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Kitabı oku: «Die Geburt der Tragödie: Versuch einer Selbstkritik», sayfa 9

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Es ist ein ewiges Phänomen: immer findet der gierige Wille ein Mittel, durch eine über die Dinge gebreitete Illusion seine Geschöpfe im Leben festzuhalten und zum Weiterleben zu zwingen. Diesen fesselt die sokratische Lust des Erkennens und der Wahn, durch dasselbe die ewige Wunde des Daseins heilen zu können, jenen umstrickt der vor seinen Augen wehende verführerische Schönheitsschleier der Kunst, jenen wiederum der metaphysische Trost, dass unter dem Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar weiterfliesst: um von den gemeineren und fast noch kräftigeren Illusionen, die der Wille in jedem Augenblick bereithält, zu schweigen. Jene drei Illusionsstufen sind überhaupt nur für die edler ausgestatteten Naturen, von denen die Last und Schwere des Daseins überhaupt mit tieferer Unlust empfunden wird und die durch ausgesuchte Reizmittel über diese Unlust hinwegzutäuschen sind. Aus diesen Reizmitteln besteht alles, was wir Cultur nennen: je nach der Proportion der Mischungen haben wir eine vorzugsweise sokratische oder künstlerische oder tragische Cultur: oder wenn man historische Exemplificationen erlauben will: es giebt entweder eine alexandrinische oder eine hellenische oder eine buddhaistische Cultur.

Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexandrinischen Cultur befangen und kennt als Ideal den mit höchsten Erkenntnisskräften ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden theoretischen Menschen, dessen Urbild und Stammvater Sokrates ist. Alle unsere Erziehungsmittel haben ursprünglich dieses Ideal im Auge: jede andere Existenz hat sich mühsam nebenbei emporzuringen, als erlaubte, nicht als beabsichtigte Existenz. In einem fast erschreckenden Sinne ist hier eine lange Zeit der Gebildete allein in der Form des Gelehrten gefunden worden; selbst unsere dichterischen Künste haben sich aus gelehrten Imitationen entwickeln müssen, und in dem Haupteffect des Reimes erkennen wir noch die Entstehung unserer poetischen Form aus künstlichen Experimenten mit einer nicht heimischen, recht eigentlich gelehrten Sprache. Wie unverständlich müsste einem ächten Griechen der an sich verständliche moderne Culturmensch Faust erscheinen, der durch alle Facultäten unbefriedigt stürmende, aus Wissenstrieb der Magie und dem Teufel ergebene Faust, den wir nur zur Vergleichung neben Sokrates zu stellen haben, um zu erkennen, dass der moderne Mensch die Grenzen jener sokratischen Erkenntnisslust zu ahnen beginnt und aus dem weiten wüsten Wissensmeere nach einer Küste verlangt. Wenn Goethe einmal zu Eckermann, mit Bezug auf Napoleon, äussert: "Ja mein Guter, es giebt auch eine Productivität der Thaten", so hat er, in anmuthig naiver Weise, daran erinnert, dass der nicht theoretische Mensch für den modernen Menschen etwas Unglaubwürdiges und Staunenerregendes ist, so dass es wieder der Weisheit eines Goethe bedarf, um auch eine so befremdende Existenzform begreiflich, ja verzeihlich zu finden.

Und nun soll man sich nicht verbergen, was im Schoosse dieser sokratischen Cultur verborgen liegt! Der unumschränkt sich wähnende Optimismus! Nun soll man nicht erschrecken, wenn die Früchte dieses Optimismus reifen, wenn die von einer derartigen Cultur bis in die niedrigsten Schichten hinein durchsäuerte Gesellschaft allmählich unter üppigen Wallungen und Begehrungen erzittert, wenn der Glaube an das Erdenglück Aller, wenn der Glaube an die Möglichkeit einer solchen allgemeinen Wissenscultur allmählich in die drohende Forderung eines solchen alexandrinischen Erdenglückes, in die Beschwörung eines Euripideischen deus ex machina umschlägt! Man soll es merken: die alexandrinische Cultur braucht einen Sclavenstand, um auf die Dauer existieren zu können: aber sie leugnet, in ihrer optimistischen Betrachtung des Daseins, die Nothwendigkeit eines solchen Standes und geht deshalb, wenn der Effect ihrer schönen Verführungs und Beruhigungsworte von der "Würde des Menschen" und der "Würde der Arbeit" verbraucht ist, allmählich einer grauenvollen Vernichtung entgegen. Es giebt nichts Furchtbareres als einen barbarischen Sclavenstand, der seine Existenz als ein Unrecht zu betrachten gelernt hat und sich anschickt, nicht nur für sich, sondern für alle Generationen Rache zu nehmen. Wer wagt es, solchen drohenden Stürmen entgegen, sicheren Muthes an unsere blassen und ermüdeten Religionen zu appelliren, die selbst in ihren Fundamenten zu Gelehrtenreligionen entartet sind: so dass der Mythus, die nothwendige Voraussetzung jeder Religion, bereits überall gelähmt ist, und selbst auf diesem Bereich jener optimistische Geist zur Herrschaft gekommen ist, den wir als den Vernichtungskeim unserer Gesellschaft eben bezeichnet haben.

Während das im Schoosse der theoretischen Cultur schlummernde Unheil allmählich den modernen Menschen zu ängstigen beginnt, und er, unruhig, aus dem Schatze seiner Erfahrungen nach Mitteln greift, um die Gefahr abzuwenden, ohne selbst an diese Mittel recht zu glauben; während er also seine eigenen Consequenzen zu ahnen beginnt: haben grosse allgemein angelegte Naturen, mit einer unglaublichen Besonnenheit, das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu benützen gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke entscheidend zu leugnen: bei welchem Nachweise zum ersten Male jene Wahnvorstellung als solche erkannt wurde, welche, an der Hand der Causalität, sich anmaasst, das innerste Wesen der Dinge ergründen zu können. Der ungeheuren Tapferkeit und Weisheit Kant's und Schopenhauer's ist der schwerste Sieg gelungen, der Sieg über den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus, der wiederum der Untergrund unserer Cultur ist. Wenn dieser an die Erkennbarkeit und Ergründlichkeit aller Welträthsel, gestützt auf die ihm unbedenklichen aeternae veritates, geglaubt und Raum, Zeit und Causalität als gänzlich unbedingte Gesetze von allgemeinster Gültigkeit behandelt hatte, offenbarte Kant, wie diese eigentlich nur dazu dienten, die blosse Erscheinung, das Werk der Maja, zur einzigen und höchsten Realität zu erheben und sie an die Stelle des innersten und wahren Wesens der Dinge zu setzen und die wirkliche Erkenntniss von diesem dadurch unmöglich zu machen, d.h., nach einem Schopenhauer'schen Ausspruche, den Träumer noch fester einzuschläfern (W. a. W. u. V. I, p. 498). Mit dieser Erkenntniss ist eine Cultur eingeleitet, welche ich als eine tragische zu bezeichnen wage: deren wichtigstes Merkmal ist, dass an die Stelle der Wissenschaft als höchstes Ziel die Weisheit gerückt wird, die sich, ungetäuscht durch die verführerischen Ablenkungen der Wissenschaften, mit unbewegtem Blicke dem Gesammtbilde der Welt zuwendet und in diesem das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfindung als das eigne Leiden zu ergreifen sucht. Denken wir uns eine heranwachsende Generation mit dieser Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem heroischen Zug ins Ungeheure, denken wir uns den kühnen Schritt dieser Drachentödter, die stolze Verwegenheit, mit der sie allen den Schwächlichkeitsdoctrinen jenes Optimismus den Rücken kehren, um im Ganzen und Vollen "resolut zu leben": sollte es nicht nöthig sein, dass der tragische Mensch dieser Cultur, bei seiner Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken, eine neue Kunst, die Kunst des metaphysischen Trostes, die Tragödie als die ihm zugehörige Helena begehren und mit Faust ausrufen muss:

 
Und sollt' ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt,
In's Leben ziehn die einzigste Gestalt?
 

Nachdem aber die sokratische Cultur von zwei Seiten aus erschüttert ist und das Scepter ihrer Unfehlbarkeit nur noch mit zitternden Händen zu halten vermag, einmal aus Furcht vor ihren eigenen Consequenzen, die sie nachgerade zu ahnen beginnt, sodann weil sie selbst von der ewigen Gültigkeit ihres Fundamentes nicht mehr mit dem früheren naiven Zutrauen überzeugt ist: so ist es ein trauriges Schauspiel, wie sich der Tanz ihres Denkens sehnsüchtig immer auf neue Gestalten stürzt, um sie zu umarmen, und sie dann plötzlich wieder, wie Mephistopheles die verführerischen Lamien, schaudernd fahren lässt. Das ist ja das Merkmal jenes "Bruches", von dem Jedermann als von dem Urleiden der modernen Cultur zu reden pflegt, dass der theoretische Mensch vor seinen Consequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht mehr wagt sich dem furchtbaren Eisstrome des Daseins anzuvertrauen: ängstlich läuft er am Ufer auf und ab. Er will nichts mehr ganz haben, ganz auch mit aller der natürlichen Grausamkeit der Dinge. Soweit hat ihn das optimistische Betrachten verzärtelt. Dazu fühlt er, wie eine Cultur, die auf dem Princip der Wissenschaft aufgebaut ist, zu Grunde gehen muss, wenn sie anfängt, unlogisch zu werden d.h. vor ihren Consequenzen zurück zu fliehen. Unsere Kunst offenbart diese allgemeine Noth: umsonst dass man sich an alle grossen productiven Perioden und Naturen imitatorisch anlehnt, umsonst dass man die ganze "Weltlitteratur" zum Troste des modernen Menschen um ihn versammelt und ihn mitten unter die Kunststile und Künstler aller Zeiten hinstellt, damit er ihnen, wie Adam den Thieren, einen Namen gebe: er bleibt doch der ewig Hungernde, der "Kritiker" ohne Lust und Kraft, der alexandrinische Mensch, der im Grunde Bibliothekar und Corrector ist und an Bücherstaub und Druckfehlern elend erblindet.

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Man kann den innersten Gehalt dieser sokratischen Cultur nicht schärfer bezeichnen, als wenn man sie die Cultur der Oper nennt: denn auf diesem Gebiete hat sich diese Cultur mit eigener Naivetät über ihr Wollen und Erkennen ausgesprochen, zu unserer Verwunderung, wenn wir die Genesis der Oper und die Thatsachen der Opernentwicklung mit den ewigen Wahrheiten des Apollinischen und des Dionysischen zusammenhalten. Ich erinnere zunächst an die Entstehung des stilo rappresentativo und des Recitativs. Ist es glaublich, dass diese gänzlich veräusserlichte, der Andacht unfähige Musik der Oper von einer Zeit mit schwärmerischer Gunst, gleichsam als die Wiedergeburt aller wahren Musik, empfangen und gehegt werden konnte, aus der sich soeben die unaussprechbar erhabene und heilige Musik Palestrina's erhoben hatte? Und wer möchte andrerseits nur die zerstreuungssüchtige Ueppigkeit jener Florentiner Kreise und die Eitelkeit ihrer dramatischen Sänger für die so ungestüm sich verbreitende Lust an der Oper verantwortlich machen? Dass in derselben Zeit, ja in demselben Volke neben dem Gewölbebau Palestrinischer Harmonien, an dem das gesammte christliche Mittelalter gebaut hatte, jene Leidenschaft für eine halbmusikalisch Sprechart erwachte, vermag ich mir nur aus einer im Wesen des Recitativs mitwirkenden ausserkünstlerischen Tendenz zu erklären.

Dem Zuhörer, der das Wort unter dem Gesange deutlich vernehmen will, entspricht der Sänger dadurch, dass er mehr spricht als singt und dass er den pathetischen Wortausdruck in diesem Halbgesange verschärft: durch diese Verschärfung des Pathos erleichtert er das Verständniss des Wortes und überwindet jene übrig gebliebene Hälfte der Musik. Die eigentliche Gefahr, die ihm jetzt droht, ist die, dass er der Musik einmal zur Unzeit das Obergewicht ertheilt, wodurch sofort Pathos der Rede und Deutlichkeit des Wortes zu Grunde gehen müsste: während er andrerseits immer den Trieb zu musikalischer Entladung und zu virtuosenhafter Präsentation seiner Stimme fühlt. Hier kommt ihm der "Dichter" zu Hülfe, der ihm genug Gelegenheiten zu lyrischen Interjectionen, Wort- und Sentenzenwiederholungen u.s.w. zu bieten weiss: an welchen Stellen der Sänger jetzt in dem rein musikalischen Elemente, ohne Rücksicht auf das Wort, ausruhen kann. Dieser Wechsel affectvoll eindringlicher, doch nur halb gesungener Rede und ganz gesungener Interjection, der im Wesen des stilo rappresentativo liegt, dies rasch wechselnde Bemühen, bald auf den Begriff und die Vorstellung, bald auf den musikalischen Grund des Zuhörers zu wirken, ist etwas so gänzlich Unnatürliches und den Kunsttrieben des Dionysischen und des Apollinischen in gleicher Weise so innerlich Widersprechendes, dass man auf einen Ursprung des Recitativs zu schliessen hat, der ausserhalb aller künstlerischen Instincte liegt. Das Recitativ ist nach dieser Schilderung zu definiren als die Vermischung des epischen und des lyrischen Vortrags und zwar keinesfalls die innerlich beständige Mischung, die bei so gänzlich disparaten Dingen nicht erreicht werden konnte, sondern die äusserlichste mosaikartige Conglutination, wie etwas Derartiges im Bereich der Natur und der Erfahrung gänzlich vorbildlos ist. Dies war aber nicht die Meinung jener Erfinder des Recitativs: vielmehr glauben sie selbst und mit ihnen ihr Zeitalter, dass durch jenen stilo rappresentativo das Geheimniss der antiken Musik gelöst sei, aus dem sich allein die ungeheure Wirkung eines Orpheus, Amphion, ja auch der griechischen Tragödie erklären lasse. Der neue Stil galt als die Wiedererweckung der wirkungsvollsten Musik, der altgriechischen: ja man durfte sich, bei der allgemeinen und ganz volksthümlichen Auffassung der homerischen Welt als der Urwelt, dem Traume überlassen, jetzt wieder in die paradiesischen Anfänge der Menschheit hinabgestiegen zu sein, in der nothwendig auch die Musik jene unübertroffne Reinheit, Macht und Unschuld gehabt haben müsste, von der die Dichter in ihren Schäferspielen so rührend zu erzählen wussten. Hier sehen wir in das innerlichste Werden dieser recht eigentlich modernen Kunstgattung, der Oper: ein mächtiges Bedürfniss erzwingt sich hier eine Kunst, aber ein Bedürfniss unaesthetischer Art: die Sehnsucht zum Idyll, der Glaube an eine urvorzeitliche Existenz des künstlerischen und guten Menschen. Das Recitativ galt als die wiederentdeckte Sprache jenes Urmenschen; die Oper als das wiederaufgefundene Land jenes idyllisch oder heroisch guten Wesens, das zugleich in allen seinen Handlungen einem natürlichen Kunsttriebe folgt, das bei allem, was es zu sagen hat, wenigstens etwas singt, um, bei der leisesten Gefühlserregung, sofort mit voller Stimme zu singen. Es ist für uns jetzt gleichgültig, dass mit diesem neugeschaffnen Bilde des paradiesischen Künstlers die damaligen Humanisten gegen die alte kirchliche Vorstellung vom an sich verderbten und verlornen Menschen ankämpften: so dass die Oper als das Oppositionsdogma vom guten Menschen zu verstehen ist, mit dem aber zugleich ein Trostmittel gegen jenen Pessimismus gefunden war, zu dem gerade die Ernstgesinnten jener Zeit, bei der grauenhaften Unsicherheit aller Zustände, am stärksten gereizt waren. Genug, wenn wir erkannt haben, wie der eigentliche Zauber und damit die Genesis dieser neuen Kunstform in der Befriedigung eines gänzlich unaesthetischen Bedürfnisses liegt, in der optimistischen Verherrlichung des Menschen an sich, in der Auffassung des Urmenschen als des von Natur guten und künstlerischen Menschen: welches Princip der Oper sich allmählich in eine drohende und entsetzliche Forderung umgewandelt hat, die wir, im Angesicht der socialistischen Bewegungen der Gegenwart, nicht mehr überhören können. Der "gute Urmensch" will seine Rechte: welche paradiesischen Aussichten!

Ich stelle daneben noch eine eben so deutliche Bestätigung meiner Ansicht, dass die Oper auf den gleichen Principien mit unserer alexandrinischen Cultur aufgebaut ist. Die Oper ist die Geburt des theoretischen Menschen, des kritischen Laien, nicht des Künstlers: eine der befremdlichsten Thatsachen in der Geschichte aller Künste. Es war die Forderung recht eigentlich unmusikalischer Zuhörer, dass man vor allem das Wort verstehen müsse: so dass eine Wiedergeburt der Tonkunst nur zu erwarten sei, wenn man irgend eine Gesangesweise entdecken werde, bei welcher das Textwort über den Contrapunkt wie der Herr über den Diener herrsche. Denn die Worte seien um so viel edler als das begleitende harmonische System, um wie viel die Seele edler als der Körper sei. Mit der laienhaft unmusikalischen Rohheit dieser Ansichten wurde in den Anfängen der Oper die Verbindung von Musik, Bild und Wort behandelt; im Sinne dieser Aesthetik kam es auch in den vornehmen Laienkreisen von Florenz, durch hier patronisirte Dichter und Sänger, zu den ersten Experimenten. Der kunstohnmächtige Mensch erzeugt sich eine Art von Kunst, gerade dadurch, dass er der unkünstlerische Mensch an sich ist. Weil er die dionysische Tiefe der Musik nicht ahnt, verwandelt er sich den Musikgenuss zur verstandesmässigen Wort- und Tonrhetorik der Leidenschaft im stilo rappresentativo und zur Wohllust der Gesangeskünste; weil er keine Vision zu schauen vermag, zwingt er den Maschinisten und Decorationskünstler in seinen Dienst; weil er das wahre Wesen des Künstlers nicht zu erfassen weiss, zaubert er vor sich den "künstlerischen Urmenschen" nach seinem Geschmack hin d.h. den Menschen, der in der Leidenschaft singt und Verse spricht. Er träumt sich in eine Zeit hinein, in der die Leidenschaft ausreicht, um Gesänge und Dichtungen zu erzeugen: als ob jeder Affect im Stande gewesen sei, etwas Künstlerisches zu schaffen. Die Voraussetzung der Oper ist ein falscher Glaube über den künstlerischen Prozess und zwar jener idyllische Glaube, dass eigentlich jeder empfindende Mensch Künstler sei. Im Sinne dieses Glaubens ist die Oper der Ausdruck des Laienthums in der Kunst, das seine Gesetze mit dem heitern Optimismus des theoretischen Menschen dictirt.

Sollten wir wünschen, die beiden eben geschilderten, bei der Entstehung der Oper wirksamen Vorstellungen unter einen Begriff zu vereinigen, so würde uns nur übrig bleiben, von einer idyllischen Tendenz der Oper zu sprechen: wobei wir uns allein der Ausdrucksweise und Erklärung Schillers zu bedienen hätten. Entweder, sagt dieser, ist die Natur und das Ideal ein Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren, dieses als unerreicht dargestellt wird. Oder beide sind ein Gegenstand der Freude, indem sie als wirklich vorgestellt werden. Das erste giebt die Elegie in engerer, das andere die Idylle in weitester Bedeutung. Hier ist nun sofort auf das gemeinsame Merkmal jener beiden Vorstellungen in der Operngenesis aufmerksam zu machen, dass in ihnen das Ideal nicht als unerreicht, die Natur nicht als verloren empfunden wird. Es gab nach dieser Empfindung eine Urzeit des Menschen, in der er am Herzen der Natur lag und bei dieser Natürlichkeit zugleich das Ideal der Menschheit, in einer paradiesischen Güte und Künstlerschaft, erreicht hatte: von welchem vollkommnen Urmenschen wir alle abstammen sollten, ja dessen getreues Ebenbild wir noch wären: nur müssten wir Einiges von uns werfen, um uns selbst wieder als diesen Urmenschen zu erkennen, vermöge einer freiwilligen Entäusserung von überflüssiger Gelehrsamkeit, von überreicher Cultur. Der Bildungsmensch der Renaissance liess sich durch seine opernhafte Imitation der griechischen Tragödie zu einem solchen Zusammenklang von Natur und Ideal, zu einer idyllischen Wirklichkeit zurückgeleiten, er benutzte diese Tragödie, wie Dante den Virgil benutzte, um bis an die Pforten des Paradieses geführt zu werden: während er von hier aus selbständig noch weiter schritt und von einer Imitation der höchsten griechischen Kunstform zu einer "Wiederbringung aller Dinge", zu einer Nachbildung der ursprünglichen Kunstwelt des Menschen überging. Welche zuversichtliche Gutmüthigkeit dieser verwegenen Bestrebungen, mitten im Schoosse der theoretischen Cultur! – einzig nur aus dem tröstenden Glauben zu erklären, dass "der Mensch an sich" der ewig tugendhafte Opernheld, der ewig flötende oder singende Schäfer sei, der sich endlich immer als solchen wiederfinden müsse, falls er sich selbst irgendwann einmal wirklich auf einige Zeit verloren habe, einzig die Frucht jenes Optimismus, der aus der Tiefe der sokratischen Weltbetrachtung hier wie eine süsslich verführerische Duftsäule emporsteigt.

Es liegt also auf den Zügen der Oper keinesfalls jener elegische Schmerz eines ewigen Verlustes, vielmehr die Heiterkeit des ewigen Wiederfindens, die bequeme Lust an einer idyllischen Wirklichkeit, die man wenigstens sich als wirklich in jedem Augenblicke vorstellen kann: wobei man vielleicht einmal ahnt, dass diese vermeinte Wirklichkeit nichts als ein phantastisch läppisches Getändel ist, dem jeder, der es an dem furchtbaren Ernst der wahren Natur zu messen und mit den eigentlichen Urscenen der Menschheitsanfänge zu vergleichen vermöchte, mit Ekel zurufen müsste: Weg mit dem Phantom! Trotzdem würde man sich täuschen, wenn man glaubte, ein solches tändelndes Wesen, wie die Oper ist, einfach durch einen kräftigen Anruf, wie ein Gespenst, verscheuchen zu können. Wer die Oper vernichten will, muss den Kampf gegen jene alexandrinische Heiterkeit aufnehmen, die sich in ihr so naiv über ihre Lieblingsvorstellung ausspricht, ja deren eigentliche Kunstform sie ist. Was ist aber für die Kunst selbst von dem Wirken einer Kunstform zu erwarten, deren Ursprünge überhaupt nicht im aesthetischen Bereiche liegen, die sich vielmehr aus einer halb moralischen Sphäre auf das künstlerische Gebiet hinübergestohlen hat und über diese hybride Entstehung nur hier und da einmal hinwegzutäuschen vermochte? Von welchen Säften nährt sich dieses parasitische Opernwesen, wenn nicht von denen der wahren Kunst? Wird nicht zu muthmaassen sein, dass, unter seinen idyllischen Verführungen, unter seinen alexandrinischen Schmeichelkünsten, die höchste und wahrhaftig ernst zu nennende Aufgabe der Kunst – das Auge vom Blick in's Grauen der Nacht zu erlösen und das Subject durch den heilenden Balsam des Scheins aus dem Krampfe der Willensregungen zu retten – zu einer leeren und zerstreuenden Ergetzlichkeitstendenz entarten werde? Was wird aus den ewigen Wahrheiten des Dionysischen und des Apollinischen, bei einer solchen Stilvermischung, wie ich sie am Wesen des stilo rappresentativo dargelegt habe? wo die Musik als Diener, das Textwort als Herr betrachtet, die Musik mit dem Körper, das Textwort mit der Seele verglichen wird? wo das höchste Ziel bestenfalls auf eine umschreibende Tonmalerei gerichtet sein wird, ähnlich wie ehedem im neuen attischen Dithyrambus? wo der Musik ihre wahre Würde, dionysischer Weltspiegel zu sein, völlig entfremdet ist, so dass ihr nur übrig bleibt, als Sclavin der Erscheinung, das Formenwesen der Erscheinung nachzuahmen und in dem Spiele der Linien und Proportionen eine äusserliche Ergetzung zu erregen. Einer strengen Betrachtung fällt dieser verhängnissvolle Einfluss der Oper auf die Musik geradezu mit der gesammten modernen Musikentwicklung zusammen; dem in der Genesis der Oper und im Wesen der durch sie repräsentirten Cultur lauernden Optimismus ist es in beängstigender Schnelligkeit gelungen, die Musik ihrer dionysischen Weltbestimmung zu entkleiden und ihr einen formenspielerischen, vergnüglichen Charakter aufzuprägen: mit welcher Veränderung nur etwa die Metamorphose des aeschyleischen Menschen in den alexandrinischen Heiterkeitsmenschen verglichen werden dürfte.

Wenn wir aber mit Recht in der hiermit angedeuteten Exemplification das Entschwinden des dionysischen Geistes mit einer höchst auffälligen, aber bisher unerklärten Umwandlung und Degeneration des griechischen Menschen in Zusammenhang gebracht haben – welche Hoffnungen müssen in uns aufleben, wenn uns die allersichersten Auspicien den umgekehrten Prozess, das allmähliche Erwachen des dionysischen Geistes in unserer gegenwärtigen Welt, verbürgen! Es ist nicht möglich, dass die göttliche Kraft des Herakles ewig im üppigen Frohndienste der Omphale erschlafft. Aus dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die mit den Urbedingungen der sokratischen Cultur nichts gemein hat und aus ihnen weder zu erklären noch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser Cultur als das Schrecklich Unerklärliche, als das Uebermächtig-Feindselige empfunden wird, die deutsche Musik, wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben. Was vermag die erkenntnisslüsterne Sokratik unserer Tage günstigsten Falls mit diesem aus unerschöpflichen Tiefen emporsteigenden Dämon zu beginnen? Weder von dem Zacken- und Arabeskenwerk der Opernmelodie aus, noch mit Hülfe des arithmetischen Rechenbretts der Fuge und der contrapunktischen Dialektik will sich die Formel finden lassen, in deren dreimal gewaltigem Licht man jenen Dämon sich unterwürfig zu machen und zum Reden zu zwingen vermöchte. Welches Schauspiel, wenn jetzt unsere Aesthetiker, mit dem Fangnetz einer ihnen eignen "Schönheit", nach dem vor ihnen mit unbegreiflichem Leben sich tummelnden Musikgenius schlagen und haschen, unter Bewegungen, die nach der ewigen Schönheit ebensowenig als nach dem Erhabenen beurtheilt werden wollen. Man mag sich nur diese Musikgönner einmal leibhaft und in der Nähe besehen, wenn sie so unermüdlich Schönheit! Schönheit! rufen, ob sie sich dabei wie die im Schoosse des Schönen gebildeten und verwöhnten Lieblingskinder der Natur ausnehmen oder ob sie nicht vielmehr für die eigne Rohheit eine lügnerisch verhüllende Form, für die eigne empfindungsarme Nüchternheit einen aesthetischen Vorwand suchen: wobei ich z.B. an Otto Jahn denke. Vor der deutschen Musik aber mag sich der Lügner und Heuchler in Acht nehmen: denn gerade sie ist, inmitten aller unserer Cultur, der einzig reine, lautere und läuternde Feuergeist, von dem aus und zu dem hin, wie in der Lehre des grossen Heraklit von Ephesus, sich alle Dinge in doppelter Kreisbahn bewegen: alles, was wir jetzt Cultur, Bildung, Civilisation nennen, wird einmal vor dem untrüglichen Richter Dionysus erscheinen müssen.

Erinnern wir uns sodann, wie dem aus gleichen Quellen strömenden Geiste der deutschen Philosophie, durch Kant und Schopenhauer, es ermöglicht war, die zufriedne Daseinslust der wissenschaftlichen Sokratik, durch den Nachweis ihrer Grenzen, zu vernichten, wie durch diesen Nachweis eine unendlich tiefere und ernstere Betrachtung der ethischen Fragen und der Kunst eingeleitet wurde, die wir geradezu als die in Begriffe gefasste dionysische Weisheit bezeichnen können: wohin weist uns das Mysterium dieser Einheit zwischen der deutschen Musik und der deutschen Philosophie, wenn nicht auf eine neue Daseinsform, über deren Inhalt wir uns nur aus hellenischen Analogien ahnend unterrichten können? Denn diesen unausmessbaren Werth behält für uns, die wir an der Grenzscheide zweier verschiedener Daseinsformen stehen, das hellenische Vorbild, dass in ihm auch alle jene Uebergänge und Kämpfe zu einer classisch-belehrenden Form ausgeprägt sind: nur dass wir gleichsam in umgekehrter Ordnung die grossen Hauptepochen des hellenischen Wesens analogisch durcherleben und zum Beispiel jetzt aus dem alexandrinischen Zeitalter rückwärts zur Periode der Tragödie zu schreiten scheinen. Dabei lebt in uns die Empfindung, als ob die Geburt eines tragischen Zeitalters für den deutschen Geist nur eine Rückkehr zu sich selbst, ein seliges Sichwiederfinden zu bedeuten habe, nachdem für eine lange Zeit ungeheure von aussen her eindringende Mächte den in hülfloser Barbarei der Form dahinlebenden zu einer Knechtschaft unter ihrer Form gezwungen hatten. Jetzt endlich darf er, nach seiner Heimkehr zum Urquell seines Wesens, vor allen Völkern kühn und frei, ohne das Gängelband einer romanischen Civilisation, einherzuschreiten wagen: wenn er nur von einem Volke unentwegt zu lernen versteht, von dem überhaupt lernen zu können schon ein hoher Ruhm und eine auszeichnende Seltenheit ist, von den Griechen. Und wann brauchten wir diese allerhöchsten Lehrmeister mehr als jetzt, wo wir die Wiedergeburt der Tragödie erleben und in Gefahr sind, weder zu wissen, woher sie kommt, noch uns deuten zu können, wohin sie will?

Yaş sınırı:
12+
Litres'teki yayın tarihi:
30 eylül 2017
Hacim:
190 s. 1 illüstrasyon
Telif hakkı:
Public Domain