Kitabı oku: «Götzen-Dämmerung», sayfa 2
Wie die "wahre Welt" endlich zur Fabel wurde
Geschichte eines Irrthums.
1. Die wahre Welt erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, – er lebt in ihr, er ist sie.
(Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend.
Umschreibung des Satzes "ich, Plato, bin die Wahrheit".)
2. Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften ("für den Sünder, der Busse thut").
(Fortschritt der Idee: sie wird feiner, verfänglicher, unfasslicher, – sie wird Weib, sie wird christlich… )
3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ.
(Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch.)
4. Die wahre Welt – unerreichbar? jedenfalls unerreicht. Und als unerreicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpflichtend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichten?..
(Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Positivismus.)
5. Die "wahre Welt" – eine Idee, die zu Nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpflichtend, – eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab!
(Heller Tag; Frühstück; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit;
Schamröthe Plato's; Teufelslärm aller freien Geister.)
6. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht?.. Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!
(Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrthums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA.)
Moral als Widernatur
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Alle Passionen haben eine Zeit, wo sie bloss verhängnissvoll sind, wo sie mit der Schwere der Dummheit ihr Opfer hinunterziehen – und eine spätere, sehr viel spätere, wo sie sich mit dem Geist verheirathen, sich "vergeistigen". Ehemals machte man, wegen der Dummheit in der Passion, der Passion selbst den Krieg: man verschwor sich zu deren Vernichtung, – alle alten Moral-Unthiere sind einmüthig darüber "il faut tuer les passions." Die berühmteste Formel dafür steht im neuen Testament, in jener Bergpredigt, wo, anbei gesagt, die Dinge durchaus nicht aus der Höhe betrachtet werden. Es wird daselbst zum Beispiel mit Nutzanwendung auf die Geschlechtlichkeit gesagt "wenn dich dein Auge ärgert, so reisse es aus": zum Glück handelt kein Christ nach dieser Vorschrift. Die Leidenschaften und Begierden vernichten, bloss um ihrer Dummheit und den unangenehmen Folgen ihrer Dummheit vorzubeugen, erscheint uns heute selbst bloss als eine akute Form der Dummheit. Wir bewundern die Zahnärzte nicht mehr, welche die Zähne ausreissen, damit sie nicht mehr weh thun… Mit einiger Billigkeit werde andrerseits zugestanden, dass auf dem Boden, aus dem das Christenthum gewachsen ist, der Begriff "Vergeistigung der Passion" gar nicht concipirt werden konnte. Die erste Kirche kämpfte ja, wie bekannt, gegen die "Intelligenten" zu Gunsten der "Armen des Geistes": wie dürfte man von ihr einen intelligenten Krieg gegen die Passion erwarten? – Die Kirche bekämpft die Leidenschaft mit Ausschneidung in jedem Sinne: ihre Praktik, ihre "Kur" ist der Castratismus. Sie fragt nie: "wie vergeistigt, verschönt, vergöttlicht man eine Begierde?" – sie hat zu allen Zeiten den Nachdruck der Disciplin auf die Ausrottung (der Sinnlichkeit, des Stolzes, der Herrschsucht, der Habsucht, der Rachsucht) gelegt. – Aber die Leidenschaften an der Wurzel angreifen heisst das Leben an der Wurzel angreifen: die Praxis der Kirche ist lebensfeindlich…
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Dasselbe Mittel, Verschneidung, Ausrottung, wird instinktiv im Kampfe mit einer Begierde von Denen gewählt, welche zu willensschwach, zu degenerirt sind, um sich ein Maass in ihr auflegen zu können: von jenen Naturen, die la Trappe nöthig haben, im Gleidiniss gesprochen (und ohne Gleichniss – ), irgend eine endgültige Feindschafts-Erklärung, eine Kluft zwischen sich und einer Passion. Die radikalen Mittel sind nur den Degenerirten unentbehrlich; die Schwäche des Willens, bestinunter geredet, die Unfähigkeit, auf einen Reiz nicht zu reagiren, ist selbst bloss eine andre Form der Degenerescenz. Die radikale Feindschaft, die Todfeindschaft gegen die Sinnlichkeit bleibt ein nachdenkliches Symptom: man ist damit zu Vermuthungen über den Gesammt-Zustand eines dergestalt Excessiven berechtigt. – Jene Feindschaft, jener Hass kommt übrigens erst auf seine Spitze, wenn solche Naturen selbst zur Radikal-Kur, zur Absage von ihrem "Teufel" nicht mehr Festigkeit genug haben. Man überschaue die ganze Geschichte der Priester und Philosophen, der Künstler hinzugenommen: das Giftigste gegen die Sinne ist nicht von den Impotenten gesagt, auch nicht von den Asketen, sondern von den unmöglichen Asketen, von Solchen, die es nöthig gehabt hätten, Asketen zu sein…
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Die Vergeistigung der Sinnlichkeit heisst Liebe: sie ist ein grosser Triumph über das Christenthum. Ein andrer Triumph ist unsre Vergeistigung der Feindschaft. Sie besteht darin, dass man tief den Werth begreift, den es hat, Feinde zu haben: kurz, dass man umgekehrt thut und schliesst als man ehedem that und schloss. Die Kirche wollte zu allen Zeiten die Vernichtung ihrer Feinde: wir, wir Immoralisten und Antichristen, sehen unsern Vortheil darin, dass die Kirche besteht… Auch im Politischen ist die Feindschaft jetzt geistiger geworden, – viel klüger, viel nachdenklicher, viel schonender. Fast jede Partei begreift ihr Selbsterhaltungs-Interesse darin, dass die Gegenpartei nicht von Kräften kommt; dasselbe gilt von der grossen Politik. Eine neue Schöpfung zumal, etwa das neue Reich, hat Feinde nöthiger als Freunde: im Gegensatz erst fühlt es sich nothwendig, im Gegensatz wird es erst nothwendig… Nicht anders verhalten wir uns gegen den "inneren Feind": auch da haben wir die Feindschaft vergeistigt, auch da haben wir ihren Werth begriffen. Man ist nur fruchtbar um den Preis, an Gegensätzen reich zu sein; man bleibt nur jung unter der Voraussetzung, dass die Seele nicht sich streckt, nicht nach Frieden begehrt… Nichts ist uns fremder geworden als jene Wünschbarkeit von Ehedem, die vom "Frieden der Seele", die christliche Wünschbarkeit; Nichts macht uns weniger Neid als die Moral-Kuh und das fette Glück des guten Gewissens. Man hat auf das grosse Leben verzichtet, wenn man auf den Krieg verzichtet… In vielen Fällen freilich ist der "Frieden der Seele" bloss ein Missverständniss, – etwas Anderes, das sich nur nicht ehrlicher zu benennen weiss. Ohne Umschweif und Vorurtheil ein paar Fälle. "Frieden der Seele" kann zum Beispiel die sanfte Ausstrahlung einer reichen Animalität in's Moralische (oder Religiöse) sein. Oder der Anfang der Müdigkeit, der erste Schatten, den der Abend, jede Art Abend wirft. Oder ein Zeichen davon, dass die Luft feucht ist, dass Südwinde herankommen. Oder die Dankbarkeit wider Wissen für eine glückliche Verdauung ("Menschenliebe" mitunter genannt). Oder das Stille-werden des Genesenden, dem alle Dinge neu schmecken und der wartet… Oder der Zustand, der einer starken Befriedigung unsrer herrschenden Leidenschaft folgt, das Wohlgefühl einer seltnen Sattheit. Oder die Altersschwäche unsres Willens, unsrer Begehrungen, unsrer Laster. Oder die Faulheit, von der Eitelkeit überredet, sich moralisch aufzuputzen. Oder der Eintritt einer Gewissheit, selbst furchtbaren Gewissheit, nach einer langen Spannung und Marterung durch die Ungewissheit. Oder der Ausdruck der Reife und Meisterschaft mitten im Thun, Schaffen, Wirken, Wollen, das ruhige Athmen, die erreichte "Freiheit des Willens"… Götzen-Dämmerung: wer weiss? vielleicht auch nur eine Art "Frieden der Seele"…
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– Ich bringe ein Princip in Formel. Jeder Naturalismus in der Moral, das heisst jede gesunde Moral ist von einem Instinkte des Lebens beherrscht, – irgend ein Gebot des Lebens wird mit einem bestimmten Kanon von "Soll" und "Soll nicht" erfüllt, irgend eine Hemmung und Feindseligkeit auf dem Wege des Lebens wird damit bei Seite geschafft. Die widernatürliche Moral, das heisst fast jede Moral, die bisher gelehrt, verehrt und gepredigt worden ist, wendet sich umgekehrt gerade gegen die Instinkte des Lebens, – sie ist eine bald heimliche, bald laute und freche Verurtheilung dieser Instinkte. Indem sie sagt "Gott sieht das Herz an", sagt sie Nein zu den untersten und obersten Begehrungen des Lebens und nimmt Gott als Feind des Lebens… Der Heilige, an dem Gott sein Wohlgefallen hat, ist der ideale Castrat… Das Leben ist zu Ende, wo das "Reich Gottes" anfängt…
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Gesetzt, dass man das Frevelhafte einer solchen Auflehnung gegen das Leben begriffen hat, wie sie in der christlichen Moral beinahe sakrosankt geworden ist, so hat man damit, zum Glück, auch Etwas Andres begriffen: das Nutzlose, Scheinbare, Absurde, Lügnerische einer solchen Auflehnung. Eine Verurtheilung des Lebens von Seiten des Lebenden bleibt zuletzt doch nur das Symptom einer bestimmten Art von Leben: die Frage, ob mit Recht, ob mit Unrecht, ist gar nicht damit aufgeworfen. Man müsste eine Stellung ausserhalb des Lebens haben, und andrerseits es so gut kennen, wie Einer, wie Viele, wie Alle, die es gelebt haben, um das Problem vom Werth des Lebens überhaupt anrühren zu dürfen: Gründe genug, um zu begreifen, dass das Problem ein für uns unzugängliches Problem ist. Wenn wir von Werthen reden, reden wir unter der Inspiration, unter der Optik des Lebens: das Leben selbst zwingt uns Werthe anzusetzen, das Leben selbst werthet durch uns, wenn wir Werthe ansetzen… Daraus folgt, dass auch jene Widernatur von Moral, welche Gott als Gegenbegriff und Verurtheilung des Lebens fasst, nur ein Werthurtheil des Lebens ist – welches Lebens? Welcher Art von Leben? – Aber ich gab schon die Antwort: des niedergehenden, des geschwächten, des müden, des verurtheilten Lebens. Moral, wie sie bisher verstanden worden ist – wie sie zuletzt noch von Schopenhauer formulirt wurde als "Verneinung des Willens zum Leben" – ist der décadence-Instinkt selbst, der aus sich einen Imperativ macht: sie sagt: "geh zu Grunde" sie ist das Urtheil Verurtheilter…
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Erwägen wir endlich noch, welche Naivetät es überhaupt ist, zu sagen "so und so sollte der Mensch sein!" Die Wirklichkeit zeigt uns einen entzückenden Reichthum der Typen, die Üppigkeit eines verschwenderischen Formenspiels und – Wechsels: und irgend ein armseliger Eckensteher von Moralist sagt dazu: "nein! der Mensch sollte anders sein"?.. Er weiss es sogar, wie er sein sollte, dieser Schlucker und Mucker, er malt sich an die Wand und sagt dazu "ecce homo!"… Aber selbst wenn der Moralist sich bloss an den Einzelnen wendet und zu ihm sagt: "so und so solltest du sein!" hört er nicht auf, sich lächerlich zu machen. Der Einzelne ist ein Stück fatum, von Vorne und von Hinten, ein Gesetz mehr, eine Nothwendigkeit mehr für Alles, was kommt und sein wird. Zu ihm sagen "ändere dich" heisst verlangen, dass Alles sich ändert, sogar rückwärts noch… Und wirklich, es gab consequente Moralisten, sie wollten den Menschen anders, nämlich tugendhaft, sie wollten ihn nach ihrem Bilde, nämlich als Mucker: dazu verneinten sie die Welt! Keine kleine Tollheit! Keine bescheidne Art der Unbescheidenheit!.. Die Moral, insofern sie verurtheilt, an sich, nicht aus Hinsichten, Rücksichten, Absichten des Lebens, ist ein spezifischer Irrthum, mit dem man kein Mitleiden haben soll, eine Degenerirten-Idiosynkrasie, die unsäglich viel Schaden gestiftet hat!.. Wir Anderen, wir Immoralisten, haben umgekehrt unser Herz weit gemacht für alle Art Verstehn, Begreifen, Gutheissen. Wir verneinen nicht leicht, wir suchen unsre Ehre darin, Bejahende zu sein. Immer mehr ist uns das Auge für jene Ökonomie aufgegangen, welche alles Das noch braucht und auszunützen weiss, was der heilige Aberwitz des Priesters, der kranken Vernunft im Priester verwirft, für jene Ökonomie im Gesetz des Lebens, die selbst aus der widerlichen species des Muckers, des Priesters, des Tugendhaften ihren Vortheil zieht, – welchen Vortheil? – Aber wir selbst, wir Immoralisten sind hier die Antwort… -
Die vier grossen Irrthümer
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Irrthum der Verwechslung von Ursache und Folge. – Es giebt keinen gefährlicheren Irrthum als die Folge mit der Ursache zu verwechseln: ich heisse ihn die eigentliche Verderbniss der Vernunft. Trotzdem gehört dieser Irrthum zu den ältesten und jüngsten Gewohnheiten der Menschheit: er ist selbst unter uns geheiligt, er trägt den Namen "Religion", "Moral". Jeder Satz, den die Religion und die Moral formulirt, enthält ihn; Priester und Moral-Gesetzgeber sind die Urheber jener Verderbniss der Vernunft. – Ich nehme ein Beispiel: Jedermann kennt das Buch des berühmten Cornaro, in dem er seine schmale Diät als Recept zu einem langen und glücklichen Leben – auch tugendhaften – anräth. Wenige Bücher sind so viel gelesen worden, noch jetzt wird es in England jährlich in vielen Tausenden von Exemplaren gedruckt. Ich zweifle nicht daran, dass kaum ein Buch (die Bibel, wie billig, ausgenommen) so viel Unheil gestiftet, so viele Leben verkürzt hat wie dies so wohlgemeinte Curiosum. Grund dafür: die Verwechslung der Folge mit der Ursache. Der biedere Italiäner sah in seiner Diät die Ursache seines langen Lebens: während die Vorbedingung zum langen Leben, die ausserordentliche Langsamkeit des Stoffwechsels, der geringe Verbrauch, die Ursache seiner schmalen Diät war. Es stand ihm nicht frei, wenig oder viel zu essen, seine Frugalität war nicht ein "freier Wille": er wurde krank, wenn er mehr ass. Wer aber kein Karpfen ist, thut nicht nur gut, sondern hat es nöthig, ordentlich zu essen. Ein Gelehrter unsrer Tage, mit seinem rapiden Verbrauch an Nervenkraft, würde sich mit dem régime Cornaro's zu Grunde richten. Crede experto.
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Die allgemeinste Formel, die jeder Religion und Moral zu Grunde liegt, heisst: "Thue das und das, lass das und das – so wirst du glücklich! Im andern Falle…" Jede Moral, jede Religion ist dieser Imperativ, – ich nenne ihn die grosse Erbsünde der Vernunft, die unsterbliche Unvernunft. In meinem Munde verwandelt sich jene Formel in ihre Umkehrung – erstes Beispiel meiner "Umwerthung aller Werthe": ein wohlgerathener Mensch, ein "Glücklicher", muss gewisse Handlungen thun und scheut sich instinktiv vor anderen Handlungen, er trägt die Ordnung, die er physiologisch darstellt, in seine Beziehungen zu Menschen und Dingen hinein. In Formel: seine Tugend ist die Folge seines Glücks… Langes Leben, eine reiche Nachkommenschaft ist nicht der Lohn der Tugend, die Tugend ist vielmehr selbst jene Verlangsamung des Stoffwechsels, die, unter Anderem, auch ein langes Leben, eine reiche Nachkommenschaft, kurz den Cornarismus im Gefolge hat. – Die Kirche und die Moral sagen: "ein Geschlecht, ein Volk wird durch Laster und Luxus zu Grunde gerichtet." Meine wiederhergestellte Vernunft sagt: wenn ein Volk zu Grunde geht, physiologisch degenerirt, so folgen daraus Laster und Luxus (das heisst das Bedürfniss nach immer stärkeren und häufigeren Reizen, wie sie jede erschöpfte Natur kennt). Dieser junge Mann wird frühzeitig blass und welk. Seine Freunde sagen: daran ist die und die Krankheit schuld. Ich sage: dass er krank wurde, dass er der Krankheit nicht widerstand, war bereits die Folge eines verarmten Lebens, einer hereditären Erschöpfung. Der Zeitungsleser sagt: diese Partei richtet sich mit einem solchen Fehler zu Grunde. Meine höhere Politik sagt: eine Partei, die solche Fehler macht, ist am Ende – sie hat ihre Instinkt-Sicherheit nicht mehr. Jeder Fehler in jedem Sinne ist die Folge von Instinkt-Entartung, von Disgregation des Willens: man definirt beinahe damit das Schlechte. Alles Gute ist Instinkt – und, folglich, leicht, nothwendig, frei. Die Mühsal ist ein Einwand, der Gott ist typisch vom Helden unterschieden (in meiner Sprache: die leichten Füsse das erste Attribut der Göttlichkeit).
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Irrthum einer falschen Ursächlichkeit. – Man hat zu allen Zeiten geglaubt, zu wissen, was eine Ursache ist: aber woher nahmen wir unser Wissen, genauer, unsern Glauben, hier zu wissen? Aus dem Bereich der berühmten "inneren Thatsachen", von denen bisher keine sich als thatsächlich erwiesen hat. Wir glaubten uns selbst im Akt des Willens ursächlich; wir meinten da wenigstens die Ursächlichkeit auf der That zu ertappen. Man zweifelte insgleichen nicht daran, dass alle antecedentia einer Handlung, ihre Ursachen, im Bewusstsein zu suchen seien und darin sich wiederfänden, wenn man sie suche – als "Motive": man wäre ja sonst zu ihr nicht frei, für sie nicht verantwortlich gewesen. Endlich, wer hätte bestritten, dass ein Gedanke verursacht wird? dass das Ich den Gedanken verursacht?.. Von diesen drei "inneren Thatsachen", mit denen sich die Ursächlichkeit zu verbürgen schien, ist die erste und überzeugendste die vom Willen als Ursache; die Conception eines Bewusstseins ("Geistes") als Ursache und später noch die des Ich (des "Subjekts") als Ursache sind bloss nachgeboren, nachdem vom Willen die Ursächlichkeit als gegeben feststand, als Empirie… Inzwischen haben wir uns besser besonnen. Wir glauben heute kein Wort mehr von dem Allen. Die "innere Welt" ist voller Trugbilder und Irrlichter: der Wille ist eins von ihnen. Der Wille bewegt nichts mehr, erklärt folglich auch nichts mehr – er begleitet bloss Vorgänge, er kann auch fehlen. Das sogenannte "Motiv": ein andrer Irrthum. Bloss ein Oberflächenphänomen des Bewusstseins, ein Nebenher der That, das eher noch die antecedentia einer That verdeckt, als dass es sie darstellt. Und gar das Ich! Das ist zur Fabel geworden, zur Fiktion, zum Wortspiel: das hat ganz und gar aufgehört, zu denken, zu fühlen und zu wollen!.. Was folgt daraus? Es giebt gar keine geistigen Ursachen! Die ganze angebliche Empirie dafür gieng zum Teufel! Das folgt daraus! – Und wir hatten einen artigen Missbrauch mit jener "Empirie" getrieben, wir hatten die Welt daraufhin geschaffen als eine Ursachen-Welt, als eine Willens-Welt, als eine Geister-Welt. Die älteste und längste Psychologie war hier am Werk, sie hat gar nichts Anderes gethan: alles Geschehen war ihr ein Thun, alles Thun Folge eines Willens, die Welt wurde ihr eine Vielheit von Thätern, ein Thäter (ein "Subjekt") schob sich allem Geschehen unter. Der Mensch hat seine drei "inneren Thatsachen", Das, woran er am festesten glaubte, den Willen, den Geist, das Ich, aus sich herausprojicirt, – er nahm erst den Begriff Sein aus dem Begriff Ich heraus, er hat die "Dinge" als seiend gesetzt nach seinem Bilde, nach seinem Begriff des Ichs als Ursache. Was Wunder, dass er später in den Dingen immer nur wiederfand, was er in sie gesteckt hatte? – Das Ding selbst, nochmals gesagt, der Begriff Ding, ein Reflex bloss vom Glauben an's Ich als Ursache… Und selbst noch Ihr Atom, meine Herren Mechanisten und Physiker, wie viel Irrthum, wie viel rudimentäre Psychologie ist noch in Ihrem Atom rückständig! – Gar nicht zu reden vom "Ding an sich", vom horrendum pudendum der Metaphysiker! Der Irrthum vom Geist als Ursache mit der Realität verwechselt! Und zum Maass der Realität gemacht! Und Gott genannt!
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Irrthum der imaginären Ursachen. – Vom Traume auszugehn: einer bestimmten Empfindung, zum Beispiel in Folge eines fernen Kanonenschusses, wird nachträglich eine Ursache untergeschoben (oft ein ganzer kleiner Roman, in dem gerade der Träumende die Hauptperson ist). Die Empfindung dauert inzwischen fort, in einer Art von Resonanz: sie wartet gleichsam, bis der Ursachentrieb ihr erlaubt, in den Vordergrund zu treten, – nunmehr nicht mehr als Zufall, sondern als "Sinn". Der Kanonenschuss tritt in einer causalen Weise auf, in einer anscheinenden Umkehrung der Zeit. Das Spätere, die Motivirung, wird zuerst erlebt, oft mit hundert Einzelnheiten, die wie im Blitz vorübergehn, der Schuss folgt… Was ist geschehen? Die Vorstellungen, welche ein gewisses Befinden erzeugte, wurden als Ursache desselben missverstanden. – Thatsächlich machen wir es im Wachen ebenso. Unsre meisten Allgemeingefühle – jede Art Hemmung, Druck, Spannung, Explosion im Spiel und Gegenspiel der Organe, wie in Sonderheit der Zustand des nervus sympathicus – erregen unsern Ursachentrieb: wir wollen einen Grund haben, uns so und so zu befinden, – uns schlecht zu befinden oder gut zu befinden. Es genügt uns niemals, einfach bloss die Thatsache, dass wir uns so und so befinden, festzustellen: wir lassen diese Thatsache erst zu, – werden ihrer bewusst – , wenn wir ihr eine Art Motivirung gegeben haben. – Die Erinnerung, die in solchem Falle, ohne unser Wissen, in Thätigkeit tritt, führt frühere Zustände gleicher Art und die damit verwachsenen Causal-Interpretationen herauf, – nicht deren Ursächlichkeit. Der Glaube freilich, dass die Vorstellungen, die begleitenden Bewusstseins-Vorgänge die Ursachen gewesen seien, wird durch die Erinnerung auch mit heraufgebracht. So entsteht eine Gewöhnung an eine bestimmte Ursachen-Interpretation, die in Wahrheit eine Erforschung der Ursache hemmt und selbst ausschliesst.
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Psychologische Erklärung dazu. – Etwas Unbekanntes auf etwas Bekanntes zurückführen, erleichtert, beruhigt, befriedigt, giebt ausserdem ein Gefühl von Macht. Mit dem Unbekannten ist die Gefahr, die Unruhe, die Sorge gegeben, – der erste Instinkt geht dahin, diese peinlichen Zustände wegzuschaffen. Erster Grundsatz: irgend eine Erklärung ist besser als keine. Weil es sich im Grunde nur um ein Loswerdenwollen drückender Vorstellungen handelt, nimmt man es nicht gerade streng mit den Mitteln, sie loszuwerden: die erste Vorstellung, mit der sich das Unbekannte als bekannt erklärt, thut so wohl, dass man sie "für wahr hält". Beweis der Lust ("der Kraft") als Criterium der Wahrheit. – Der Ursachen-Trieb ist also bedingt und erregt durch das Furchtgefühl. Das "Warum?" soll, wenn irgend möglich, nicht sowohl die Ursache um ihrer selber willen geben, als vielmehr eine Art von Ursache – eine beruhigende, befreiende, erleichternde Ursache. Dass etwas schon Bekanntes, Erlebtes, in die Erinnerung Eingeschriebenes als Ursache angesetzt wird, ist die erste Folge dieses Bedürfnisses. Das Neue, das Unerlebte, das Fremde wird als Ursache ausgeschlossen. – Es wird also nicht nur eine Art von Erklärungen als Ursache gesucht, sondern eine ausgesuchte und bevorzugte Art von Erklärungen, die, bei denen am schnellsten, am häufigsten das Gefühl des Fremden, Neuen, Unerlebten weggeschafft worden ist, – die gewöhnlichsten Erklärungen. – Folge: eine Art von Ursachen-Setzung überwiegt immer mehr, concentrirt sich zum System und tritt endlich dominirend hervor, das heisst andere Ursachen und Erklärungen einfach ausschliessend. – Der Banquier denkt sofort an's "Geschäft", der Christ an die "Sünde", das Mädchen an seine Liebe.
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Der ganze Bereich der Moral und Religion gehört unter diesen Begriff der imaginären Ursachen. – "Erklärung" der unangenehmen Allgemeingefühle. Dieselben sind bedingt durch Wesen, die uns feind sind (böse Geister: berühmtester Fall – Missverständniss der Hysterischen als Hexen). Dieselben sind bedingt durch Handlungen, die nicht zu billigen sind (das Gefühl der "Sünde", der "Sündhaftigkeit" einem physiologischen Missbehagen untergeschoben – man findet immer Gründe, mit sich unzufrieden zu sein). Dieselben sind bedingt als Strafen, als eine Abzahlung für Etwas, das wir nicht hätten thun, das wir nicht hätten sein sollen (in impudenter Form von Schopenhauer zu einem Satze verallgemeinert, in dem die Moral als Das erscheint, was sie ist, als eigentliche Giftmischerin und Verleumderin des Lebens: "jeder grosse Schmerz, sei er leiblich, sei er geistig, sagt aus, was wir verdienen; denn er könnte nicht an uns kommen, wenn wir ihn nicht verdienten." Welt als Wille und Vorstellung, 2, 666). Dieselben sind bedingt als Folgen unbedachter, schlimm auslaufender Handlungen (die Affekte, die Sinne als Ursache, als "schuld" angesetzt; physiologische Nothstände mit Hülfe anderer Nothstände als "verdient" ausgelegt). – "Erklärung" der angenehmen Allgemeingefühle. Dieselben sind bedingt durch Gottvertrauen. Dieselben sind bedingt durch das Bewusstsein guter Handlungen (das sogenannte "gute Gewissen", ein physiologischer Zustand, der mitunter einer glücklichen Verdauung zum Verwechseln ähnlich sieht). Dieselben sind bedingt durch den glücklichen Ausgang von Unternehmungen (– naiver Fehlschluss: der glückliche Ausgang einer Unternehmung schafft einem Hypochonder oder: einem Pascal durchaus keine angenehmen Allgemeingefühle). Dieselben sind bedingt durch Glaube, Liebe, Hoffnung – die christlichen Tugenden. – In Wahrheit sind alle diese vermeintlichen Erklärungen Folgezustände und gleichsam Übersetzungen von Lust oder Unlust-Gefühlen in einen falschen Dialekt: man ist im Zustande zu hoffen, weil das physiologische Grundgefühl wieder stark und reich ist; man vertraut Gott, weil das Gefühl der Fülle und Stärke Einem Ruhe giebt. – Die Moral und Religion gehört ganz und gar unter die Psychologie des Irrthums: in jedem einzelnen Falle wird Ursache und Wirkung verwechselt; oder die Wahrheit mit der Wirkung des als wahr Geglaubten verwechselt; oder ein Zustand des Bewusstseins mit der Ursächlichkeit dieses Zustands verwechselt.
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Irrthum vom freien Willen. – Wir haben heute kein Mitleid mehr mit dem Begriff "freier Wille": wir wissen nur zu gut, was er ist – das anrüchigste Theologen-Kunststück, das es giebt, zum Zweck, die Menschheit in ihrem Sinne "verantwortlich" zu machen, das heisst sie von sich abhängig zu machen… Ich gebe hier nur die Psychologie alles Verantwortlichmachens. – überall, wo Verantwortlichkeiten gesucht werden, pflegt es der Instinkt des Strafen- und Richten-Wollens zu sein, der da sucht. Man hat das Werden seiner Unschuld entkleidet, wenn irgend ein So-und-so Sein auf Wille, auf Absichten, auf Akte der Verantwortlichkeit zurückgeführt wird: die Lehre vom Willen ist wesentlich erfunden zum Zweck der Strafe, das heisst des Schuldig-finden-wollens. Die ganze alte Psychologie, die Willens-Psychiologie hat ihre Voraussetzung darin, dass deren Urheber, die Priester an der Spitze alter Gemeinwesen, sich ein Recht schaffen wollten, Strafen zu verhängen – oder Gott dazu ein Recht schaffen wollten… Die Menschen wurden "frei" gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können, – um schuldig werden zu können: folglich musste jede Handlung als gewollt, der Ursprung jeder Handlung im Bewusstsein liegend gedacht werden (– womit die grundsätzlichste Falschmünzerei in psychologicis zum Princip der Psychologie selbst gemacht war…) Heute, wo wir in die umgekehrte Bewegung eingetreten sind, wo wir Immoralisten zumal mit aller Kraft den Schuldbegriff und den Strafbegriff aus der Welt wieder herauszunehmen und Psychologie, Geschichte, Natur, die gesellschaftlichen Institutionen und Sanktionen von ihnen zu reinigen suchen, giebt es in unsern Augen keine radikalere Gegnerschaft als die der Theologen, welche fortfahren, mit dem Begriff der "sittlichen Weltordnung" die Unschuld des Werdens durch "Strafe" und "Schuld" zu durchseuchen. Das Christenthum ist eine Metaphysik des Henkers…
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Was kann allein unsre Lehre sein? – Dass Niemand dem Menschen seine Eigenschaften giebt, weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren, noch er selbst (– der Unsinn der hier zuletzt abgelehnten Vorstellung ist als "intelligible Freiheit" von Kant, vielleicht auch schon von Plato gelehrt worden). Niemand ist dafür verantwortlich, dass er überhaupt da ist, dass er so und so beschaffen ist, dass er unter diesen Umständen, in dieser Umgebung ist. Die Fatalität seines Wesens ist nicht herauszulösen aus der Fatalität alles dessen, was war und was sein wird. Er ist nicht die Folge einer eignen Absicht, eines Willens, eines Zwecks, mit ihm wird nicht der Versuch gemacht, ein "Ideal von Mensch" oder ein "Ideal von Glück" oder ein "Ideal von Moralität" zu erreichen, – es ist absurd, sein Wesen in irgend einen Zweck hin abwälzen zu wollen. Wir haben den Begriff "Zweck" erfunden: in der Realität fehlt der Zweck… Man ist nothwendig, man ist ein Stück Verhängniss, man gehört zum Ganzen, man ist im Ganzen, – es giebt Nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verurtheilen könnte, denn das hiesse das Ganze richten, messen, vergleichen, verurtheilen… Aber es giebt Nichts ausser dem Ganzen! – Dass Niemand mehr verantwortlich gemacht wird, dass die Art des Seins nicht auf eine causa prima zurückgeführt werden darf, dass die Welt weder als Sensorium, noch als "Geist" eine Einheit ist, dies erst ist die grosse Befreiung, – damit erst ist die Unschuld des Werdens wieder hergestellt… Der Begriff "Gott" war bisher der grösste Einwand gegen das Dasein… Wir leugnen Gott, wir leugnen die Verantwortlichkeit in Gott: damit erst erlösen wir die Welt. -