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Kitabı oku: «Götzen-Dämmerung», sayfa 6

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Mein Begriff vom Genie. – Grosse Männer sind wie grosse Zeiten Explosiv-Stoffe, in denen eine ungeheure Kraft aufgehäuft ist; ihre Voraussetzung ist immer, historisch und physiologisch, dass lange auf sie hin gesammelt, gehäuft, gespart und bewahrt worden ist, – dass lange keine Explosion stattfand. Ist die Spannung in der Masse zu gross geworden, so genügt der zufälligste Reiz, das "Genie", die "That", das grosse Schicksal in die Welt zu rufen. Was liegt dann an Umgebung, an Zeitalter, an "Zeitgeist", an "öffentlicher Meinung"! – Man nehme den Fall Napoleon's. Das Frankreich der Revolution, und noch mehr das der Vorrevolution, würde aus sich den entgegengesetzten Typus, als der Napoleon's ist, hervorgebracht haben: es hat ihn auch hervorgebracht. Und weil Napoleon anders war, Erbe einer stärkeren, längeren, älteren Civilisation als die, welche in Frankreich in Dampf und Stücke gieng, wurde er hier Herr, war er allein hier Herr. Die grossen Menschen sind nothwendig, die Zeit, in der sie erscheinen, ist zufällig; dass sie fast immer über dieselbe Herr werden, liegt nur darin, dass sie stärker, dass sie älter sind, dass länger auf sie hin gesammelt worden ist. Zwischen einem Genie und seiner Zeit besteht ein Verhältniss, wie zwischen stark und schwach, auch wie zwischen alt und jung: die Zeit ist relativ immer viel jünger, dünner, unmündiger, unsicherer, kindischer. – Dass man hierüber in Frankreich heute sehr anders denkt (in Deutschland auch: aber daran liegt nichts), dass dort die Theorie vom milieu, eine wahre Neurotiker-Theorie, sakrosankt und beinahe wissenschaftlich geworden ist und bis unter die Physiologen Glauben findet, das "riecht nicht gut", das macht Einem traurige Gedanken. – Man versteht es auch in England nicht anders, doch darüber wird sich kein Mensch betrüben. Dem Engländer stehen nur zwei Wege offen, sich mit dem Genie und "grossen Manne" abzufinden: entweder demokratisch in der Art Buckle's oder religiös in der Art Carlyle's. – Die Gefahr, die in grossen Menschen und Zeiten liegt, ist ausser ordentlich; die Erschöpfung jeder Art, die Sterilität folgt ihnen auf dem Fusse. Der grosse Mensch ist ein Ende; die grosse Zeit, die Renaissance zum Beispiel, ist ein Ende. Das Genie – in Werk, in That – ist nothwendig ein Verschwender: dass es sich ausgiebt, ist seine Grösse… Der Instinkt der Selbsterhaltung ist gleichsam ausgehängt; der übergewaltige Druck der ausströmenden Kräfte verbietet ihm jede solche Obhut und Vorsicht. Man nennt das "Aufopferung"; man rühmt seinen "Heroismus" darin, seine Gleichgültigkeit gegen das eigne Wohl, seine Hingebung für eine Idee, eine grosse Sache, ein Vaterland: Alles Missverständnisse… Er strömt aus, er strömt über, er verbraucht sich, er schont sich nicht, – mit Fatalität, verhängnissvoll, unfreiwillig, wie das Ausbrechen eines Flusses über seine Ufer unfreiwillig ist. Aber weil man solchen Explosiven viel verdankt, hat man ihnen auch viel dagegen geschenkt, zum Beispiel eine Art höherer Moral… Das ist ja die Art der menschlichen Dankbarkeit: sie missversteht ihre Wohlthäter. -

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Der Verbrecher und was ihm verwandt ist. – Der Verbrecher-Typus, das ist der Typus des starken Menschen unter ungünstigen Bedingungen, ein krank gemachter starker Mensch. Ihm fehlt die Wildniss, eine gewisse freiere und gefährlichere Natur und Daseinsform, in der Alles, was Waffe und Wehr im Instinkt des starken Menschen ist, zu Recht besteht. Seine Tugenden sind von der Gesellschaft in Bann gethan; seine lebhaftesten Triebe, die er mitgebracht hat, verwachsen alsbald mit den niederdrückenden Affekten, mit dem Verdacht, der Furcht, der Unehre. Aber dies ist beinahe das Recept zur physiologischen Entartung. Wer Das, was er am besten kann, am liebsten thäte, heimlich thun muss, mit langer Spannung, Vorsicht, Schlauheit, wird anämisch; und weil er immer nur Gefahr, Verfolgung, Verhängniss von seinen Instinkten her erntet, verkehrt sich auch sein Gefühl gegen diese Instinkte – er fühlt sie fatalistisch. Die Gesellschaft ist es, unsre zahme, mittelmässige, verschnittene Gesellschaft, in der ein naturwüchsiger Mensch, der vom Gebirge her oder aus den Abenteuern des Meeres kommt, nothwendig zum Verbrecher entartet. Oder beinahe nothwendig: denn es giebt Fälle, wo ein solcher Mensch sich stärker erweist als die Gesellschaft: der Corse Napoleon ist der berühmteste Fall. Für das Problem, das hier vorliegt, ist das Zeugniss Dostoiewsky's von Belang – Dostoiewsky's, des einzigen Psychologen, anbei gesagt, von dem ich Etwas zu lernen hatte: er gehört zu den schönsten Glücksfällen meines Lebens, mehr selbst noch als die Entdeckung Stendhal's. Dieser tiefe Mensch, der zehn Mal Recht hatte, die oberflächlichen Deutschen gering zu schätzen, hat die sibirischen Zuchthäusler, in deren Mitte er lange lebte, lauter schwere Verbrecher, für die es keinen Rückweg zur Gesellschaft mehr gab, sehr anders empfunden als er selbst erwartete – ungefähr als aus dem besten, härtesten und werthvollsten Holze geschnitzt, das auf russischer Erde überhaupt wächst. Verallgemeinern wir den Fall des Verbrechers: denken wir uns Naturen, denen, aus irgend einem Grunde, die öffentliche Zustimmung fehlt, die wissen, dass sie nicht als wohlthätig, als nützlich empfunden werden, – jenes Tschandala-Gefühl, dass man nicht als gleich gilt, sondern als ausgestossen, unwürdig, verunreinigend. Alle solche Naturen haben die Farbe des Unterirdischen auf Gedanken und Handlungen; an ihnen wird Jegliches bleicher als an Solchen, auf deren Dasein das Tageslicht ruht. Aber fast alle Existenzformen, die wir heute auszeichnen, haben ehemals unter dieser halben Grabesluft gelebt: der wissenschaftliche Charakter, der Artist, das Genie, der freie Geist, der Schauspieler, der Kaufmann, der grosse Entdecker… So lange der Priester als oberster Typus galt, war jede werthvolle Art Mensch entwerthet… Die Zeit kommt – ich verspreche das – wo er als der niedrigste gelten wird, als unser Tschandala, als die verlogenste, als die unanständigste Art Mensch… Ich richte die Aufmerksamkeit darauf, wie noch jetzt, unter dem mildesten Regiment der Sitte, das je auf Erden, zum Mindesten in Europa, geherrscht hat, jede Abseitigkeit, jedes lange, allzulange Unterhalb, jede ungewöhnliche, undurchsichtige Daseinsform jenem Typus nahe bringt, den der Verbrecher vollendet. Alle Neuerer des Geistes haben eine Zeit das fahle und fatalistische Zeichen des Tschandala auf der Stirn: nicht, weil sie so empfunden würden, sondern weil sie selbst die furchtbare Kluft fühlen, die sie von allem Herkömmlichen und in Ehren Stehenden trennt. Fast jedes Genie kennt als eine seiner Entwicklungen die "catilinarische Existenz", ein Hass-, Rache- und Aufstands-Gefühl gegen Alles, was schon ist, was nicht mehr wird… Catilina – die Präexistenz-Form jedes Caesar. -

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Hier ist die Aussicht frei. – Es kann Höhe der Seele sein, wenn ein Philosoph schweigt; es kann Liebe sein, wenn er sich widerspricht; es ist eine Höflichkeit des Erkennenden möglich, welche lügt. Man hat nicht ohne Feinheit gesagt: il est indigne des grands coeurs de répandre le trouble, qu'ils ressentent: nur muss man hinzufügen, dass vor dem Unwürdigsten sich nicht zu fürchten ebenfalls Grösse der Seele sein kann. Ein Weib, das liebt, opfert seine Ehre; ein Erkennender, welcher "liebt", opfert vielleicht seine Menschlichkeit; ein Gott, welcher liebte, ward Jude…

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Die Schönheit kein Zufall. – Auch die Schönheit einer Rasse oder Familie, ihre Anmuth und Güte in allen Gebärden wird erarbeitet: sie ist, gleich dem Genie, das Schlussergebniss der accumulirten Arbeit von Geschlechtern. Man muss dem guten Geschmacke grosse Opfer gebracht haben, man muss um seinetwillen Vieles gethan, Vieles gelassen haben – das siebzehnte Jahrhundert Frankreichs ist bewunderungswürdig in Beidem – , man muss in ihm ein Princip der Wahl, für Gesellschaft, Ort, Kleidung, Geschlechtsbefriedigung gehabt haben, man muss Schönheit dem Vortheil, der Gewohnheit, der Meinung, der Trägheit vorgezogen haben. Oberste Richtschnur: man muss sich auch vor sich selber nicht "gehen lassen". – Die guten Dinge sind über die Maassen kostspielig: und immer gilt das Gesetz, dass wer sie hat, ein Andrer ist, als wer sie erwirbt. Alles Gute ist Erbschaft: was nicht ererbt ist, ist unvollkommen, ist Anfang… In Athen waren zur Zeit Cicero's, der darüber seine Überraschung ausdrückt, die Männer und Jünglinge bei weitem den Frauen an Schönheit überlegen: aber welche Arbeit und Anstrengung im Dienste der Schönheit hatte daselbst das männliche Geschlecht seit Jahrhunderten von sich verlangt! – Man soll sich nämlich über die Methodik hier nicht vergreifen: eine blosse Zucht von Gefühlen und Gedanken ist beinahe Null (– hier liegt das grosse Missverständniss der deutschen Bildung, die ganz illusorisch ist): man muss den Leib zuerst überreden. Die strenge Aufrechterhaltung bedeutender und gewählter Gebärden, eine Verbindlichkeit, nur mit Menschen zu leben, die sich nicht "gehen lassen", genügt vollkommen, um bedeutend und gewählt zu werden: in zwei, drei Geschlechtern ist bereits Alles verinnerlicht. Es ist entscheidend über das Loos von Volk und Menschheit, dass man die Cultur an der rechten Stelle beginnt – nicht an der "Seele" (wie es der verhängnissvolle Aberglaube der Priester und Halb-Priester war): die rechte Stelle ist der Leib, die Gebärde, die Diät, die Physiologie, der Rest folgt daraus… Die Griechen bleiben deshalb das erste Cultur-Ereigniss der Geschichte – sie wussten, sie thaten, was Noth that; das Christenthum, das den Leib verachtete, war bisher das grösste Unglück der Menschheit. -

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Fortschritt in meinem Sinne. – Auch ich rede von "Rückkehr zur Natur", obwohl es eigentlich nicht ein Zurückgehn, sondern ein Hinaufkommen ist – hinauf in die hohe, freie, selbst furchtbare Natur und Natürlichkeit, eine solche, die mit grossen Aufgaben spielt, spielen darf .. Um es im Gleichniss zu sagen: Napoleon war ein Stück "Rückkehr zur Natur", so wie ich sie verstehe (zum Beispiel in rebus tacticis, noch mehr, wie die Militärs wissen, im Strategischen). – Aber Rousseau – wohin wollte der eigentlich zurück? Rousseau, dieser erste moderne Mensch, Idealist und canaille in Einer Person; der die moralische "Würde" nöthig hatte, um seinen eignen Aspekt auszuhalten; krank vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung. Auch diese Missgeburt, welche sich an die Schwelle der neuen Zeit gelagert hat, wollte "Rückkehr zur Natur" – wohin, nochmals gefragt, wollte Rousseau zurück? – Ich hasse Rousseau noch in der Revolution: sie ist der welthistorische Ausdruck für diese Doppelheit von Idealist und canaille. Die blutige farce, mit der sich diese Revolution abspielte, ihre "Immoralität", geht mich wenig an: was ich hasse, ist ihre Rousseau'sche Moralität – die sogenannten "Wahrheiten" der Revolution, mit denen sie immer noch wirkt und alles Flache und Mittelmässige zu sich überredet. Die Lehre von der Gleichheit!.. Aber es giebt gar kein giftigeres Gift: denn sie scheint von der Gerechtigkeit selbst gepredigt, während sie das Ende der Gerechtigkeit ist… "Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen Ungleiches – das wäre die wahre Rede der Gerechtigkeit: und, was daraus folgt, Ungleiches niemals gleich machen." – Dass es um jene Lehre von der Gleichheit herum so schauerlich und blutig zu gieng, hat dieser "modernen Idee" par excellence eine Art Glorie und Feuerschein gegeben, so dass die Revolution als Schauspiel auch die edelsten Geister verführt hat. Das ist zuletzt kein Grund, sie mehr zu achten. – Ich sehe nur Einen, der sie empfand, wie sie empfunden werden muss, mit Ekel – Goethe…

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Goethe – kein deutsches Ereigniss, sondern ein europäisches: ein grossartiger Versuch, das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch eine Rückkehr zur Natur, durch ein Hinaufkommen zur Natürlichkeit der Renaissance, eine Art Selbstüberwindung von Seiten dieses Jahrhunderts. – Er trug dessen stärkste Instinkte in sich: die Gefühlsamkeit, die Natur-Idolatrie, das Antihistorische, das Idealistische, das Unreale und Revolutionäre (– letzteres ist nur eine Form des Unrealen). Er nahm die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike, insgleichen Spinoza zu Hülfe, vor Allem die praktische Thätigkeit; er umstellte sich mit lauter geschlossenen Horizonten; er löste sich nicht vom Leben ab, er stellte sich hinein; er war nicht verzagt und nahm so viel als möglich auf sich, über sich, in sich. Was er Wollte, das war Totalität; er bekämpfte das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille (– in abschreckendster Scholastik durch Kant gepredigt, den Antipoden Goethe's), er disciplinirte sich zur Ganzheit, er schuf sich… Goethe war, inmitten eines unreal gesinnten Zeitalters, ein überzeugter Realist: er sagte ja zu Allem, was ihm hierin verwandt war, – er hatte kein grösseres Erlebniss als jenes ens realissimum, genannt Napoleon. Goethe concipirte einen starken, hochgebildeten, in aller Leiblichkeiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden, vor sich selber ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichthum der Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser Freiheit ist; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er Das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde gehn würde, noch zu seinem Vortheile zu brauchen weiss; den Menschen, für den es nichts Verbotenes mehr giebt, es sei denn die Schwäche, heisse sie nun Laster oder Tugend… Ein solcher freigewordner Geist steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im Glauben, dass nur das Einzelne verwerflich ist, dass im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht – er verneint nicht mehr… Aber ein solcher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn auf den Namen des Dionysos getauft. -

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Man könnte sagen, dass in gewissem Sinne das neunzehnte Jahrhundert Das alles auch erstrebt hat, was Goethe als Person erstrebte: eine Universalität im Verstehn, im Gutheissen, ein Ansich-heran-kommen-lassen von Jedwedem, einen verwegnen Realismus, eine Ehrfurcht vor allem Thatsächlichen. Wie kommt es, dass das Gesammt-Ergebniss kein Goethe, sondern ein Chaos ist, ein nihilistisches Seufzen, ein Nicht-wissen-wo-aus-noch-ein, ein Instinkt von Ermüdung, der in praxi fortwährend dazu treibt, zum achtzehnten Jahrhundert zurückzugreifen? (– zum Beispiel als Gefühls-Romantik, als Altruismus und Hyper-Sentimentalität, als Femininismus im Geschmack, als Socialismus in der Politik.) Ist nicht das neunzehnte Jahrhundert, zumal in seinem Ausgange, bloss ein verstärktes verrohtes achtzehntes Jahrhundert, das heisst ein décadence-Jahrhundert? So dass Goethe nicht bloss für Deutschland, sondern für ganz Europa bloss ein Zwischenfall, ein schönes Umsonst gewesen wäre? – Aber man missversteht grosse Menschen, wenn man sie aus der armseligen Perspektive eines öffentlichen Nutzens ansieht. Dass man keinen Nutzen aus ihnen zu ziehn weiss, das gehört selbst vielleicht zur Grösse…

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Goethe ist der letzte Deutsche, vor dem ich Ehrfurcht habe: er hätte drei Dinge empfunden, die ich empfinde, – auch verstehen wir uns über das "Kreuz"… Man fragt mich öfter, wozu ich eigentlich deutsch schriebe: nirgendswo würde ich schlechter gelesen, als im Vaterlande. Aber wer weiss zuletzt, ob ich auch nur wünsche, heute gelesen zu werden? – Dinge schaffen, an denen umsonst die Zeit ihre Zähne versucht; der Form nach, der Substanz nach um eine kleine Unsterblichkeit bemüht sein – ich war noch nie bescheiden genug, weniger von mir zu verlangen. Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der Erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der "Ewigkeit"; mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder Andre in einem Buche sagt, – was jeder Andre in einem Buche nicht sagt…

Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, meinen Zarathustra: ich gebe ihr über kurzem das unabhängigste. -

Was ich den Alten verdanke

1

Zum Schluss ein Wort über jene Welt, zu der ich Zugänge gesucht, zu der ich vielleicht einen neuen Zugang gefunden habe – die alte Welt. Mein Geschmack, der der Gegensatz eines duldsamen Geschmacks sein mag, ist auch hier fern davon, in Bausch und Bogen ja zu sagen: er sagt überhaupt nicht gern ja, lieber noch Nein, am allerliebsten gar nichts… Das gilt von ganzen Culturen, das gilt von Büchern, – es gilt auch von Orten und Landschaften. Im Grunde ist es eine ganz kleine Anzahl antiker Bücher, die in meinem Leben mitzählen; die berühmtesten sind nicht darunter. Mein Sinn für Stil, für das Epigramm als Stil erwachte fast augenblicklich bei der Berührung mit Sallust. Ich habe das Erstaunen meines verehrten Lehrers Corssen nicht vergessen, als er seinem schlechtesten Lateiner die allererste Censur geben musste – , ich war mit Einem Schlage fertig. Gedrängt, streng, mit so viel Substanz als möglich auf dem Grunde, eine kalte Bosheit gegen das "schöne Wort", auch das "schöne Gefühl" – daran errieth ich mich. Man wird, bis in meinen Zarathustra hinein, eine sehr ernsthafte Ambition nach römischem Stil, nach dem "aere perennius" im Stil bei mir wiedererkennen. – Nicht anders ergieng es mir bei der ersten Berührung mit Horaz. Bis heute habe ich an keinem Dichter dasselbe artistische Entzücken gehabt, das mir von Anfang an eine Horazische Ode gab. In gewissen Sprachen ist Das, was hier erreicht ist, nicht einmal zu wollen. Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff, nach rechts und links und über das Ganze hin seine Kraft ausströmt, dies minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte maximum in der Energie der Zeichen – das Alles ist römisch und, wenn man mir glauben will, vornehm par excellence. Der ganze Rest von Poesie wird dagegen etwas zu Populäres, – eine blosse Gefühls-Geschwätzigkeit…

2

Den Griechen verdanke ich durchaus keine verwandt starken Eindrücke; und, um es geradezu herauszusagen, sie können uns nicht sein, was die Römer sind. Man lernt nicht von den Griechen – ihre Art ist zu fremd, sie ist auch zu flüssig, um imperativisch, um "klassisch" zu wirken. Wer hätte je an einem Griechen schreiben gelernt! Wer hätte es je ohne die Römer gelernt!.. Man wende mir ja nicht Plato ein. Im Verhältniss zu Plato bin ich ein gründlicher Skeptiker und war stets ausser Stande, in die Bewunderung des Artisten Plato, die unter Gelehrten herkömmlich ist, einzustimmen. Zuletzt habe ich hier die raffinirtesten Geschmacksrichter unter den Alten selbst auf meiner Seite. Plato wirft, wie mir scheint, alle Formen des Stils durcheinander, er ist damit ein erster décadent des Stils: er hat etwas Ähnliches auf dem Gewissen, wie die Cyniker, die die satura Menippea erfanden. Dass der Platonische Dialog, diese entsetzlich selbstgefällige und kindliche Art Dialektik, als Reiz wirken könne, dazu muss man nie gute Franzosen gelesen haben, – Fontenelle zum Beispiel. Plato ist langweilig. – Zuletzt geht mein Misstrauen bei Plato in die Tiefe: ich finde ihn so abgeirrt von allen Grundinstinkten der Hellenen, so vermoralisirt, so präexistent-christlich – er hat bereits den Begriff "gut" als obersten Begriff – , dass ich von dem ganzen Phänomen Plato eher das harte Wort "höherer Schwindel" oder, wenn man's lieber hört, Idealismus – als irgend ein andres gebrauchen möchte. Man hat theuer dafür bezahlt, dass dieser Athener bei den Ägyptern in die Schule gieng (– oder bei den Juden in Agypten?..) Im grossen Verhängniss des Christenthums ist Plato jene "Ideal" genannte Zweideutigkeit und Fascination, die den edleren Naturen des Alterthums es möglich machte, sich selbst misszuverstehn und die Brücke zu betreten, die zum "Kreuz" führte… Und wie viel Plato ist noch im Begriff "Kirche", in Bau, System, Praxis der Kirche! – Meine Erholung, meine Vorliebe, meine Kur von allem Platonismus war zu jeder Zeit Thukydides. Thukydides und, vielleicht, der principe Machiavell's sind mir selber am meisten verwandt durch den unbedingten Willen, sich Nichts vorzumachen und die Vernunft in der Realität zu sehn, – nicht in der "Vernunft", noch weniger in der "Moral"… Von der jämmerlichen Schönfärberei der Griechen in's Ideal, die der "klassisch gebildete" Jüngling als Lohn für seine Gymnasial-Dressur in's Leben davonträgt, kurirt Nichts so gründlich als Thukydides. Man muss ihn Zeile für Zeile umwenden und seine Hintergedanken so deutlich ablesen wie seine Worte: es giebt wenige so hintergedankenreiche Denker. In ihm kommt die Sophisten-Cultur, will sagen die Realisten-Cultur, zu ihrem vollendeten Ausdruck: diese unschätzbare Bewegung inmitten des eben allerwärts losbrechenden Moral- und Ideal-Schwindels der sokratischen Schulen. Die griechische Philosophie als die décadence des griechischen Instinkts; Thukydides als die grosse Summe, die letzte Offenbarung jener starken, strengen, harten Thatsächlichkeit, die dem älteren Hellenen im Instinkte lag. Der Muth vor der Realität unterscheidet zuletzt solche Naturen wie Thukydides und Plato: Plato ist ein Feigling vor der Realität, – folglich flüchtet er in's Ideal; Thukydides hat sich in der Gewalt, folglich behält er auch die Dinge in der Gewalt…

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In den Griechen "schöne Seelen", "goldene Mitten" und andre Vollkommenheiten auszuwittern, etwa an ihnen die Ruhe in der Grösse, die ideale Gesinnung, die hohe Einfalt bewundern – vor dieser "hohen Einfalt", einer niaiserie allemande zu guterletzt, war ich durch den Psychologen behütet, den ich in mir trug. Ich sah ihren stärksten Instinkt, den Willen zur Macht, ich sah sie zittern vor der unbändigen Gewalt dieses Triebs, – ich sah alle ihre Institutionen wachsen aus Schutzmaassregeln, um sich vor einander gegen ihren inwendigen Explosivstoff sicher zu stellen. Die ungeheure Spannung im Innern entlud sich dann in furchtbarer und rücksichtsloser Feindschaft nach Aussen: die Stadtgemeinden zerfleischten sich unter einander, damit die Stadtbürger jeder einzelnen vor sich selber Ruhe fänden. Man hatte es nöthig, stark zu sein: die Gefahr war in der Nähe – , sie lauerte überall. Die prachtvoll geschmeidige Leiblichkeit, der verwegene Realismus und Immoralismus, der dem Hellenen eignet, ist eine Noth, nicht eine "Natur" gewesen. Er folgte erst, er war nicht von Anfang an da. Und mit Festen und Künsten wollte man auch nichts Andres als sich obenauf fühlen, sich obenauf zeigen: es sind Mittel, sich selber zu verherrlichen, unter Umständen vor sich Furcht zu machen… Die Griechen auf deutsche Manier nach ihren Philosophen beurtheilen, etwa die Biedermännerei der sokratischen Schulen zu Aufschlüssen darüber benutzen, was im Grunde hellenisch sei!.. Die Philosophen sind ja die décadents des Griechenthums, die Gegenbewegung gegen den alten, den vornehmen Geschmack (– gegen den agonalen Instinkt, gegen die Polis, gegen den Werth der Rasse, gegen die Autorität des Herkommens). Die sokratischen Tugenden wurden gepredigt, weil sie den Griechen abhanden gekommen waren: reizbar, furchtsam, unbeständig, Komödianten allesammt, hatten sie ein paar Gründe zu viel, sich Moral predigen zu lassen. Nicht, dass es Etwas geholfen hätte: aber grosse Worte und Attitüden stehen décadents so gut…

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Ich war der erste, der, zum Verständniss des älteren, des noch reichen und selbst überströmenden hellenischen Instinkts, jenes wundervolle Phänomen ernst nahm, das den Namen des Dionysos trägt: es ist einzig erklärbar aus einem Zuviel von Kraft. Wer den Griechen nachgeht, wie jener tiefste Kenner ihrer Cultur, der heute lebt, wie Jakob Burckhardt in Basel, der wusste sofort, dass damit Etwas gethan sei: Burckhardt fügte seiner "Cultur der Griechen" einen eignen Abschnitt über das genannte Phänomen ein. Will man den Gegensatz, so sehe man die beinahe erheiternde Instinkt-Armuth der deutschen Philologen, wenn sie in die Nähe des Dionysischen kommen. Der berühmte Lobeck zumal, der mit der ehrwürdigen Sicherheit eines zwischen Büchern ausgetrockneten Wurms in diese Welt geheimnissvoller Zustände hineinkroch und sich überredete, damit wissenschaftlich zu sein, dass er bis zum Ekel leichtfertig und kindisch war, – Lobeck hat mit allem Aufwande von Gelehrsamkeit zu verstehn gegeben, eigentlich habe es mit allen diesen Curiositäten Nichts auf sich. In der That möchten die Priester den Theilhabern an solchen Orgien einiges nicht Werthlose mitgetheilt haben, zum Beispiel, dass der Wein zur Lust anrege, dass der Mensch unter Umständen von Früchten lebe, dass die Pflanzen im Frühjahr aufblühn, im Herbst verwelken. Was jenen so befremdlichen Reichthum an Riten, Symbolen und Mythen orgiastischen Ursprungs angeht, von dem die antike Welt ganz wörtlich überwuchert ist, so findet Lobeck an ihm einen Anlass, noch um einen Grad geistreicher zu werden. "Die Griechen, sagt er Aglaophamus I, 672, hatten sie nichts Anderes zu thun, so lachten, sprangen, rasten sie umher, oder, da der Mensch mitunter auch dazu Lust hat, so sassen sie nieder, weinten und jammerten. Andere kamen dann später hinzu und suchten doch irgend einen Grund für das auffallende Wesen; und so entstanden zur Erklärung jener Gebräuche jene zahllosen Festsagen und Mythen. Auf der andren Seite glaubte man, jenes possirliche Treiben, welches nun einmal an den Festtagen stattfand, gehöre auch nothwendig zur Festfeier, und hielt es als einen unentbehrlichen Theil des Gottesdienstes fest." – Das ist verächtliches Geschwätz, man wird einen Lobeck nicht einen Augenblick ernst nehmen. Ganz anders berührt es uns, wenn wir den Begriff "griechisch" prüfen, den Winckelmann und Goethe sich gebildet haben, und ihn unverträglich mit jenem Elemente finden, aus dem die dionysische Kunst wächst, – mit dem Orgiasmus. Ich zweifle in der That nicht daran, dass Goethe etwas Derartiges grundsätzlich aus den Möglichkeiten der griechischen Seele ausgeschlossen hätte. Folglich verstand Goethe die Griechen nicht. Denn erst in den dionysischen Mysterien, in der Psychologie des dionysischen Zustands spricht sich die Grundthatsache des hellenischen Instinkts aus – sein "Wille zum Leben". Was verbürgte sich der Hellene mit diesen Mysterien? Das ewige Leben, die ewige Wiederkehr des Lebens; die Zukunft in der Vergangenheit verheissen und geweiht; das triumphirende Ja zum Leben über Tod und Wandel hinaus; das wahre Leben als das Gesammt-Fortleben durch die Zeugung, durch die Mysterien der Geschlechtlichkeit. Den Griechen war deshalb das geschlechtliche Symbol das ehrwürdige Symbol an sich, der eigentliche Tiefsinn innerhalb der ganzen antiken Frömmigkeit. Alles Einzelne im Akte der Zeugung, der Schwangerschaft, der Geburt erweckte die höchsten und feierlichsten Gefühle. In der Mysterienlehre ist der Schmerz heilig gesprochen: die "Wehen der Gebärerin" heiligen den Schmerz überhaupt, – alles Werden und Wachsen, alles Zukunft-Verbürgende bedingt den Schmerz… Damit es die Lust des Schaffens giebt, damit der Wille zum Leben sich ewig selbst bejaht, muss es auch ewig die "Qual der Gebärerin" geben… Dies Alles bedeutet das Wort Dionysos: ich kenne keine höhere Symbolik als diese griechische Symbolik, die der Dionysien. In ihr ist der tiefste Instinkt des Lebens, der zur Zukunft des Lebens, zur Ewigkeit des Lebens, religiös empfunden, – der Weg selbst zum Leben, die Zeugung, als der heilige Weg… Erst das Christenthum, mit seinem Ressentiment gegen das Leben auf dem Grunde, hat aus der Geschlechtlichkeit etwas Unreines gemacht: es warf Koth auf den Anfang, auf die Voraussetzung unseres Lebens…

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Die Psychologie des Orgiasmus als eines überströmenden Lebens- und Kraftgefühls, innerhalb dessen selbst der Schmerz noch als Stimulans wirkt, gab mir den Schlüssel zum Begriff des tragischen Gefühls, das sowohl von Aristoteles als in Sonderheit von unsern Pessimisten missverstanden worden ist. Die Tragödie ist so fern davon, Etwas für den Pessimismus der Hellenen im Sinne Schopenhauer's zu beweisen, dass sie vielmehr als dessen entscheidende Ablehnung und Gegen-Instanz zu gelten hat. Das ja sagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen; der Wille zum Leben, im Opfer seiner höchsten Typen der eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend – das nannte ich dionysisch, das errieth ich als die Brücke zur Psychologie des tragischen Dichters. Nicht um von Schrecken und Mitleiden loszukommen, nicht um sich von einem gefährlichen Affekt durch dessen vehemente Entladung zu reinigen – so verstand es Aristoteles – : sondern um, über Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens selbst zu sein, – jene Lust, die auch noch die Lust am Vernichten in sich schliesst… Und damit berühre ich wieder die Stelle, von der ich einstmals ausgieng – die "Geburt der Tragödie" war meine erste Umwerthung aller Werthe: damit stelle ich mich wieder auf den Boden zurück, aus dem mein Wollen, mein Können wächst – ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, – ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft…