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Kitabı oku: «Der Tee der drei alten Damen», sayfa 12

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2

Es wäre noch kurz von zwei Begegnungen zu berichten. Die erste betraf jene Mappe, von der Nydecker in krausen, nicht recht verständlichen Worten gesprochen hatte. Das Wort »Panorama« hatte er aber deutlich bestätigt. So erkundigte sich O'Key noch bei Kommissar Pillevuit, wie er am schnellsten in den Jardin Anglais kommen könne. Dieser beschrieb ihm den Weg, und unter einem sich langsam aufhellenden Himmel durchquerte der Journalist die Straßen der alten Stadt, die steil bergab führten, blieb einen Augenblick vor dem Kiosk an der Place du Molard stehen, stieg sogar in die Toilette hinunter, jedoch ohne etwas zu finden. Er lachte sich hernach aus. Dumme Sentimentalität.

Der Jardin Anglais war leer. Der Regen hatte die Kinder und ihre Hüterinnen vertrieben, auch rund um den niedrigen Ziegelbau, der das Panorama enthielt, war kein Mensch zu sehen. Die Büsche, die es umgaben, waren dicht belaubt, verblühte Fliederdolden hingen braun und unansehnlich zwischen dem tiefgrünen Blätterwerk. ›Wo soll ich suchen?‹ dachte O'Key, ›jetzt am hellichten Tage? In jeder Minute kann ein Vorübergehender dazukommen und mich fragen, was ich da unter den Büschen zu suchen habe.‹

Da hörte er links von dem kleinen Hause, dort, wo die Büsche so dicht standen, daß sie ein bequemes Versteck bildeten, ein Rascheln. Es klang, wie wenn ein Hund nach einer verschloffenen Maus sucht. O'Key trat näher, es rauschte stärker im Gebüsch, Geräusch von fliehenden menschlichen Tritten, O'Key durchbrach die grüne Wand. Ein weißer Weg blendete ihn. Und auf diesem Weg eilte eine kleine magere Gestalt davon, unter dem Arm trug sie eine schwarze Mappe.

Im Laufen nahm O'Key das Bild des Fliehenden ziemlich genau wahr: ein offenbar ganz junger Bursche, in einen braunen Sportsanzug gekleidet, Golfhosen, aus denen unwahrscheinlich dünne Waden zum Vorschein kamen. Der Fliehende wendete das Gesicht einmal kurz seinem Verfolger zu. O'Key erschrak und ärgerte sich gleich darauf über sein Erschrecken. Er hatte doch in seinem Leben mit allerlei Gesindel zu tun gehabt. Aber dieses Gesicht! Es war klar, daß es einem jungen Menschen gehörte, aber es wirkte uralt, faltig, blutleer. Er mußte an die Beschreibung Charles, des Kammerdieners und Obersten, denken, als er den Sohn der Witwe Pochon geschildert hatte. »Der Kerl ist unheimlich«, hatte Charles gesagt, »sieht aus, wie seine Mutter, wenn diese eine Entfettungskur durchgemacht hätte. Die Haut ist ihm zu weit, überall Falten und Runzeln, und doch ist er jung…« Das stimmt alles, dachte O'Key und war dem Fliehenden dicht auf den Fersen. Die beiden waren auf dem Trottoir des Quais angelangt, fünf Schritte nur trennten O'Key von dem Burschen, da machte dieser einen Satz zur Seite und hinein in die geöffnete Tür eines dastehenden Taxameters, dessen Motor leise brummte. Die Tür schlug zu, der Wagen nahm einen Sprung vorwärts und O'Key blieb am Rande des Gehsteiges stehen und wischte sich die Stirn. Er hatte nur einen kurzen Blick in den Wagen werfen können. Ein Mann saß darin, das Gesicht im aufgeschlagenen Kragen des Regenmantels verborgen. O'Key hatte deutlich die herrische Bewegung gesehen, mit der der Mann dem Burschen die Mappe entrissen hatte.

O'Key war ärgerlich, daß er sein Motorrad in der Obhut des Polizisten Malan zurückgelassen hatte. Er hatte gemeint, er würde es nicht brauchen, während dieser kurzen Suche. Und als er nun verärgert in der Richtung weiter ging, in der das Taxi verschwunden war, wen traf er an der Ecke des Grand Quai?

»Simp«, sagte der Mann mit dem steifen Hut, »Simp, es ist gut, daß ich dich treffe. Mein Alter ist mir gerade vor der Nase in einem Auto davongefahren. Und weißt du, wer bei ihm war? Du wirst es nie erraten.«

»Doch«, sagte O'Key, noch immer ein wenig atemlos. »Der Sohn der Witwe Pochon.«

»Kannst du Gedanken lesen, Simp? Und warum keuchst du so? Willst du Nurmi schlagen?«

»Nein, Colonel«, sagte O'Key ärgerlich, es war ihm gar nicht spaßhaft zu Mute. »Aber die Geschichte wächst mir wahr und wahrhaftig zum Hals hinaus. Mit vieler Mühe habe ich aus einem Verrückten herausgebracht, wo die Mappe versteckt war, die am Abend von Crawleys Ermordung verschwunden ist, will sie holen, und da kommt mir dieser unheimliche Bengel zuvor. Und fährt mit deinem Alten davon.«

»Reg' dich nicht auf, alter Junge«, sagte der Colonel, »nach Regen folgt Sonnenschein und es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht ist, und auch das schöne Sprichwort darfst du nicht vergessen: Wer andern eine Grube gräbt, hat wohlgetan. Es ist alles in Ordnung. Es wird sich alles klären.«

O'Key blickte seinen Begleiter erstaunt an, blieb sogar eine Sekunde zögernd stehen, so, als überlege er sich, ob er weitergehen solle. War das beim Colonel eine Art Greisenverblödung? Es war doch sonst nicht seine Art, soviel leeres Geschwätz von sich zu geben. Bis O'Key merkte, daß Charles Blick wie gebannt auf dem Rücken eines Mannes klebte, der vor ihnen, scheinbar unbekümmert, einherschritt.

Er war gar nicht weiter auffällig, dieser Mann, wenigstens von hinten nicht. Ein langer schwarzer Gehrock fiel bis zu seinen Knien, der weiße, ovale Strohhut war ins Genick geschoben. Der Gang des Mannes war allerdings nicht ganz alltäglich. Trotz der Hitze hatte der Herr die Hände tief in den Hosentaschen vergraben und ging einher, mit weitausholenden Schritten, einem Bergsteigerschritt vielleicht, aber dagegen sprach die sonderbare Angewohnheit, die der Mann hatte, gespreizt zu gehen, so, als trage er unsichtbare Sporen. Charles salbaderte weiter:

»Denn immer mußt du dir vor Augen halten, lieber Junge, daß wir hier in einer Stadt sind, die der Welt jene merkwürdig mohammedanische Abart der christlichen Religion geschenkt hat, die man Calvinismus nennt. Weißt du, Prädestination und solche Tücken. Praktisch, gewiß, aber…«

»Wer ist der Mann, dem wir folgen, Colonel?«

»… aber immerhin gefährlich. Nein, Simp, ich bin noch nicht ganz vertrottelt, aber aufgeregt, denn bald, Simp, sehr bald, wird es zum Klappen kommen. Du willst wissen, wer der Mann da vor uns ist? Ich habe ihn gestern schon getroffen und bin erschrocken. Habe ich dir nicht von einem Missionar erzählt, der aussieht, als käme er direkt aus dem ›Regen‹ von Somerset Maugham. Weißt du, das Stück handelt von einem Missionar auf der Südseeinsel, der eine unordentliche Frauensperson bekehren will und dann aber von ihr bekehrt wird, worauf er Selbstmord begeht. Du kennst doch die Geschichte? Sieh dir den Mann vor uns deutlich an. Das ist der Amerikaner, der Delegierte der Standard Oil dort in unserem Randstaat. Der meinen Alten herumgekriegt hat. Der den jungen Fürsten vertrieben hat. Ja. Und mit dem Gottesmann habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen. Aber ich habe Geduld. Ich habe noch nicht herausfinden können, wo er wohnt, darum gehe ich ihm immer nach, einmal werde ich ihn schon zu fassen kriegen. Gestern ist er mir in einem Taxi entschlüpft. Ich möchte wissen, wo er heute hingeht.«

Da bog der Fremde in die Place de la Fusterie ein. Und bei dieser Schwenkung konnte O'Key das Gesicht sehen , im Profil nur. Die Haut war braun, sehr sonnverbrannt, wie sie bei Leuten häufig ist, die lange in den Tropen waren. Es wirkte hölzern, mit starren, kantigen Linien. War es ein Wunder, daß O'Key an des kleinen verrückten Nydeckers Ausspruch denken mußte: ›Der alte Mann mit dem Holzgesicht, ganz braun ist das Holzgesicht, ganz braun und glatt.‹

»Vielleicht ist der Herr der Fliegen auch der Meister der goldenen Himmel«, sagte O'Key so laut, daß der Colonel ihn erstaunt ansah. »Ich glaube, jetzt schnappst du über, Simp«, sagte er ärgerlich.

»Wissen Sie, Colonel, was man mir heute eingebläut hat? Nur Dummköpfe erraten. Ich will es mir merken. Sehen Sie, dort verschwindet unser Freund in einem Haus, wollen wir ihm nachgehen?«

Ein dunkler Durchgang ging in einen viereckigen Hof. Holztreppen, die an den Mauern angeklebt waren, stiegen in die oberen Stockwerke. In jedem Stockwerk führte eine Holzgalerie rund um das Viereck.

»Gehen wir wieder, Colonel«, sagte O'Key, nachdem er kurze Zeit zum Himmel geblickt hatte. Im zweiten Stock hatte eine Ziehklingel gescheppert, dann war eine Türe aufgegangen, war wieder ins Schloß gefallen. Hierauf herrschte Schweigen. »Gehen wir, Colonel«, wiederholte O'Key. »Ich glaube, es wird langsam klarer.«

3

Jakob Rosenstock, der junge Gymnasiast, der Bruder des Advokaten Roséne, hatte seine erste Liebe nur kurz sprechen können. Fräulein Agnés Sorel, die Dichterin, war heute besonders aufgeregt und klebrig gewesen. Ja, es schien dem jungen Jakob, als sei die alte Dame übertrieben ängstlich und fürchte sich vor dem Alleinsein. Manchmal hob sie den Kopf, aus welchem die Nase sich über den bläulichen Mund bog, wie ein Papageienschnabel, der nach einer Kirsche schnappt, und lauschte angestrengt. Aber die großen leeren Zimmer, die hinter dem Eßzimmer lagen, blieben stumm, auch die Flurglocke verhielt sich still. Es war augenscheinlich kein Grund zu Unruhe vorhanden.

Endlich, man war beim Dessert angekommen, und Jakob saß auf Kohlen, denn er hatte Natascha Gewichtiges mitzuteilen, schellte es. Fräulein Sorel stand auf, watschelte zur Tür, ihr häßliches Gesicht, das wieder schön wirkte, wie das einer rassenreinen Bulldogge, wurde von einem merkwürdigen Schein verklärt. Die beiden am Tisch Zurückgebliebenen hörten entzückte Begrüßungsworte (»… wie scharmant von Ihnen, meine liebe, liebe Dame, ich freue mich ja so unglaublich, Sie wiederzusehen, bitte, legen Sie ab, hoffentlich haben Sie sich nicht erkältet«), dann Rascheln von Seidengewändern, die Tür des nebenanliegenden Salons (diejenige nämlich, die nach dem dunkeln Flur führte), wurde geöffnet, dann wieder geschlossen, und dann hörte man das helle Summen zweier Stimmen, ohne daß jedoch die Worte erkennbar geworden wären.

»Ich habe meinem Bruder einiges erzählt, besonders das, was den Professor betrifft, aber ohne dich zu nennen. Er hat auch weiter nicht gefragt, von wem ich die Neuigkeiten hätte«, flüsterte Jakob aufgeregt. »Du mußt entschuldigen, wenn ich das gemacht habe, aber ich bin noch jung. Es hat mich so erschüttert, was du mir erzählt hast.«

»Dummer, kleiner Junge«, sagte Natascha, die Agentin 83, »Ich habe dir ja selbst geraten, deinen Bruder ins Vertrauen zu ziehen. Es ist ja ganz richtig. Was hat er gesagt?«

»Er war ganz einverstanden, dem Professor zu helfen, und hat mich beauftragt, dem Professor heute, nach seiner Vorlesung aufzulauern und ihn zu uns einzuladen. Für heute abend um halb neun. Willst du nicht auch kommen, Natascha? Du könntest das alles viel besser erklären als ich.«

»Ja, wird mich dein Bruder empfangen, mich, die kommunistische Agentin? Oder mich hinauswerfen?«

»Ach«, sagte Jakob, »Isaak ist nicht so. Ich werde ihm sagen, ich würde auch jemanden mitbringen, der von Nutzen sein könnte, und dann wird er gar nichts dagegen haben. Ich werde viertel vor neun hier vor dem Hause warten, in einem Taxi, und dann fahren wir zusammen hinaus. Willst du? Geld hab ich.«

»Ja, kleiner Junge«, sagte Natascha zärtlich und streckte Jakob die Hand über den Tisch entgegen. Der ergriff sie und legte seine Stirn in die offene Handfläche. Es war so still im Zimmer, daß man deutlich Fräulein Sorels Stimme vernahm, die im Nebenzimmer kreischend anstieg.

»Was hat unsere gastfreundliche Wirtin?« fragte Natascha leise. »Wenn sie weiter schreit, wird sie so heiser werden, daß sie am nächsten Sonntag ihr neuestes Drama in klassischen Alexandrinern vor der literarischen Gesellschaft nicht wird vorlesen können.«

Natascha schlich auf Fußspitzen zur Salontüre und preßte ihr Ohr an die Füllung. Zuerst behielt ihr Gesicht das spöttische Lächeln bei, wurde aber langsam ernst, fast finster. Gebieterisch winkte sie mit dem Finger, bis auch Jakob neben ihr stand und ebenfalls das Ohr an die Türfüllung hielt.

Zuerst war das Gemurmel nicht recht verständlich. Dann aber merkte auch Jakob plötzlich auf. Der Name Dominicé war gefallen und alles, was den Professor anging, interessierte Jakob. Der Name war von einer fremden Stimme gesprochen worden, fragend, mit einem scharfen, schneidenden Ton. Dann klang deutlich Fräulein Sorels Papageiengeplapper.

»Vor dem haben Sie Angst, liebe Freundin? Keine Ursache. Den halten wir so…« Fräulein Sorel mußte eine sehr komische Geste gemacht haben, denn ein Lachen klang auf, eintönig, und gerade durch diese Eintönigkeit wirkte es grausam. Dann sprach die Lacherin und ihre Worte waren verständlich.

»Und Thévenoz?« fragte sie, »was fangen wir mit Thévenoz an? Finden Sie nicht, liebe Freundin, daß der Mann langsam unbequem wird?«

»Und wenn«, plapperte die Stimme Fräulein Sorels, »und wenn er unbequem wird, so laden wir ihn eben einfach zum Tee ein. Hehehe.«

»Hihihihi«, lachte die andere. Jakob verstand nicht, was an einer Einladung zum Tee so Komisches war.

»Der Meister hat mir übrigens aufgetragen, auch diesen fremden Engländer, der draußen vor der Stadt wohnt, an einem Abend oder Nachmittag einzuladen. Er möchte sich sein Haus näher ansehen«, sagte die fremde Stimme.

»Dann laden wir ihn auch einmal zum Tee ein, nicht wahr?« Es war Fräulein Sorel, die sprach.

»Ja, ja, gewiß. Aber wir werden neuen Tee bestellen müssen, meine Liebe, unser Vorrat geht zur Neige.«

»Nun, darum wird sich der Meister schon kümmern. Schade, daß unser Hauptlieferant uns untreu geworden ist.«

»Untreu geworden!« rief die fremde Stimme, »Sie haben wirklich wunderbare dichterische Ausdrücke. Aber wer weiß, vielleicht ist er uns treu geblieben. Vielleicht sehen wir ihn nächstens. Unser junger Freund hat so ausgezeichnete Gaben.«

»Ja«, hörte man Fräulein Sorel erwidern, »die hat er von seiner Mutter geerbt. Übrigens, meine Liebe, ich denke eben daran, ich muß Sie mit meiner entzückenden kleinen Freundin bekannt machen, einem jungen russischen Mädchen, die uns wahrscheinlich…«, die Stimme ging in ein Flüstern über; Natascha riß ihren Freund an der Hand zum Tisch, setzte sich, und Jakob hatte Geistesgegenwart genug, ein harmloses Gesicht zu schneiden und Nataschas Hand zu streicheln. Nur in seinen Augen blieb ein ängstliches Flimmern zurück. Da öffnete sich auch schon die Tür, Fräulein Sorels kurze Gestalt erschien, und hinter ihr ragte auf, sehr lang, sehr mager, eine Dame in violettem Seidenkleid.

»Nein, sehen Sie, wie entzückend«, plapperte Fräulein Sorel. »Ist es nicht wie in den ›Noce di Figaro‹, Cherubin und die Herzogin!« Und sie begann mit hoher, schriller Stimme die Arie zu trällern, auf Italienisch noch: »Voi che sapete, ehe cosa è l'amor…« Es klang schaurig. »Liebste Natascha«, fuhr sie fort, »darf ich Ihnen eine alte Freundin vorstellen: Frau de Morsier.«

Frau de Morsiers Gesicht wirkte wie eine Maske: es war starr, und auch das Lächeln, das um die Lippen lag, schien angeschminkt. Nur die Augen (in der Farbe an treibende Eisschollen in einem Fluß erinnernd) waren wachsam, beweglich. Sie reichte zuerst Natascha eine lange Hand, die sich kalt und ein wenig klebrig anfühlte, dann begrüßte sie Jakob.

»Ich kenne Ihren Bruder, junger Mann«, sagte sie dabei, »er wird sich wohl meiner erinnern, aber es ist vielleicht besser, Sie sprechen nicht von mir.« Worauf Jakob sich vornahm, bei erster Gelegenheit Isaak zu fragen, was es mit Frau de Morsier für eine Bewandtnis habe. Er hatte unterdessen Nataschas Hand losgelassen, blickte seine Freundin fragend an, erhob sich auf einen Blick von ihr und verabschiedete sich. Er sah noch, wie Frau de Morsier sich am Tisch niederließ und eifrig auf Natascha einsprach. Dann schloß Fräulein Sorel die Tür hinter ihm.

4

Professor Dominicé hielt seine Vorlesungen in dem, nach der Aula, nächstgrößten Saal der Universität. Er hatte viel Publikum, und zwar sehr gemischtes. Neben eleganten, parfümierten Damen, die in der ersten Reihe der amphitheatralisch aufsteigenden Bankreihen saßen, ehrliche Philosophie — und Theologiestudenten. Auf den hintersten Reihen, ganz nahe an der gewölbten Decke, aber saßen Fremdlinge, mehr oder weniger abgerissen, mit glänzenden Augen, die eifrig nachschrieben.

Als der Professor den Saal betrat, erhob sich ein sehr eindrucksvoller Lärm, der aus Füßetrampeln der mittleren Schicht, leisem Klatschen behandschuhter Hände in den ersten Bänken und exotisch lautem Beifallsgebrüll aus den oberen Schichten bestand. Der Professor dankte mit einer Neigung seines Apostelhauptes, nahm Platz, breitete vor sich einige winzige Notizblätter aus und blickte dann mit ruhigen Augen, in denen die Pupillen kaum stecknadelgroß waren, über die Versammlung. Jakob saß ziemlich in den oberen Regionen, neben einem jungen Mann mit unordentlichen Haaren, der penetrant nach Zwiebeln roch, und blickte aufgeregt über die unter ihm liegenden Bänke. Nicht weit von ihm zog ein langer Schädel mit kupferdrahtartiger Behaarung seine Blicke an. Er fragte sich, wem dieser durchaus ungewöhnliche farbige Kopf wohl gehöre. Da drehte der Mann sich um: Jakob sah eine lange bewegliche Nase, die Haut mit Sommersprossen übersät. Aber bevor noch Jakob dies Gesicht näher hätte prüfen können, senkte sich eine aufmerksame Stille über den Raum und Professor Dominicé begann zu sprechen. Er sprach nicht laut, aber mit einer seltsam warmen Stimme, die bis in die hintersten Bänke drang. Viele Gesichter glänzten feucht, es war erstickend heiß in dem Saal, den die sommerliche Mittagssonne erwärmt hatte. Auf den untersten Bänken waren Taschentücher, Eau-de-Cologne-Fläschchen und besonders Puderquasten fast ununterbrochen in Gebrauch.

Es sei dies seine letzte Vorlesung, sagte Dominicé, nicht nur die letzte des Semesters, das ja ohnehin übermorgen zu Ende gehe, sondern überhaupt seine letzte. Er habe beschlossen, sein Amt niederzulegen, auch die Leitung des psychologischen Laboratoriums aufzugeben, berufenere, jüngere Kräfte würden seine begonnene Tätigkeit fortsetzen.

Nicht nur das Alter, fuhr er fort, habe ihn bewogen, seinen Rücktritt zu erklären. Er habe Schuld auf sich geladen, und diese Schuld, nach längerem Nachdenken sei ihm dies klar geworden, befähige ihn nicht mehr, als Führer der Jugend aufzutreten. Professor Dominicé machte eine Pause, es war still im Saal, dann hustete eine der eleganten Damen, das Geräusch wurde niedergezischt, die Dame wandte sich beleidigt um und blickte dann wie Schutz suchend auf den Professor.

Es sei ja, er wisse es wohl, sagte der Professor, eine nicht ganz alltägliche Situation, solch ein offenes Sünden — und Reuebekenntnis vor versammeltem Auditorium, doch könne er nicht einsehen, inwiefern es nicht statthaft sei, einmal seine Fehler vor seinen Schülern zu gestehen. Er habe das an seinen Kollegen immer wenig geschätzt, die Überheblichkeit, diese manchmal fast päpstliche Unfehlbarkeit; wenn er anders geartet sei, könne er wohl nichts dafür und wolle sich dessen auch nicht rühmen, aber es möge ihm gestattet sein, dies Argument, nämlich die Notwendigkeit einer kleinen öffentlichen Beichte, zu seinen Gunsten zu brauchen.

Wieder eine Pause.

Jakob sah, daß der Mann mit den kupferdrahtartigen Haaren sehr unruhig war. Er rutschte hin und her, knetete seine Hände, schickte seine Blicke suchend durch den Saal, kurz, er war ganz das Bild ängstlicher, gespanntester Erwartung. Und zwar hatte dies Gebaren mit dem Augenblicke begonnen, als Dominicé von seinem Schuldbekenntnis zu sprechen begonnen hatte.

»Ich bin«, fuhr der Professor fort, und seine Augen waren von den Lidern bedeckt, »ich bin ein religiöser Mensch, das heißt, ich glaube an höhere Mächte, aber ich habe, wie alle wissenschaftlich gebildeten Menschen, das Bedürfnis, meinen Glauben durch objektive Untersuchungen zu erhärten. Wenn Sie, meine Damen und Herren, vorurteilslos das Weltgeschehen beobachten, wird es Ihnen aufgefallen sein, daß es ein ewiger Kampf ist. Ein Kampf zwischen den guten und den bösen Mächten. Die bösen Mächte verwirren unsere Sinne, sie senden uns Krankheit, Krieg, Irrsinn. Ich bin ein schlechter Mediziner. Ich bin kein Politiker. Was mich fesselt, ist die Seele der Menschen, was mich anrührt, ist die Hilflosigkeit unserer Seelen, die, sobald sie schwach oder geschwächt sind, eine Beute der finsteren Gewalten werden. Um diesen Gewalten auf die Spur zu kommen, habe ich mich verleiten lassen, gewissen Versammlungen beizuwohnen, in denen das Böse als solches verehrt wurde. Und von diesen Versammlungen möchte ich Ihnen kurz erzählen, bevor ich mich der einzigen Instanz unterwerfe, die befugt ist, solche Machenschaften, sobald sie zu überlegtem Morde führen, zu bestrafen. Sie werden abgehalten…«

Kling – tönte es vom Fenster her (wie eine Silbermünze, die auf Holz fällt), Dominicé stockte, blickte nach der Richtung, aus der der Ton gekommen war. Es war etwa in der vierten Bank, von unten gezählt, der Ort war leicht festzustellen, denn dort hatten sich einige Gesichter einer verschleierten Gestalt zugewandt, die gebückt, wie in sich vergraben, dasaß.

Jakob reckte den Hals, um zu sehen, was los war. Da bemerkte er den Mann mit den kupferdrahtartigen Haaren, der aufgesprungen war, wild mit den Armen fuchtelte und rief: »Haltet die Frau!« Aber es war schon zu spät. Ein eintöniges Gemurmel stieg auf, in das sich ein Summen mischte, das anschwoll, die hohen Fenster verdunkelten sich, es summte stärker, plötzlich war die Luft des Saales angefüllt mit Insekten aller Art, Wespen und Hummeln und Bremen. Gekreisch stieg auf, Hände fuchtelten.

»Bleiben Sie ruhig sitzen«, sagte die tiefe Stimme Professor Dominicés. »Es ist alles Trug. Sie müssen nur fest glauben, daß alles Trug ist.« Aber ein Gelächter antwortete ihm, die eleganten Damen in der ersten Bankreihe stießen kurze, spitze Schreie aus und wehrten sich mit winzigen Taschentüchern, alles drängte zur Tür, und immer stärker schwoll es an, das Gesumm.

Da sah Jakob, der ruhig sitzengeblieben war (bis zu ihm war der Ungezieferschwarm noch nicht gedrungen), wie der Mann mit den kupfernen Haaren plötzlich einen Sprung über ein paar Bänke nahm, einen zweiten auf das Podium und sich neben dem Professor aufstellte. Da stand auch Jakob auf, drängte sich durch die nun schon spärlichen Anwesenden, stieg auch aufs Podium und sagte, nachdem er einen Augenblick den rothaarigen Unbekannten angeblickt hatte, zu Dominicé:

»Mein Bruder, der Advokat Rosène, läßt Sie bitten, Herr Professor, heute abend zu uns zu kommen. Er möchte Ihnen gerne helfen.« Dann schwieg Jakob und blickte über den leeren Saal. Was ihn am meisten verwunderte, war, daß er die Luft lautlos und rein fand. Kein Gesumm, keine brummenden Insekten, keine flirrenden Flügel schwirrten durch den Raum. Durch die offenen Fenster konnte der Blick ungehindert die großen dunklen Räume erblicken, die den Hof der Universität gegen die Promenade des Bastions abgrenzten. Der Professor schwieg noch immer, seine Augen waren gesenkt.

»Und Sie, mein Freund O'Key«, sagte er plötzlich, ohne Jakob zu antworten, »haben Sie mir auch etwas zu bestellen?«

»Ja«, sagte O'Key, »das gleiche wie dieser junge Mann. Zwei Boten für ein und dieselbe Neuigkeit. Sie sind ein wichtiger Mann, Professor, eine internationale Berühmtheit, wie wir wohl wissen, und da Sie nicht mehr für sich selbst sorgen können, sind wir wohl verpflichtet, dies für Sie zu tun. Wollen Sie die Einladung annehmen?«

Der Professor antwortete nicht, sondern blickte weiter vor sich hin. Endlich, ohne auf die Frage einzugehen, sagte er:

»O'Key, haben Sie Thévenoz gesehen?«

»Thévenoz? Den Doktor Thévenoz? Nein!«

»Ich habe ihn gesehen, er ist als einer der ersten hinter der verschleierten Frau zur Türe hinausgelaufen. Er sah furchtbar aus. Können Sie nicht zuerst etwas für ihn tun? Ich kann warten.«

»Solange dieser Herr kein Vertrauen zu mir hat, kann ich ihm nicht helfen«, sagte O'Key schroff.

»Eifersucht, O'Key? Das sollten Sie sich abgewöhnen. Nun, sprechen wir nicht mehr davon.« Er blickte plötzlich auf, sah lange auf Jakob, der sich stumm verhalten hatte, packte des Jungen Arm und bemerkte: »Du bist ja noch sehr jung und kommst doch in meine Vorlesungen. Ich habe dich schon ein paarmal bemerkt. Gefällt dir das, was ich erzähle?«

»O ja, Herr Professor«, sagte Jakob ein wenig atemlos.

»Nun, dann begleit mich ein wenig. Ich mag heut nicht gern allein gehen. Und unser Freund hier hat wahrscheinlich noch privat zu tun.«

»Sie sind also der Bruder von Maître Rosène?« fragte O'Key und drückte Jakob die Hand. Dieser nickte. »Dann«, sagte O'Key, »finde ich es auch am besten, Sie nehmen sich ein wenig unseres Professors an. Er kann eine Begleitung brauchen.«

»Mehr noch als Sie glauben, lieber O'Key«, Dominicé sammelte seine verstreuten Notizblättchen mit der Rechten, und bei dieser Bewegung erst fiel es O'Key auf, daß des Professors Linke zur Faust geballt auf dem Pult lag.

»Was halten Sie denn da verborgen?« fragte O'Key und deutete auf die geschlossene Hand. Da öffnete sie der Professor und ließ ein weißes, glänzendes Ding, kaum zwei Zentimeter lang, auf den Tisch fallen. Beim Aufschlagen auf die Holzplatte war kein Geräusch zu hören. O'Key nahm das Ding in die Hand und schüttelte verwundert den Kopf.

Die Spitze, kaum vier Millimeter lang, sah aus wie das obere, abgebrochene Stück einer Hohlnadel. Sie war auf einer runden Kugel aus rotem Kautschuk angebracht, die selber wohl kaum einen halben Zentimeter im Durchmesser hatte. Und an diese winzige Kautschukblase war hinten ein lockerer Wattebausch angeklebt. Professor Dominicé drehte das Ding zwischen den Fingern, nachdem es ihm O'Key wieder eingehändigt hatte, und sagte verträumt:

»Wenn man bedenkt, daß der Tod auch diese kleine Gestalt annehmen kann! Ein perfektionierter Giftpfeil. Kam da auf mein Pult geflogen, und niemand sah ihn fliegen bei dieser Aufregung. Nun, die allgemeine Aufregung hat auch ihr Gutes gehabt, der Schütze hat nicht gut zielen können oder sein Atem hatte nicht genügend Kraft. Aber wie sinnreich ist dies konstruiert. Begreifen Sie?« O'Key schüttelte ein wenig ratlos den Kopf; Jakob starrte gebannt auf des Professors Hände.

»Es ist doch ganz einfach«, fuhr Dominicé geduldig fort, »sitzt die Spitze in der Haut, so wird der kleine Kautschukball durch seine Trägheit gegen die Spitze gepreßt, buchtet sich ein und drückt die Flüssigkeit unter die Haut. Nehmen Sie an, es hätte mich ins Gesicht getroffen, alle im Saale Anwesenden hätten beschwören können, ich sei von einer Wespe oder sonst von einer giftigen Fliege gestochen worden. Darum das Theater mit den Fliegenschwärmen. Und wenn ich ein paar Stunden später an Starrkrampfsymptomen verschieden wäre, hätte kein Mensch an eine Vergiftung geglaubt. Ja«, seufzte er, »ich glaube, das Gift wird den Chemikern noch einige Schwierigkeiten bereiten. Wahrscheinlich eine Mischung aus Ouabaïn, Echujin, Erythrophläin, alles schöne Namen, die ziemlich häßliche Bilder liefern, wenn sie ein Mensch unter die Haut bekommt. Afrika, Asien, Südseeinseln. Der Mann, der das Gift gebraut hat, besitzt unzweifelhaft Kenntnisse. Die Pfeilgifte der sogenannten Naturvölker sind gewöhnlich dickflüssige Stoffe. Um solch eine wasserklare Flüssigkeit herstellen zu können«, Dominicé drückte leicht auf den Gummiball und ein heller Tropfen erschien an der Spitze der Nadel, »muß man schon ziemlich viel in Laboratorien gearbeitet haben. Ich habe schon vor einiger Zeit von dem Vorhandensein dieser Waffe gehört, man hat mir damit gedroht, aber ich habe mich nicht darum gekümmert; jetzt scheint es aber Ernst zu werden…«

Die Türe des Saales wurde aufgerissen, zwei Pedelle stürzten herein, und jeder trug in der Hand eine jener gelben Spritzen, die Fliegenbetäubungsmittel enthalten. Sie schauten sich verdutzt im Saal um, als sie die Drei ruhig auf dem Podium sprechend fanden, und erkundigten sich ängstlich, wo denn die Fliegenscharen hingekommen seien, die im Auditorium eine Panik hervorgerufen hätten.

»Beruhigen Sie sich«, sagte Dominicé, während er sich von seinem Stuhl erhob. »Es ist alles in Ordnung. Gott«, fügte er hinzu, »wie leicht, wie unendlich leicht wäre es, wenn man allen Wahngebilden mit Fliegenspritzen beikommen könnte.«

Er stützte sich auf Jakobs Arm, winkte O'Key freundlich: »Auf heute abend, lieber Freund«, und schritt aufrechten Ganges durch die Tür.

Auf den Stufen, auf den Absätzen, standen noch dichtgedrängt die Leute, die aus dem Saale geflohen waren. Sie drückten sich beiseite, an die Mauern, so eng sie konnten, um nur ja nicht mit dem vorbeischreitenden Professor in Berührung zu kommen. Dominicé lächelte. »Siehst du«, sagte er zu Jakob, »sie halten mich für einen Zauberer. Was für angehende Wissenschaftler betrübend ist, aber menschlich begreiflich. Grab den Menschen um, und immer wirst du eine Schicht finden, die alt ist, uralt, Millionen Jahre vielleicht, wer weiß?«

Yaş sınırı:
12+
Litres'teki yayın tarihi:
30 ağustos 2016
Hacim:
300 s. 1 illüstrasyon
Telif hakkı:
Public Domain
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