verschütteten Brunnen – und wenn man Brunnen sagt, so ist das eine Übertreibung. Sandlöcher sind es, man muss graben, das Wasser einfließen lassen und es dann sorgfältig abschöpfen, damit man die Tiere tränken kann. Denn Sandwasser ist Gift für sie … Wir kochten dann mit dem unteren Schlamm, und der Reis war braun, als wäre er mit Schokolade gemischt, und der Sand knirschte unter unseren Zähnen.
An einem dieser Abende war es, dass der Seppl zu arg Durst hatte und mir zum Sandloch – will sagen zum Brunnen – durchbrannte und sich vollsoff. Das gab eine schlaflose Nacht. Er hatte Schmerzen, der Seppl, seine Nase war ganz heiß, er ächzte und der Humor war ihm vergangen. Er wollte sich immer niederlegen, um zu schlafen – vielleicht auch, um ruhig zu sterben, aber selbst wenn nicht strenger Befehl gewesen wäre, ein Tier mit allen Mitteln zu retten, ich hätte den Seppl doch nicht gern sterben lassen, denn ich mochte ihn gern.
Nun, die Nacht ging herum. Seppl stöhnte, manchmal schob er seinen Kopf unter meinen Arm, – einmal hat er mich sogar gebissen, nicht eigentlich gebissen, geklemmt, mit seinen langen vorstehenden Zähnen. Ich hatte dann blaue Flecke. Aber das schadete nichts. Um zwei Uhr morgens nahm Seppl dann gnädig ein Stück Brot aus meiner Hand, kaute es zufrieden. Ich glaub, es war ihm lieber als die Schleimsuppe, die man uns immer einschüttet, wenn wir den Magen verdorben haben.
Am nächsten Morgen – wir brachen schon um drei Uhr auf – bin ich dann nicht aufgesessen. Ich hielt Seppl am Zügel und führte ihn. Ich erzähle das nicht, um mich zu rühmen. Es war auch weiter nichts Rühmenswertes dabei, denn das Thermometer zeigte sechzehn Grad unter Null. Das gibt es dort unten. Übrigens war es gerade November.
Ja, es war vierzehn Tage später, da wurde unsere Kompagnie von einem Dschisch angegriffen. Dschisch – das ist so eine Art Räuberbande. Ich musste mit meinem Maschinengewehr vor, und Seppl wurde mit den andern Tieren in Deckung geführt. Die Räuber ritten an, ich weiß nicht mehr genau, auf was sie es abgesehen hatten. Ich war sehr eifrig damit beschäftigt, die Befehle auszuführen, die unser Leutnant herüberbrüllte – man brauchte ja nicht leise zu sprechen. Es waren Zahlen zum Einstellen des Rohres, und ich musste aufpassen. Vor uns ritten die Räuber an, machten kehrt, nachdem sie von ihren Pferden herab geschossen hatten, kamen wieder angeritten, machten noch einmal kehrt. Wir mussten vor.
Da hör ich ein Gelächter hinter mir, ich dreh mich um: Der Seppl galoppiert auf mich zu, hält vor dem Maschinengewehr, beschnuppert es, verzieht die Nase, das Rohr roch wirklich nicht gut, nach heißem Metall und rauchlosem Pulver, stellt sich vor die Mündung und bleibt bocksteif stehen.
«Vorwärts!» brüllt der Leutnant. «En avant!»
Aber ich kann doch nicht am Seppl vorbei. Der Seppl steht da, so, als ob er mich decken wolle. Mein Kamerad lacht mich aus. Da rede ich gütig auf den Seppl ein: «Geh zurück!» sag ich. «Seppl, sei brav! Du hast hier nichts zu suchen!» Dann seh ich mich um, wo denn die Stallwache bleibt. Richtig, dort, ganz hinten läuft einer und fuchtelt mit den Armen … Aber bis der bei uns ist! … Also steh ich auf, ich muss doch vor, der Leutnant hat es befohlen … Ich lad das Maschinengewehr auf die Schulter, sag noch einmal: «So, Seppl!» … Da tänzelt der Seppl vor mir her. Immer zwei Schritte Distanz hält er, so dass ich ihn nicht am Halfter packen kann. Tänzelt vor mir her, dem Feind entgegen, der gerade wieder gegen uns anreitet. Und wieder, wie vorhin, zweihundert Meter etwa vor uns, schießt er aus allen Flinten, macht kehrt, jagt davon …
Vor mir tanzt der Seppl, tanzt wirklich. Er deckt mich mit dem ganzen Körper und tänzelt seitwärts, wie ein dressiertes Pferd im Zirkus. Er schüttelt unwillig den Kopf, weil die Leute da vor uns so viel Lärm machen … Dann ist der Lärm vorbei, dort vorne haben sie kehrt gemacht … Ich sehe, dass einer sich noch im Sattel umwendet, zielt, schießt …
Der Seppl zuckt zusammen. Sein Hals, sein glatter grauer Hals, den ich so oft getätschelt habe, ist gerade vor meinen Augen. «Hopp, Seppl!» ruf ich noch, «wir müssen pressieren!»
Da fällt der Seppl um. Es ist wie beim Tränken. Auf einmal ist er nicht mehr da. Doch, da ist er ja … Zwei Schritte links von mir wälzt er sich auf dem Boden, alle viere gen Himmel gestreckt, und seine winzigen Hufeisen glänzen in der Sonne. Dann liegt er auf der Seite, rührt sich nicht mehr. Da seh ich, dass er ein großes Loch im Hals hat – die Dschischs schießen immer mit runden Bleikugeln, die große Löcher machen –, und aus dem Loch in seinem Hals gurgelt das Blut, und dann wird das dürre Alfagras ringsum rot, nicht lange, denn der Sand schluckt den Saft …
«Aus!» sagt mein Kamerad.
Ich bin dann vor und habe immer den Kopf geschüttelt, so arg den Kopf geschüttelt, dass ich mich ein paarmal am Rohr gestoßen habe. Eigentlich hatte mir der Seppl das Leben gerettet. Wie kam das Tier dazu? Tier! Tier! Er hatte etwas gemerkt, das schien mir sicher. Darum war er gekommen. Er wollte bei mir sein. Und gelacht hat er auch noch! …
Dann waren wir wieder in Stellung. Aber ich habe nicht schießen wollen. Die Pferde von den Räubern haben mich gedauert. Blöd, so etwas! Ich habe das Maschinengewehr auseinandergenommen und dann das Ventil ausgeblasen, so stark, dass mir die Tränen in die Augen getreten sind.
«Ladehemmung!» habe ich gesagt, als der Leutnant hat reklamieren wollen. Und dann habe ich an den alten Kainz denken müssen, der auch in das Mundstück seiner Pfeife geblasen hatte, bis er Tränen in die Augen bekam, damals, als er Abschied genommen hatte vom Seppl …
Ali
Eine Erzählung aus Marokko
I.
Das Schloss liegt an den südlichen Abhängen des Atlasgebirges, und seine Mauern sind aufgeführt aus ungebrannten Ziegeln, die von der Sonne getrocknet, ausgedörrt worden sind. Da der Vater meist fort ist, gehört dem zehnjährigen Ali die ganze Burg, denn der alte Achab und die Negerin Itungu zählen nicht mit.
Der Vater und auch des Vaters Gefährten sind hinab in die Ebene geritten, hinein in den Kampf. Wozu mästen die Bauern dort unten Schafe und Rinder? Für wen säen sie Gerste und Weizen, ernten sie Mais und Korn? Die Bewohner der Ebene sind reich – aber arm sind die Männer der Berge. Denn auf den Bergen wächst nur dürres Alfagras, Ginster, wilder Thymian; hie und da ragt eine Korkeiche auf, und an den Ufern der Bäche tragen die Oleanderbüsche im Frühling und im Sommer rote Blüten. Aber Alfagras und rote Oleanderblüten machen nicht satt.
Darum reiten die Bewohner der Berge hinab in die Ebenen und nehmen sich, was sie brauchen. Zwar die Bauern klagen, dass sie ausgeplündert werden. Plündern? Die Männer der Berge plündern nicht, sie nehmen nur, was ihnen, nach uralter Überlieferung, zukommt. Auch sind die Leute in den Ebenen faul geworden, weil sie genug zu essen haben und weil sie, in ihren Häusern, die Kälte nicht zu spüren bekommen und nicht den Hunger …
Die Bergbewohner aber kennen den Hunger, und vielleicht sind sie ihm dankbar; denn er lässt sie schlank bleiben, mager und sehnig. Das Klettern über die Felsen macht kräftig, geschmeidig auch, es macht die Augen scharf – darum verachten die Männer die Weichlinge, die sich den Bauch vollschlagen mit Hühnern und fetten Schafen, die Faulenzer, die vom Handel leben. Sie nehmen, was sie brauchen – die Männer der Berge. Aber nicht immer geht es ohne Kampf ab, die Feiglinge verteidigen sich manchmal. Dann muss das Pulver sprechen, und es gibt Barud – Kampf.
Alis Vater aber führt die Männer der Berge in den Kampf, denn er ist der Scheich der Beni-Zeroual. Der Vater ist stark. Sein Gesicht ist bleich und schmal und kühl, wie der Mond, wenn er am Wachsen ist. Der Vater reitet auf der Stute Aissa, auf seinem rechten Schenkel ruht der mit Silberdraht verzierte Kolben der Flinte.
Hammed ben Hamdouch heißt der Vater. Wenn Ali allein auf der obersten Terrasse des Schlosses sitzt, flüstert er den Namen des Vaters in den Wind:
«Hammed ben Hamdouch … Hammed ben Hamdouch …»
Und Ali ist stolz, der Sohn Hammed ben Hamdouchs zu sein.
Von der obersten Terrasse kann man weit ins Land schauen. Die kahlen roten Hügel sehen aus wie erstarrte Wellen, auf welche die Abendsonne purpurnes Licht streut. Und hinter dem Schloss werden die roten Wellen höher und höher, und die höchste ist zu Eis erstarrt und leuchtet wie neues Silber.
Wie lang ist der Vater schon fort! Zweimal ist der Mond voll geworden und viermal als schmale Sichel am Himmel gestanden. In der Nacht ist Schnee gefallen, den die Sonne am nächsten Mittag geschlürft hat – aber des Vaters weißer Mantel hat nie geweht auf den Kämmen der erstarrten Wellen …
Was tut man, um die Zeit zu vertreiben? Man ruft Achab, den Alten. Er ist Haushofmeister, Kammerdiener, Rossknecht, Barbier und Geschichtenerzähler. Doch die schönsten Geschichten erzählt ’l Schibani – der Alte –, während er Alis Schädel mit dem Schermesser schabt. Ganz glatt muss der Schädel sein – nur in der Mitte, auf dem Wirbel, bleibt ein Haarbüschel stehen. Schon eine Spanne lang ist das Haarbüschel, länger darf es nicht werden, sonst könnte man einen Zopf daraus flechten.
Zum Schaben der Kopfhaut gebraucht Achab, der Alte, ein Messer, das er stundenlang schärft: an einem Stein zuerst, den er mit Öl getränkt hat, an einem Sattelgurt nachher und endlich an der Sohle seiner Sandale. Es schneidet darob nicht besser, denn es ist ein einfaches Küchenmesser, kein Rasiermesser – und Seife kennt Achab nicht. Er nimmt Wasser, das er in seinem zahnlosen Munde wärmt und dann in sanftem Strahl auf Alis Schädel rinnen lässt. Erst wenn sein Mund leer ist, beginnt er zu erzählen:
Der Lehrer und die Schüler
Es war einmal ein Lehrer, der hatte seine Schüler gelehrt, jedesmal, wenn jemand in ihrer Nähe niesen musste, in die Hände zu klatschen und zu rufen:
«Helf Gott!»
Neben dem Hause des Lehrers aber befand sich ein tiefer Brunnen, und eines Tages war ein Kessel in den Schacht gefallen. Der Lehrer wollte diesen Kessel holen. Er stieg in den Brunnen hinunter, und seine Schüler mussten den Strick halten, an dem er sich hinabließ. Aber die Feuchtigkeit im Schacht brachte den Lehrer zum Niesen. Da taten die Schüler, wie der Lehrer sie gelehrt hatte: Sie klatschten in die Hände und riefen im Chor:
«Helf Gott!»
Aber sie ließen auch den Strick los, und der Lehrer fiel in den Brunnen. Die Schüler hatten viel Mühe, ihn wieder herauszuziehen …
«Wirklich!» ruft Ali, «sie ließen den Strick los, weil sie in die Hände klatschten, und sie riefen: ‹Helf Gott!› O Achab, erzähl weiter, erzähl die Geschichte von den hundert Goldstücken!»
Achab zieht die Schneide des Messers an der Sohle seiner Sandale ab, füllt seinen Mund mit Wasser und spielt Regenwolke. Dann fährt er fort, und sein Messer kratzt fast die Haut von Alis Schädel:
Die Geschichte von den hundert Goldstücken
Ein armer, ganz armer Mann wohnte neben dem Palast eines Reichen. Jeden Tag ging der Arme in sein Gärtlein und betete laut: «O Gott! Schenk mir einen Beutel mit hundert Goldstücken darin! Aber es müssen hundert Goldstücke sein! Wenn ein Goldstück fehlt, dann nehme ich das Geschenk nicht an!»
Da wollte sich der Reiche über den Armen lustig machen und warf über die Mauer eine Börse, die nur 99 Goldstücke enthielt. Und der Reiche dachte: «Wenn ein Goldstück fehlt, dann wird der Arme sicher den ganzen Sack zurückgeben. Hat er dies nicht dem Allmächtigen versprochen?»
Der Arme aber behielt den Sack und dankte Gott für das große Geschenk. Da ging der Reiche zu dem Armen und sprach zu ihm:
«Gib mir meine Börse wieder!»
«Welche Börse?» fragte der Arme.
«Die Börse, die ich über die Mauer geworfen habe. Es waren nur 99 Goldstücke darin, und du hast Gott versprochen, die Börse nicht anzunehmen, wenn sie nicht genau hundert Goldstücke enthalte. Ich habe dich auf die Probe stellen wollen.»
«Wer sagt mir», sprach der Arme, «dass du mir die Börse gegeben hast? Wie leicht ist es möglich, dass Gott sich geirrt hat – er hört so viele Gebete – vielleicht hat er sich verzählt …?»
«Gib mir die Börse wieder!» sagte der Reiche. «Sie gehört mir!»
«Nein», erwiderte der Arme. «Sie ist vom Himmel gefallen. Also gehört sie mir!» – «Wenn du sie mir nicht zurückgibst, verklage ich dich vor dem Richter!» drohte der Reiche.
«Gut», sprach der Arme. «Gehen wir zum Richter!»
Am nächsten Morgen machten sich die beiden auf den Weg. Der Reiche hatte einen schönen Mantel angelegt und ritt auf einem Maulesel. Der Arme ging neben ihm – zu Fuß. Da der Morgen kalt war, fror es den Reichen auf seinem Reittier.
«Wenn du reiten willst, Armer», sagte er, «so kannst du aufsteigen.»
Der Arme stieg auf. Sie gingen weiter ein Stück des Weges. Da sagte der Arme zum Reichen:
«Ich sehe, dein Mantel drückt dich; gib ihn mir. Das Tier wird die Last nicht spüren.»
Der Reiche gab seinen Mantel.
Und sie kamen vor den Richter. Da sprach der Arme also:
«Der Reiche ist ein Lügner. Er lügt so unverschämt, dass er sicher behaupten wird, der Mantel und das Maultier gehöre ihm …»
«Aber sicher gehört der Mantel mir! Und das Maultier auch!» rief der Reiche.
«Da kannst du es mit eigenen Ohren hören, weiser und gerechter Richter!» sagte der Arme.
Und der Richter glaubte dem Armen. So verlor der Reiche nicht nur seine Börse, sondern auch seinen Mantel und sein Reittier. Denn es war ein gerechter Richter, der nach dem Spruche richtete:
«Du sollst deinem armen Bruder beistehen!» …
Alis Kopf ist glatt. Der Knabe blickt hinaus ins Land. Unmerklich gehen die Hügel aus rotem Stein über in die Ebene, aus der, in der Ferne, Häuser wachsen, winzig klein, wie ruhende Gazellen, und noch weiter weg breitet eine weiße Stadt sich aus. Ein Flussbett ist wie ein gelber Faden in einem grünen Teppich …
Der Abend ist klar, und nun kommt unmerklich die Nacht. Wie ein schwarzer riesiger Vogel lässt sie sich treiben vom Wind. Und heute ähnelt der Mond dem Antlitz des Vaters – die rechte Seite ist schmäler als die linke – darum liebt ihn Ali. Aber wenn der Mond dick ist und rund, hasst ihn der Knabe: denn dann ähnelt er dem Gesicht des Mannes, der den Vater oft besuchen kommt. Ali verachtet diesen Mann, weil er nie die Schuhe auszieht, wenn er des Vaters Zimmer betritt. Außerdem stecken seine Waden in engen Röhren, die schwarz sind und glänzen. Sein Oberkörper ist eingeschnürt in ein enganschließendes gelbes Gewand, das vorn an der Brust zusammengehalten wird von runden Hornplatten, die durch Schlitze geschoben werden. Ali hat nie Knöpfe gesehen. Er kennt nur die Kapuzenmäntel aus grauer Wolle, welche die Begleiter seines Vaters tragen; die Waden der Männer vom Stamme der Beni-Zeroual sind nackt, und manch einer reitet barfüßig. Aber des Fremden Füße sind eingezwängt in lederne Hüllen, hart sind die Sohlen der Schuhe und knarren laut durch die Gänge des Schlosses …
Letzthin hat der Fremde dem Vater ein Geschenk mitgebracht: blaue Hüllen, aus weichem Gewebe, die man über die Füße zieht, und dann reichen sie bis in die Mitte der Waden. Das Wort, mit dem der Fremde die Hüllen benennt, ist schwierig auszusprechen: «Socken». Zu den «Socken» gehören zwei rosa Bänder, die man unter den Kniescheiben rund um das Bein anlegt. An diesen Bändern werden die Fußhüllen befestigt.
Ali hat noch nie Sockenhalter gesehen. Am nächsten Tag nimmt der Knabe die rosa Bänder. Hält man eins von ihnen zwischen Daumen und Zeigefinger der Rechten und zieht mit der Linken am andern Ende, so dehnt sich das Band aus. Lässt man es los, so schnellt das Ende vor. So ein Band kann man gut als Schleuder gebrauchen, denkt Ali. Aber das stimmt nicht. Der geschleuderte Stein hat keine Kraft – er trifft einen Vogel, aber der Vogel lacht und fliegt davon … Wie dumm zu glauben, das Geschenk eines Röhrenmannes könne brauchbar sein! Doch der Vater ist böse, dass Ali die Bänder genommen hat. Er spricht den ganzen Tag kein Wort mit seinem Sohn – und das ist schlimmer als Schläge. Des Vaters Antlitz bleibt weiß und bleich wie der Mond, wenn er am Wachsen ist, aber zwei Falten entstehen über der Nasenwurzel – Ali fürchtet diese Falten …
Des Vaters Antlitz ist weiß – das ist merkwürdig. Denn die Gesichtshaut der andern Männer vom Stamme der Beni-Zeroual ist braun. Vielleicht ist die Weiße der Haut das Zeichen der Macht? Die weiße Haut – und auch der weiße Mantel?
«Hammed ben Hamdouch!» flüstert Ali. Dann rennt er die Treppen hinab und schreit: «Itungu!» Ein Ruf antwortet ihm, wie das Krächzen eines Raubvogels. Die Negerin ist unförmig dick, sie hockt vor dem Kohlenfeuer und bläst in die Glut. Die Haut ihrer Wangen ist gespannt wie eine Trommel – und gleich darauf runzlig und welk wie ein verdorrtes Feigenblatt.
«Was willst du, Kleiner?» fragt Itungu.
«Wasser!» ruft Ali. Die Amme zeigt auf ein Kupferbecken, das in einer Ecke steht. Ali schleppt es ans Licht. Und dann beugt er sich darüber …
Ist er weiß wie der Vater? Oder braun wie die anderen?
Das Wasser ist grünlich …
«Itungu, bin ich weiß oder braun?» fragt Ali.
«Weiß bist du, Söhnlein, wie die Milch der Stute, zart ist deine Haut, wie das Blütenblatt der Rose … Wie könnt es anders sein, Söhnlein? Deiner Mutter Wange glänzte wie der Abendstern, und ihre Stirne war seidener als die Seide der Händler von Fez …»
«Bin ich weiß wie der Vater?»
«Weißer bist du, Söhnlein, weißer als Hammed ben Hamdouch. Wirst herrschen über die tapferen Männer … pfuuuh pfuuuh … über die Männer mit den Flinten … pfuuh pfuuh …» Itungu bläst in die Kohlen, und Ali schnuppert in der Luft. Es riecht nach Schafbraten. Der Dezemberwind pfeift ums Schloss, er bläst laut wie Itungu, wenn sie die Kohlen zum Glühen bringen will. Der Vater ist weit fort – aber hier, in der Küche, ist es schön. Zwar Itungu ist so dick, dass man stets Angst haben muss, sie könne zerfließen wie frischer Schnee zur Mittagszeit, doch sie gibt warm.
«Itungu, erzähl von der Mutter …»
«Pfuuh … pfuuh … Immer hat sie gefroren, die Mutter. Und mager war sie! Weißt du, der kalte Wind von den Bergen! Wenn sie ihn pfeifen gehört hat, wie jetzt, die arme Blume aus der Ebene, dann hat sie Itungu gerufen … Pfuuh … Und Itungu hat sie eingehüllt in viele Decken, viele Decken, und Kohlenbecken ins Zimmer gestellt und gebetet … Du hast geschrien, Söhnlein, viel geschrien. Dann hat sie gelächelt, Zeno, die Mandelblüte, hat gelächelt, obwohl ihre Lippen immer gemacht haben: ‹Bebebebe›, und die Zähnlein geklappert haben … Immer gehustet khäkhäkhä … Und Blut … und Blut …» Itungus Erzählung geht über in ein Gemurmel, ganz leise nur bläst sie in die Kohlen «füüüh … füüüh …» Man soll die Toten nicht wecken …
Eine Matte aus Alfagras – das ist Alis Bett. Ein alter Mantel des Vaters seine Decke. Ali hat die Hände unter dem Kopf verschränkt und starrt in die Dunkelheit …
Des Vaters Antlitz ist weiß, denkt er, das ist merkwürdig. Aber es ist ein anderes Weiß als jenes, das der dicke Fremde auf seiner Stirne trägt. Denn nur die Stirne des Fremden ist weiß, seine Nase, seine Wangen sind rot. Und das Rot kommt vom stinkenden Wasser, das der Fremde aus einer Flasche trinkt. Der Vater hat’s gesagt. Allah – sagt der Vater – hat verboten, von diesem stinkenden Wasser zu trinken … – Des Vaters Haut ist weiß, denkt Ali wieder, aber die Haut der Beni-Zeroual ist braun. Die braunen Männer tragen auch Flinten, aber der Kolben ihrer Flinten ist nicht mit Silber eingelegt. Wenn sie aus den Ebenen zurückkommen, packen sie den kleinen Ali oft, heben ihn vom Boden auf, werfen ihn hoch in die Luft, fangen ihn wieder auf und lachen, lachen!
«Mutatschu!» rufen sie, «Mutatschu gelbi!» Aber Ali hört diese Worte nicht gerne. «Mutatschu» heißt «klein», und «gelbi» heißt «Herz». Er ist nicht klein, er ist kein kleines Herz. Im Gegenteil, sein Herz ist groß. Ali will nicht klein sein, ein Mann will er sein, auf einem Rosse reiten. Ein Gewehr sein eigen nennen, dessen Kolben mit Silber eingelegt ist, das einen Ruf ausstößt, sobald man an seine metallene Zunge rührt: «Takoouu», ruft das Gewehr, und der Ruf ist ein Zeichen, dass das Pulver spricht. Und andere Flinten stimmen ein in den Ruf.
Dann ist Barud – Kampf.
Des Vaters Kinn ist mit einem Bart geschmückt, einem Bart, der glänzt wie blauer Stahl. Und Ali beneidet den Vater um seinen Bart.
Bisweilen geschieht es, dass Einwohner der Ebene, Kaufleute, in die Berge kommen. Treffen sie den Vater auf einem der schmalen Wege, dann treten sie zur Seite, damit die Stute Aissa Platz hat. Hammed ben Hamdouch nickt kaum merklich, während die Weichlinge sich tief verbeugen … Auch Ali begegnet manchmal den Fazi, den Kaufleuten aus Fez. Auch ihm geben die Faulenzer den Weg frei. Nur – Ali ist zu Fuß, und das Nicken des Vaters will ihm nicht gelingen. Damit es gelänge, das Nicken, müsste man hoch zu Ross sitzen, denkt Ali und richtet sich auf. Steif sitzt er im Dunkeln auf seiner Matte und übt des Vaters hochmütiges Nicken … Aber er weiß, morgen schon wird es ihm wieder misslingen – wie soll man majestätisch einherschreiten, wenn man einen Kapuzenmantel trägt, den die Dornen der Berge zerfetzt haben, wenn man klein ist – mutatschu? …
Itungu hat das letzte Schaf gebraten. Der Hunger zieht ein im Schloss. Und Ali denkt, dass er genauso arm ist wie der Mann in Achabs Geschichte. Oh, wenn doch ein Reicher nebenan wohnte und einen Sack mit Goldstücken über die Mauer würfe! Zehn (das heißt neun), nein fünf (das heißt vier) Goldstücke wären genug … Wann kommt der Vater heim?
Er ist heimgekehrt. Nicht mehr mit den zweihundert Gewehren, mit denen er ausgezogen ist – es fehlen einige Männer, die Bewohner der Ebenen haben sich gewehrt. Aber der Vater, der Vater ist wieder da!
Im Hofe der Burg flammt ein riesiges Feuer. Wilder Thymian und Oleanderbüsche knistern und flackern. Ganze Schafe werden am Spieß gebraten. Ali sitzt auf Vaters Knie, das Feuer wärmt, und die Sterne sind nah in der kalten Winternacht. Und doch sieht man sie kaum, denn die hohen Flammen des Holzstoßes wischen sie aus. Der Vater füttert seinen Sohn wie einen kleinen Vogel, und der Bub ist glücklich, denn er weiß, dass der Vater nun eine Zeitlang daheim bleiben wird.
Am nächsten Morgen reitet der Vater in die Berge, weil die Stute Aissa Bewegung braucht – und Ali darf mitreiten. Denn der Vater hat aus der Ebene ein Pferd für seinen Sohn mitgebracht. Der Sattel? Ein Brett vorne, ein Brett hinten, der Sitz ist mit rotem Leder überzogen. Die Steigbügel sehen aus wie Pantoffeln.
Sobald der Vater sein Pferd anhält, springt Ali aus dem Sattel und lockt und lockt, bis Larba – so hat er seine Stute getauft – den Kopf senkt. Dann flüstert er ihr Sprüche ins Ohr, die er von Achab gelernt hat. Und wenn er all seine Sprüche losgeworden ist, springt er schnell zu Vaters Pferd und flüstert Aissa dieselben Sprüche ins Ohr. Beide Stuten müssen stolz werden und unüberwindlich, vor allem Aissa – und Ali flüstert ihr die gleichen Sprüche noch einmal ins Ohr. Doppelt genäht hält besser … Aissa muss den Vater unverletzt aus den Kämpfen der Ebene zurückbringen.
Der Vater! Er ist meist schweigsam. Aber es ist schön, mit ihm zu reiten. Schön ist es auch, wenn man sich am vorderen Sattelbrett mit der Linken hält und mit der Rechten über das glatte Fell der Stute streicht. Das Fell ist feucht und darunter bebt es … Dann kehren Vater und Sohn heim.
Itungu will Kuskus kochen, und Ali geht Holz suchen. An den Halmen der Alfagräser klebt Reif.
Der Vater ist in sein Zimmer gegangen. Der Mann mit den Röhren, der Mann mit den knarrenden Sohlen, der Fremde ist wiedergekommen. Nun sitzt er beim Vater, und Ali flüchtet sich zu Itungu, seiner alten Amme.
Die Negerin nimmt einen flachen Teller, aus Weiden geflochten. Sie schüttet Mehl darauf, spritzt Wasser darüber, und dann beginnt sie, den großen Teller zu schütteln – regelmäßig, ganz regelmäßig, bis aus dem Mehl und dem darauf gespritzten Wasser kleine Kügelchen geworden sind, nicht größer als die kleinsten Sterne am Himmel. Diese winzigen Klümplein schüttet sie in einen Tontrichter, der die Form eines umgekehrten Zuckerhutes hat und unten durchlöchert ist. Oft und oft muss sie das Mehl auf dem Weidenteller erneuern, Wasser darauf spritzen, schütteln … Endlich ist der Tontrichter voll, er wird in den Hals eines bauchigen Eisentopfes gepasst, auf dessen Grund Wasser strodelt. Der Dampf dringt durch die Löcher des irdenen Trichters und kocht die Mehlklümplein im Dampfe gar. Vier Hühner hat Itungu gebraten, nun werden sie zerschnitten und mit der Brühe unter den Haufen von Mehlklümplein gemischt. Der Kuskus ist fertig. Halt! Die Hauptsache! Eine Handvoll ranzigen Rinderfetts wird als Krone auf den dampfenden Haufen gesetzt. In der Hitze zergeht das Fett und rinnt in kleinen Bächlein die Abhänge hinab …
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