Kitabı oku: «Der Tee der drei alten Damen», sayfa 6
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Dr. Jean Thévenoz, Arzt am Kantonsspital Genf, hätte gar nicht weit zu suchen brauchen, um Aufklärung über die geheimnisvolle Dame zu erhalten, deren Hauptbeschäftigung es zu sein schien, vergifteten Personen eine Abschiedsvisite vor ihrem Weggang aus dieser Welt abzustatten. Er hätte sich nur an den Bruder seines Assistenzarztes Rosenstock zu wenden brauchen, einen neunzehnjährigen Jungen, der eben daran war, sich auf die Matura vorzubereiten, indem er die meisten Stunden schwänzte, Professor Dominicés Vorlesungen besuchte und außerdem an seiner ersten Liebe erkrankt war. Wladimir Rosenstocks Bruder Jakob hatte vor einiger Zeit die Bekanntschaft der Russin Natalja Kuligina gemacht.
Es wäre noch vorauszuschicken, daß es drei Brüder Rosenstock gab: den Assistenzarzt, der im Alter nach Isaak kam, dem Advokaten. Der Advokat, er war bekannt und nicht unbeliebt, hatte zu Beginn seiner Karriere die letzte Silbe seines Patronyms verloren. Er nannte sich Isaak Rosène, und da biblische Vornamen in puritanischen Gesellschaften nichts seltenes sind, da außerdem der Fürsprech Rosène glattrasiert war und blond wie reife Ähren (Erbschaft der Mutter, einer de Morsier, weitläufig verwandt mit dem Sonnette dichtenden Staatsanwalt, was übrigens Isaaks Fortkommen im ›Palais‹ bedeutend erleichtert hatte), hielt man ihn nur ganz selten für einen Juden. Und hätte man es auch getan, so wäre es nicht schlimm gewesen. Es gab nur wenig Antisemiten in Genf und diese hatten nicht viel zu sagen, da sie von einem jungen Manne angeführt wurden, dem es selber nur schwer gelang, seine Abstammung von Noahs Sohne Japhet glaubhaft zu machen.
Doch wir wollten von Jakob Rosenstock erzählen, dem jüngsten der Brüder, seiner Bekanntschaft mit Natalja Invanovna Kuligina und seiner ersten Liebe. Die drei Brüder bewohnten eine einsame Villa ganz in der Nähe der Palanterie, jenes Sumpfes, der den Genfern im Winter als Schlittschuhlaufplatz dient. Die Eltern der drei Brüder waren vor bald fünfzehn Jahren gestorben, Isaak war damals noch ins Gymnasium gegangen, aber trotz dieses Trauerfalles hatten die jüngeren Geschwister, Wladimir und Jakob, eine glückliche Jugend verbracht. Isaak, der spätere Advokat, hatte es mit bewundernswerter Energie verstanden, sich die Einmischung von Onkeln, Tanten zu verbieten. Er hatte sich an Herrn Philippe de Morsier gewandt, den Verwandten seiner Mutter, der damals noch kleiner Richter am Polizeigericht war, und durch dessen Vermittlung gelang es ihm, schon in seinem neunzehnten Jahre mündig gesprochen zu werden. Vater Rosenstock hatte ein annehmbares Vermögen hinterlassen, außer der Villa am See. Die Erziehung der jüngeren Brüder übernahm Angèle (Angelika, wenn es Ihnen lieber ist), eine katholische Savoyerin, kinderlose Witwe, die sich mit Begeisterung der Knaben annahm. Das Erziehungsresultat war gar nicht übel. In der Villa am See herrschte ein freier Ton. Außer Mutter Angèle gehörte noch André, der Chauffeur und Gärtner, zur Familie.
Da die Villa ziemlich weit von der Stadt entfernt war, kam keiner der drei Brüder zum Mittagessen heim. Am schwierigsten war es für Jakob, den Gymnasiasten, gewesen, einen zusagenden Mittagstisch zu finden. Jakob haßte von Jugend auf öffentliche Abspeisungen, als da sind alkoholfreie Wirtschaften, Crèmerien oder wie sonst sich solch öffentliche Fütterungsstellen zu nennen belieben. Auch hier hatte der Staatsanwalt »hilfreich eingegriffen« und sich an eine alte Dame erinnert, die in der Rue Verdaine eine riesige Wohnung bewohnte, allein mit einem tyrannischen Mädchen für alles und dem Schatten ihres verstorbenen Freundes; dieser Freund war erst nach seinem Tode eine Berühmtheit geworden, durch ein nachgelassenes Tagebuch nämlich, das an selbstquälerischer Bespiegelung seines Innenlebens seinesgleichen suchte. Dieses ältliche Fräulein, Célestine Honorine Benoît mit Namen (als Schriftstellerin unter dem Pseudonym »Agnès Sorel« bekannt), war von einer so unförmlichen Häßlichkeit, so daß sie wieder schön wirkte, wie eine rassenreine Bulldogge. Negerlippen, kurzgeschnittene, ewig verfilzte graue Haare, so hockte sie vor ihrem Schreibtisch und verfaßte antike Tragödien, in schwungvollen Alexandrinern. Außerdem schwärmte sie für Voltaire und den Spiritismus; wie sie diese beiden Begeisterungen zu vereinigen vermochte, war ihr Geheimnis.
Jakob Rosenstock war lange der einzige Pensionär Fräulein Sorels gewesen (wir wollen ihr Pseudonym beibehalten, da es die Dichterin ihrem richtigen Namen vorzieht). Erst seit zwei Monaten war ein neuer Gast aufgetaucht, eben jene Natalja Kuligina, und Fräulein Sorel tat geheimnisvoll, wenn sie über die Herkunft ihres neuen Gastes befragt wurde. Die Sache war übrigens höchst einfach. Fräulein Sorel war nicht reich, manchmal war sie auf die wohlwollende Unterstützung verschiedener Mäzene angewiesen, aber die Mäzene wurden rar, und so hatte Fräulein Sorels Mädchen einfach eine Annonce in der ›Tribune‹ aufgegeben, auf welche Annonce hin eines Tages ein Herr erschienen war, klein und fremdländisch, mit einer großporigen Gesichtshaut, die unsauber wirkte, um für seine Schwester (so behauptete er) ein Zimmer zu mieten. Fräulein Sorel aber hatte sich in diese »Schwester«, die am nächsten Tag erschienen war, auf ihre sonderbar enthusiastische Art verliebt, nannte sie Natascha, betrachtete sie als die Verkörperung Rußlands und sah in ihr eine lebendig gewordene Heldin Dostojewskys, eines russischen Schriftstellers, den sie zu verabscheuen vorgab, den sie aber heimlich, mit glühenden Wangen verschlang, wie ein Junge im Pubertätsalter die Memoiren des Casanova; da aber das alte Fräulein alle näheren Bekannten idealisieren mußte, sah sie auch im jungen Jakob eine Art Cherubin. Sie war nicht prüde, denn sie liebte das galante Jahrhundert, das achtzehnte nach unseres Herrn Geburt, und leistete naive Kupplerdienste. So kam es, daß sich Jakob Rosenstock in die Agentin 83 verliebte, die in Genf unter dem Namen Kuligina auftrat, deren Mission es war, den Agenten Baranoff (Nummer 72) zu überwachen; denn dieser war verdächtig, für die eigene Tasche zu arbeiten, was gegen die Prinzipien von Hammer und Sichel ist.
Es ist, glaube ich, eine alte Tatsache, daß Jünglinge mit sogenannten geistigen Interessen für schöne Frauen nicht viel übrig haben. Um Magazinschönheiten zu verehren, braucht es ein vollgerütteltes Maß Dummheit. Darum war es ein Glück für Jakob, daß Natascha nicht schön war. Ich weiß, für eine Spionin wäre der Vamptypus am Platze, aber ich kann Ihnen leider nicht helfen: die Regierungen, die Spioninnen beschäftigen müssen, holen sich gewöhnlich weder bei Feuilletonromanciers noch bei Kinoregisseuren Rat. Natascha fiel nicht auf. Sie hatte ein gutmütiges Gesicht, schlichtes schwärzliches Haar, das manchmal silbern schimmerte, wie eine Rappenmähne. Sie glich einem schlanken Seehund, und wie ein solches Tier konnte sie auch gut schwimmen. Einmal hatte sie zum Spaß den Weltrekord für Brustschwimmen um zwei Fünftelsekunden geschlagen, aber sie durfte an keiner Konkurrenz teilnehmen, ihr Beruf verbot ihr dies. Wie sie aber zu diesem Beruf gekommen ist (denn Spionage ist schließlich ein Beruf wie Gärtner, Generaldirektor, Pfarrer oder Einbrecher), ist eine andere Geschichte.
Jakob kannte die Agentin 83 seit einem Monat und nannte sie Natascha. Zuerst hatte das alte Fräulein Sorel die beiden nach dem Mittagessen allein gelassen. Dann saßen sie gewöhnlich auf einem alten verschnörkelten Sofa, das grün überzogen war. Natascha hatte dem Jungen gegenüber zuerst eine etwas merkwürdige Einstellung. Es reizte sie, diesen behüteten Bürger, der nichts von Hunger und Elend wußte, zu dem Glauben zu bekehren, dem sie anhing. Aber die Predigten über die dialektische Methode verstummten nach und nach. Es war eigentlich nicht klar zu ersehen, warum. Sie verstummten. Das wäre alles, was sich sagen ließe. Statt der Predigten kamen dann Spaziergänge über Land (Jakob schwänzte gewissenhaft die Schule und sein Bruder Isaak, der Advokat, beklagte sich, weil er allzuviele Entschuldigungsschreiben verfassen mußte, ließ dann aber in seiner Kanzlei einige Dutzend Entschuldigungsformulare herstellen, auf denen nur das Datum freigelassen war, unterzeichnete sie, und überreichte »diese Blankoschecks für Schuleschwänzen« dem jüngeren Bruder, mit der Bitte, ihn von nun an mit derartigen Miseren zu verschonen). Es kamen Spaziergänge über Land, Nachmittage am See in der Sonne. Jakob lernte richtig schwimmen, was vielleicht nützlicher war als kommunistische Theorie, hier kommt es wirklich auf den Standpunkt an, den man einnehmen will, und, mein Gott, die beiden kamen gut miteinander aus. Jakob glaubte, daß seine Freundin als Sekretärin bei der offiziellen Sowjetdelegation angestellt sei, von Baranoffs Vorhandensein hatte er keine Ahnung.
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Untersuchungsrichter Despine hatte für dienstliche Obliegenheiten kein Zimmer, sondern ein Gemach zur Verfügung: trotz seiner stattlichen Postur wirkte er in diesem Raum eher klein, denn die Decke war hoch und mit vielen weißen Ornamenten verziert. Untersuchungsrichter Despine zeichnete sich durch eine vollkommene Glatze aus, der Haarmangel erstreckte sich über sein Gesicht und auch über seine Hände, die klein waren, mit spitzzulaufenden Fingern, so daß sie an Maulwurfspfoten erinnerten. Er hatte eine Konferenz einberufen, an der Kommissar Pillevuit und der Journalist O'Key teilnahmen.
Auf dem großen Schreibtisch, hinter dem Despines Gestalt wie eine Schießbudenfigur wirkte, lagen Gegenstände verstreut, mit denen sich des Untersuchungsrichters kahle Hände eifrig beschäftigten. Es war zu sehen: eine Flasche mit eingeschliffenem Stöpsel – und auf der Glaswand war weiß ein gespenstischer Finger abgedrückt – ein schwarzer Wollshawl, ein gelbes Band, ein zerknittertes Pergament. In der Hand hielt Despine die Münze, besah sie angestrengt durch eine Lupe und schüttelte von Zeit zu Zeit ratlos den Kopf. In einem Armstuhl, am Fenster, saß O'Key und rauchte. Pillevuit hingegen hatte sich in einem Klubsessel versteckt, von ihm war eigentlich nur ein Schimmer des leuchtend gelben Fahnenbartes zu sehen.
»Unglaublich«, sagte Herr Despine, »daß solche Dinge heutzutage möglich sind. Götzenanbetung! Hier in Genf! Man sollte doch meinen, Calvin habe die Luft der Stadt gereinigt von jeglichem Unsinn, vom heidnischen sowohl, als auch vom baptistischen… Verzeihung«, sagte er und neigte den blanken Schädel gegen O'Key, »ich glaube, Sie sind katholisch, ich wollte Sie nicht beleidigen.«
»Bitte, bitte«, winkte O'Key gnädig ab. »Wir sind hier ja nicht auf einem Konzil, um Religionsfragen zu diskutieren, sondern…«
»Haben Sie eigentlich diese Jane Pochon vorgeladen oder nicht?« fragte Pillevuit aus seinem Klubsessel heraus, ungeduldig und gereizt. »Kommt das Frauenzimmer? Ich habe meine Zeit nicht gestohlen…«
»Sie kommt, lieber Kommissar, sie kommt ganz bestimmt. Aber ich habe eine Bitte. Ich möchte keinen Schreiber zuziehen. Das Verhör soll nicht offiziell sein, uns nur zur Orientierung dienen. Kann einer der Herren stenographieren?«
»Ich«, sagte O'Key vom Fenster her und hob dabei die Hand wie in der Schule. Der Kommissar grunzte.
Schweigen. Dann war von draußen durch die Tür ein zitterndes Klingeln zu hören, die Tür öffnete sich und ein Gerichtsdiener stand da, lang und bleich.
»Ist Frau Pochon schon da?« fragte Despine mit quäkender Stimme. Der Diener verneigte sich. »Führen Sie die Dame herein.«
Pause. Dann trat ein, angetan mit einem schwarzen Seidenkleid, das in allen Nähten krachte, Frau Jane Pochon. Sie war rot, dreifache Falten quollen unter ihrem Kinn, auf ihrem Haupte lag waagrecht, gehalten von einem grauen Haarknäuel am Hinterkopf, ein mit Federn geschmücktes, schiffartiges Gebilde. Der Rock schleppte nach, er verbarg die Füße. Irgendwie gemahnte Frau Pochon an jene riesigen Figuren, die auf dem Karneval in Nizza durch die Straßen geschleppt werden. Sie nahm auf einem Stuhle Platz, den ihr Herr Despine angeboten hatte. Von Pillevuit war nichts zu sehen, er hatte den Klubsessel so gekehrt, daß man nur die nackte Lehne sah – dadurch wirkte das Möbel unbewohnt.
»Madame«, sagte der Untersuchungsrichter, »Ich hoffe, Sie haben meine Einladung nicht mißverstanden. Es handelt sich, wie ich betonen möchte, nicht um eine Vorladung. Wir möchten einige Dinge erfahren, über die Sie vielleicht Bescheid wissen. Ein junger Freund von mir«, er wies nach O'Key, der am offenen Fenster saß und dort mit einem Bleistift spielte, »der sich für die Sache interessiert, hat mich gebeten, der Unterredung beizuwohnen. Er möchte sich einige Notizen machen, denn er ist Journalist. Doch kann ich Ihnen versichern, es wird nichts in die hiesige Presse kommen. Der Herr ist Engländer.«
Despine sprach gedämpft, seine hellen Kugelaugen waren halb von den Lidern bedeckt, er hielt die Hände gefaltet und drehte die Daumen. Jane Pochon schwieg.
»Sie sind Haushälterin bei Professor Dominicé?«
Frau Pochon nickte.
»Schon lange?«
»Fünfzehn Jahre.« Die Stimme war heiser, merkwürdig dunkel, vielleicht wirkte sie auch nur so, weil das Zimmer von der Helligkeit einbrechender Sonnenstrahlen plötzlich erleuchtet wurde. Dann schleppte sich das Verhör weiter, über nebensächliche Fragen, deren Technik Herr Despine ausgezeichnet beherrschte, langsam sich näher tastend. Ob sie zufrieden sei mit ihrer Stellung? – Jawohl. – Ob der Professor nicht schwierig zu behandeln sei? – Durchaus nicht. – Wie ihre Arbeitszeit sei? – Unregelmäßig. – Die allzukurzen Antworten schienen Herrn Despine langsam nervös zu machen, sein Ton wurde schärfer. Am Fenster spielte O'Key immer noch mit seinem Bleistift und blickte auf seine Stiefelspitzen.
»Sie kannten natürlich«, sagte Herr Despine und zündete langsam eine Zigarette an, »jenen englischen Sekretär, der viel bei dem Professor verkehrte? Jenen Crawley, der eines so merkwürdigen Todes gestorben ist?« »Ich habe ihn gesehen, ein — oder zweimal«, dabei warf Frau Pochon einen seltsam prüfenden Blick auf O'Key, den dieser wahrnahm, aber sich nicht recht erklären konnte. Erst bei der nächsten Frage des Untersuchungsrichters, wer sonst noch bei dem Professor verkehre, und Frau Pochons Antwort: meistens Ausländer, mußte O'Key plötzlich an Madge denken. Er hatte sie seit dem Abend, dem sonderbaren Abend, der mit Thévenoz' Erscheinen geendet hatte, nicht mehr gesehen. Und er hatte sie damals heimbegleitet, gewiß, aber nur wenig gesprochen. Es war sehr ruhig und schön in dem Wagen gewesen, dann hatte er noch in Madges Zimmer Tee getrunken, und dann war er heimgegangen. An jenem Abend, vorgestern war das, hatte er gar nicht mehr an den Fall gedacht und auch Madge nichts gefragt. Aber Madge mußte etwas wissen, etwas, vor dem die dicke Frau da Angst hatte. Vielleicht war es etwas scheinbar Nebensächliches. O'Key kritzelte eifrig eine Notiz auf seinen Block – da schreckte ihn eine im Gegensatz zu den vorherigen, scharf gestellte Frage auf: »Wo haben Sie diesen Shawl verloren, Frau Pochon?«
Schweigen. Deutlich war das Summen einer Wespe zu hören. Tiefe Atemzüge und das Knistern des schwarzen Seidenkleides.
Dann wieder die ruhige Stimme Despines: »Nun, das hat ja nicht viel auf sich, vielleicht ist es auch gar nicht Ihr Shawl, es war nur eine einfache Frage.«
»Das gehört nicht mir«, sagte Frau Pochon gepreßt.
»Nun gut, meine liebe Dame, wir wollen uns mit diesen Kleinigkeiten nicht aufhalten. Aber der Professor beschäftigt sich viel mit Giften, nicht wahr?«
»Ich kümmere mich nicht um seine Arbeiten.«
»Nicht möglich? Sie, seine Mitarbeiterin, denn es ist doch ein offenes Geheimnis, daß Sie früher ein bedeutendes Medium waren, daß Professor Dominicé sogar ein Buch über Sie geschrieben hat, ein sehr interessantes Buch, in welchem er einige Ihrer Unwahrheiten, Ihrer unbewußten Unwahrheiten, will ich mich beeilen hinzuzufügen, auf eine geniale Art entlarvt hat. Und Sie sollten nichts von seinen Arbeiten wissen? Das ist doch kaum glaublich.«
»Es ist aber so.« Frau Pochon hatte ein Taschentuch gezogen, dem ein leichter Kampfergeruch entströmte und wischte sich die Stirne, die mit Tropfen überdeckt war. »Es ist so heiß hier«, klagte sie.
»Aber, daß er Morphinist ist, das wissen Sie«, stellte Herr Despine fest, und plötzlich war er aufgesprungen, hatte sich über den Tisch gebeugt und seine hellen Kugelaugen glotzten böse.
»Ja«, flüsterte Frau Pochon, und dann brach ein Redestrom los, der Herrn Despine in seinen Stuhl zurückwarf. Sie habe dem Professor oft gesagt, er solle das Gift lassen, aber es habe nichts genützt, es sei nur immer ärger geworden. Angefangen habe es vor einem Jahr, da habe der Professor Neuralgien gehabt und habe nächtelang nicht geschlafen, und dann habe er eben begonnen, aber als die Schmerzen vorbei gewesen seien, habe er nicht aufhören können, und habe immer behauptet, er könne besser arbeiten mit dem Gift, und das sei ja wahr, im Anfang habe er viel geschrieben, damals habe er auch das neue psychologische Laboratorium eingerichtet und zwei Assistenten eingestellt und Material gesammelt für ein großes Werk über die Hallo-, Halla-, Hallizunationen… »Halluzinationen«, korrigierte O'Key sanftmütig vom Fenster her, erhielt einen dankbaren Blick und dann floß der Redestrom weiter. Der Professor habe auch mit ihr experimentieren wollen, aber sie sei zu alt, sie falle nicht mehr in Trance. Da habe er diesen Crawley entdeckt, diesen Sekretär, der sei leicht beeinflußbar gewesen, auch habe er immer seine Träume für den Professor aufschreiben müssen, er sei viel mit dem Professor zusammengewesen, bis… hier stockte Frau Pochon.
»Nun, bis…?« ermunterte der Untersuchungsrichter und betrachtete aufmerksam seine Hände, deren Finger wie glatte Grottentiere wirkten.
»Sie haben sich gezankt«, sagte Frau Pochon leise, »ich habe nur gehört, daß der Professor etwas von ›unsauberen Machinationen‹ gesagt hat…«
»Wann war das?« fragte O'Key vom Fenster her und erhielt einen bösen Blick des Untersuchungsrichters.
»Ja, aaaber«, sagte Herr Despine, »wir haben hier eine Karte, mit des Professors Schrift, die Crawley auf den Abend des –, wir hatten zuerst das Datum übersehen, aber hier in der Ecke steht es –, auf den Abend des 22. Juni zu sich eingeladen. Sehr freundschaftlich sogar. Da muß doch eine Versöhnung stattgefunden haben, oder?«
»Vielleicht«, sagte Frau Pochon und schloß den Mund, definitiv.
»Wo waren Sie in der Nacht vom 25. auf den 26. Juni?«
Frau Pochon schwieg. Dann schrak sie plötzlich zusammen, denn der Fauteuil, der ihr seine nackte Lehne zugekehrt hatte, so, als sei er unbewohnt, hatte einen Satz nach hinten gemacht und nun stand vor ihr ein blondes, kleines Ungetüm mit wehendem Bart, und höhnische Fragen prasselten auf sie herab.
»Ja, in der Nacht, in der Eltester ermordet worden ist, wo waren Sie da? Und dieser Shawl gehört nicht Ihnen? Und Sie waren nie in einer Apotheke? Und der alte Professor hat sein Gift durch himmlische Boten bekommen…«
»Himmlische Boten«, stotterte Frau Pochon, ehrlicher Schrecken war auf ihrem Gesicht, so daß Pillevuit erstaunt schwieg über die Wirkung dieses so alltäglichen Vergleichs.
»Himmlische Boten«, murmelte Frau Pochon, und sie nickte mit dem Kopf, während ihre Lippen sich langsam von den Zähnen zurückzogen. Sie wirkte wirklich unheimlich, diese alte Frau.
Aber Kommissar Pillevuit hatte sich schon wieder gefaßt.
»Also, Sie geben zu, daß Sie in der Nacht vom 25. zum 26. Juni bei Eltester waren, zusammen mit Professor Dominicé«
Frau Pochon schien die Frage gar nicht gehört zu haben, sie starrte gebannt auf die Hände des Untersuchungsrichters, am Kommissar vorbei, denn diese Hände spielten mit einer Münze und von dieser Münze konnte Frau Pochon nicht die Augen lösen.
»Wo haben Sie die Münze gefunden?« fragte sie atemlos.
»Wissen Sie das nicht? Dort, wo wir den Shawl gefunden haben. Wollen Sie nicht zugeben, daß Sie den Apotheker gekannt haben?«
»Sie sollten mir die Münze geben«, sagte die alte Frau ruhig, »das ist nichts für Sie, das könnte gefährlich werden.«
»Halten Sie uns für Kinder?« schnaube Pillevuit böse. »Kinder, die sich vor Hexen und solchen Dingen fürchten? Oder etwa vor Geheimgesellschaften, religiösen oder politischen? Wollen Sie mir jetzt bitte eine genaue Antwort geben, wo Sie in der Nacht vom 25. auf den 26. Juni waren? Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie gesehen worden sind, und zwar nicht nur von einem Zeugen.«
Da kam wieder das Zurückziehen der Lippen, das wie ein höhnisches Lächeln wirkte, und dann sagte Frau Pochon: »Das ist nicht gut möglich. Bis Mitternacht war ich mit Sir Eric Bose zusammen und dann war ich daheim, denn mein Sohn hatte Fieber und ich mußte ihn pflegen. Um sechs Uhr morgens hat mich Sir Eric im Auto abgeholt, und ich habe meinen Sohn einer Nachbarin übergeben. Sir Eric meinte, ich sei müde und brauche Erholung.«
»He?« fragte Kommissar Pillevuit, sein Mund stand hilflos offen, er wandte sich zum Fenster, wo O'Key jetzt aufrecht stand und die beiden sahen sich an, viel zu verwundert, um ein weiteres Wort zu finden. Herr Despine, der Untersuchungsrichter, faltete ergeben die Hände, seufzte, zündete dann eine Zigarette an und sagte sehr still:
»Wenn sich die Herren von ihrem Erstaunen erholt haben, könnten wir vielleicht die Aussagen von Madame kontrollieren. Wie kommt es aber, daß Sie mit einem immerhin angesehenen Diplomaten so intim sind?«
Frau Pochons Gesichtsfarbe, die nach der lächelnden Aussage auf ein zartes Rot zurückgegangen war, dunkelte augenblicklich nach. Jetzt war es die Haushälterin, die aufrecht dastand, die Fäuste auf die abstehenden Stäbe des Korsetts gestemmt, und sie schrie los, wie ein wütendes Marktweib.
Für wen man sie eigentlich halte, keifte sie, sie stamme aus einer anständigen Familie, sie habe Manieren, wenn auch ihr verstorbener Mann ein Lump gewesen sei, so habe das nichts zu sagen, sie habe ihre Torheit schwer genug büßen müssen. Und ihr Sohn sei ein Künstler, ihr Sohn verfertige wunderbare Töpferarbeiten, und für diese habe sich Sir Eric interessiert. Und er habe sie besucht, er sei ein feiner Mann, er habe ihren Sohn zu würdigen gewußt, er sei ihr Freund, und überhaupt habe sie genug von dieser Ausfragerei. Wenn man ihr die Sünden des Professors aufbürden wolle, so werde sie schon wissen, wie sie sich zu wehren habe, sie habe mächtige Freunde. – In ihren Mundwinkeln bildeten sich kleine Schaumbläschen. Als sie zu einer neuen Rede ansetzte, stand plötzlich O'Key hinter ihr, sein roter Haarschopf überragte den Federschmuck ihres Hutes, und laut sagte er in das Ohr der Frau:
»Attalus III., Philometor, Sohn der Stratonike, letzter König von Pergamo, besaß einen Giftgarten, in dem wuchsen hundertundzweiunddreißig verschiedene Pflanzenarten, als da sind: Schierling, Bilsenkraut, Nießwurz und Aconit. Der römische Schriftsteller Flavius aber erzählt, daß in einem Feldzug gegen die Parther die Soldaten ein Kraut aßen, das geisteskrank machte, bevor es tötete.«
»Was wollen Sie…, was wollen Sie… damit sagen?«
»Nichts«, sagte O'Key still, »nur in Ruhe telephonieren. Sie erlauben?« fragte er und hob schon den Hörer ab, stellte eine Nummer ein, die er auswendig zu wissen schien, fragte, wer am Apparat sei, führte dann ein Gespräch auf Englisch; es war kurz. Dann sagte er über die Achsel:
»Lassen Sie die Frau gehen, Herr Richter. Was sie gesagt hat, wird von Sir Eric bestätigt.«
Aber Herr Despine brauchte kein Wort zu sagen. Bevor er noch den Mund hatte öffnen können, klappte die gepolsterte Tür hinter einem wehenden schwarzen Rock zu.
Es wären noch zwei Kleinigkeiten mitzuteilen, die erste: Nach dem Weggang Jane Pochons entdeckte der Untersuchungsrichter das Fehlen jener kleinen Medaille, die O'Key als ein Amulett jener Sekte bezeichnet hatte, die unter dem Namen basilidianische Gnosis im alexandrinischen Ägypten geblüht hatte. Aber Herr Despine sowohl als auch der Kommissar waren zu erschöpft, um aus dem Verschwinden dieser Münze die juristischen Konsequenzen zu ziehen. Vielleicht hielt sie auch das zweite Geschehnis von weiteren Schritten ab.
Es hieß nämlich am selben Tag noch, man habe im ›Palais‹ noch nie soviel Bremen, Mücken, Wespen, Hummeln bemerkt wie heute, und zwar erst nach dem Weggehen einer alten Frau mit hochrotem Gesicht, die murmelnd und scheinbar sehr gereizt, durch die Gänge gefegt sei. Ja, Polizist Malan, an den wir uns erinnern, und der an diesem Tag Dienst vor dem Tore hatte, behauptete sogar, die Frau habe dieses Ungeziefer angelockt. Denn sie sei die Rue Verdaine hinab verschwunden, umgeben von einem ganzen Schwarm Ungeziefer, und er selbst, Malan, sei von drei Bremen und vier Wespen gestochen worden. Die Frau aber habe etwas in der Hand gehalten, was nicht zu erkennen gewesen sei, und auf dieses Etwas habe sie eingesprochen, als wolle sie ihm Befehle erteilen.
Nun, Polizist Malan trank gern, das wissen wir, er war ein Waadtländer Bauernsohn, ganz hinten aus dem Jura, und dort sind die Leute abergläubisch. Es ist selbstverständlich, daß keiner der beiden Kriminologen an solche Ammenmärchen glaubte. Merkwürdig bleibt immerhin ein Ausspruch O'Keys, der seinen historischen Tag zu haben schien. Nach dem Weggang der Frau Pochon wurde er nämlich zuerst gefragt, was er mit seinem Attalus III., Philometor, eigentlich gemeint habe.
»Bluff«, sagte O'Key, »haben Sie noch nie bemerkt, daß man schreiende Leute sofort mit einem historischen Ausspruch mundtot machen kann?«
Pillevuit saß darauf lange schweigend, dann sagte er: »Ich glaube Ihnen nicht recht, Irokese, Sie sind ein ganz Durchtriebener. Aber das ist ja gleichgültig. Jetzt sollten wir wohl den Professor doch vornehmen, nicht wahr? Oder gar verhaften?«
»Vorsicht, meine Herren«, flötete Herr Despine und machte die Stimme des Sonnette dichtenden Staatsanwalts so ausgezeichnet nach, daß die beiden andern lachten, »lassen wir unsere Genfer Berühmtheit in Frieden, wir besitzen so wenig hervorragende Mitbürger von internationaler Bedeutung.«
»Richtig«, sagte O'Key, »halten wir uns vorläufig an dieses Argument. Es ist so gut wie ein anderes. Vielleicht kann ich Ihnen morgen weitere Neuigkeiten mitteilen. Ich treffe heute nachmittag einen Bekannten…«
Da klopfte es, der Gerichtsdiener trat ein, lächelnd, und wandte sich vertraulich an Herrn Despine. Die beiden kannten sich schon lange, und der Diener wußte von seines Vorgesetzten Schwäche für Klatsch.
»Es wird erzählt…«, begann er, und dann berichtete er von dem seltsamen Raunen in den Gängen, von der Frau, die Fliegen und Ungeziefer herbeigezaubert habe. Herr Despine lachte schallend, er krähte sogar, als er vom zerstochenen Malan hörte und Kommissar Pillevuit stimmte mit tiefem Gurgeln in dieses Lachen ein. Nur O'Key blieb schweigsam. Als die Herren sich dann einigermaßen beruhigt hatten, geschah jener zweite Ausspruch O'Keys.
»IAO«, sagte er, »ist ein anderer Name für Abraxas. Und im Louvre-Papyrus steht zu lesen: ›Sprecht nicht den Namen IAO aus unter der Strafe des Pfirsichs‹. Das will heißen: Steinfrüchte enthalten in ihrem Kern Bittermandelöl; vielleicht ist es gut, daß Frau Pochon das Amulett mitgenommen hat.«
Erst jetzt bemerkte Herr Despine das Fehlen der Münze mit dem Fliegengott. Und vielleicht doch beeinflußt durch den Ausspruch O'Keys beschloß er, jeglichen Schritt zu ihrer Wiedererlangung zu unterlassen. Nachher freilich erinnerte er sich an O'Keys Bemerkung von der Mundtotmachung durch historische Zitate. Er schämte sich ein wenig, aber dies schadet nichts, da O'Key zusammen mit dem Kommissar schon das Zimmer verlassen hatte.