Kitabı oku: «Johanna»

Yazı tipi:

FRITZ ROSENFELD

Johanna

ROMAN

Herausgegeben und mit einem Nachwort

von Primus-Heinz Kucher


Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Fritz Rosenfeld und sein Johanna-Roman Eine unerwartete wie überfällige Wiederentdeckung

Literatur

I.

Über den Himmel jagen Wolkenfetzen, grelle Blitze zucken durch die Nacht, der Regen peitscht die aufgeweichte Straße, der Sturm heult wilde Gesänge in den Tannenwipfeln, aus dem Walde dröhnt das Fallen gebrochener Bäume, hie und da kreischt ein Tierlaut auf, hallt als endlos gezogener Schrei durch das Dunkel.

Ein Wagen schiebt sich mühsam durch den anschwellenden Kot, der Gaul trottet müde dahin, der Mann auf dem Kutschbock verkriecht sich in seinen Mantel, läßt die Peitsche über den Rücken des Pferdes knallen. Seine Laterne ist längst erloschen. Wenn der Wind ihm einen Regenschwaden ins Gesicht wirft, stößt er einen dumpfen Fluch aus.

Stunde um Stunde rollt dahin, das Wetter rast mit wachsendem Ungestüm. Die Straße gleicht einem Strom, Wasser spritzt auf, wo der Huf des Pferdes den Boden berührt. Der Mann läßt die Peitsche sinken. Wozu das Pferd quälen – es kann kaum mehr weiter.

Schießt eine Blitzfurche über den Himmel, so werden die Gipfel der Berge sichtbar. Unheimlich starr schimmern sie, nackte Felsen, ohnmächtig aufgereckt gegen das Firmament.


Nach und nach wird das Gewitter schwächer. Die Wolkendecke teilt sich wie ein Schwarm, der auseinandereilt, aus den geborstenen dunklen Ballen tropft Regen, trommelt gleichmäßig auf die Blachen, die den Wagen überspannen.

Der Mann wendet sich ins Wageninnere.

»Es hört auf, Johanna. Hab’ keine Angst mehr. Es ist vorüber. Bald wird es Tag. Die Sonne geht auf – dann wird es warm. Und dann sind wir im Dorf. Zieh’ die Decke fest zusammen, Kind – so, und schlaf noch ein bißchen. Wenn du erwachst, ist es hell und warm.«

Das Kind im Wagen bohrt sich unter die schwere Decke, der Mann greift zur Peitsche. Schneller rollt der Wagen. Der Regen singt eine betäubende Melodie. Der einförmige Rhythmus seines Fallens zwingt die Augen zu.

Am Horizont tasten sich zaghaft die ersten Lichtstrahlen herauf.


Das Dorf erwacht. Die Menschen kriechen aus den Häusern, eilen auf die Felder, um zu sehen, was das Gewitter ihnen zerschlug. Mägde kommen aus den Ställen, die Milch dampft in den Eimern, sie füllen große Wannen an, Knechte beladen die Wagen. Geduldige Pferde schleppen die Wagen der Stadt zu, Tag für Tag denselben Weg.

Am Ende der Dorfstraße begegnen die Wagen einander. Der Mann auf dem Bock ruft die andern an:

»Heda – ihr, wo wohnt euer Bürgermeister?«

Die Wagen halten. Einer weist den Weg. Die Peitschen knallen – und die Räder rasseln weiter.


Der Bürgermeister reibt sich den Schlaf aus den Augen. Er ist spät ins Bett gekommen. Der Blitz hat in eine Scheune eingeschlagen – da hieß es löschen helfen. Er ist mißmutig. Das Getreide steht schlecht, und der Himmel schickt Wetter auf Wetter. Ein Glück, daß die Scheune leer war, die in der Nacht niederbrannte.

Es klopft an die Tür. Die Magd tritt ein.

»Bauer – draußen ist einer, der euch sprechen will.«

»Wer ist es denn – in aller Früh – will wieder betteln – wahrscheinlich.«

»Weiß es nicht. Er kommt mit einem Kind.«

»Laß ihn herein. Kaum hat man die Augen aufgeschlagen, geht der Ärger an.«

Der Mann tritt ins Zimmer, macht eine demütige Verbeugung, zerknittert seinen Hut in der Hand, ist verlegen. Das Kind an seiner Seite wagt nicht aufzublicken, klammert sich an seinen Rock.

»Was wollt Ihr?«

»Ihr seid der Bürgermeister?«

»Der bin ich.«

»Dann bin ich am richtigen Ort.«

Der Mann schielt nach dem Tisch, als warte er darauf, zum Sitzen aufgefordert zu werden. Mit einer gnädigen Handbewegung lädt ihn der Bürgermeister ein. Beide setzen sich, das Kind schmiegt sich scheu an den Begleiter.

»Nun sprecht – was führt Euch her?«

»Es geht um die Kleine da. Ich komme von drüben – überm Gebirge. Die Gemeinde schickt mich. Das ist nämlich so, das Mädele da ist die Tochter eines Taglöhners, der aus eurem Dorf stammt. Wie er hieß, weiß ich nicht. Den Taglöhner-Franz haben wir ihn genannt. War ein kratzbürstiger, unfreundlicher Geselle – aber das tut nichts zur Sache. Er war hier gebürtig, auch sein Weib war von hier. Erinnert ihr euch?«

Der Bürgermeister denkt eine Weile nach.

»So ein Kleiner wars – ein armseliger Kerl – und das Weib war sommersproßig –«

»Ja, die waren es. Und die sind nämlich gestorben. Nicht gleichzeitig. Er ist im vorigen Jahr bei einem Bergrutsch umgekommen. Wie das geschehen ist, weiß bis heute niemand. Eines Tages rollte unten beim Bach ein Felsen ab – unter dem Felsen fanden wir den Taglöhner-Franz. Kein Knochen war ganz mehr. Das Weib hat geweint und gejammert – aber dann hat sie sich halt um Arbeit umgesehen. Hat sich recht und schlecht durchgefrettet mit dem Kind, ist aushelfen gegangen, wo man jemanden gebraucht hat, hat Kräuter gesammelt – und ab und zu haben wir ihr was geschenkt – wie das so ist. Hat oft genug Nägel beißen müssen, das arme Weib. Dann ist sie krank worden – war kein Wunder – bei der Schinderei und dem Essen. Einen Monat ist sie gelegen – und vor einer Woche gestorben. Das Kind ist zurückgeblieben. Verwandte sind keine – da hat man mich hergeschickt, Ihr müßt es übernehmen. Es gehört zu Euch. Was die Eltern gehabt haben, liegt draußen im Wagen. Viel ist es nicht. Sind halt recht arme Teufel gewesen.«

Der Bürgermeister war aufgestanden und ging mit großen Schritten durchs Zimmer. Er kannte diese Geschichten. Kinder in die Welt setzen und sie dann der Gemeinde auf den Hals laden.

»Das geht uns gar nichts an. Die Leute haben bei Euch gewohnt und sind bei Euch gestorben und begraben. Ihr müßt für das Kind sorgen.«

»Sie sind bei Euch geboren – und gehören zu Eurer Gemeinde. Auch das Kind ist hier zur Welt gekommen. Wir haben gar keine Pflichten gegen sie.«

Der Widerstand bringt den Bürgermeister in Zorn. Er fährt los wie ein Wilder:

»Macht mit dem Kind, was Ihr wollt. Von mir aus ertränkt es im Bach. Lebenslang hat man die Bettler zu erhalten, und dann soll man noch die Kinder füttern. Wenn man das tut, wird das Gesindel nur frech. Hätten das Kind mitnehmen sollen – wer braucht es denn. Laufen genug Rangen im Dorf herum. Noch ein Balg mehr – nein. Jetzt soll man es aushalten – und wenn es groß ist und arbeiten kann, dann läuft es davon. Dann gehört es nicht mehr zur Gemeinde. Nein, nein, macht mit dem Kind, was Ihr wollt.«

»Aber wir können doch das Kind nicht verhungern lassen.«

»Wenn du so weichherzig bist, nimm es dir, es wird dir keiner streitig machen.«

»Hab’ selbst genug – mehr als ich Brot hab’.«

»Dann soll es Eure Gemeinde erhalten. Die unserige ist arm und hat nichts übrig für fremde Kinder. Heut nacht ist einem die Scheune abgebrannt – dem müssen die Anderen unter die Arme greifen – hat nichts zum beißen –«

»Wir sind auch nicht reich. Wir können es nicht erhalten. Uns ist es ein Fremdes. Streit’ nicht, Bürgermeister, du weißt, es gehört Euch. Du weißt, es ist Eure Pflicht, für das Kleine zu sorgen.«

»Pflicht hin, Pflicht her. Ich will nicht, und das ist wichtiger.«

»So – – du willst nicht. Nun gut. Meinetwegen. Ich laß das Kind da. Geh, Hannerl, wir holen deine Sachen.«

Das Kind hat von dem Auftritt nichts verstanden, es weiß nicht, worum es geht. Gehorsam läuft es auf die Straße, hilft die Kleiderbündel und Taschen ins Zimmer tragen. Der Bürgermeister steht dabei, die geballten Fäuste in den Hosentaschen vergraben, und sieht ohnmächtig zu. So sehr er zürnt, so heiß die Wut in ihm kocht, weiß er doch ganz genau, daß er nichts machen kann, weil er zur Erhaltung des Kindes verpflichtet ist.

»So, da sind die Sachen. Mehr war es nicht. Ihr könnt drüben nachfragen, wenn Ihr mir mißtraut.«

Nochmals flammt der Zorn des Bürgermeisters auf.

»Und ich sag – daß ich es nicht leide – ich will nicht –«

»Das macht untereinander aus. Ich selber kann nichts dafür. Wir haben kein Geld.«

Der Mann wendet sich zum Kind.

»Bleib recht brav, Hannerl, ich besuch’ dich bald – ja – gut sein zum neuen Onkel – recht folgsam sein – ja –«

Er bietet dem Bürgermeister die Hand, die dieser widerwillig nimmt. Das Kind blickt dem Manne unverständig nach. Es begreift dunkel, daß er sich von ihm trennt und fängt darum zu weinen an. Als es auf die Straße läuft, ist der Wagen bereits fort. Es geht in die Stube zurück, sieht zu dem großen, finsteren Mann auf, und als dieser sich abwendet, schleppt es seine Habe in den Winkel, wirft sich darauf und weint wieder.


Der Bürgermeister rief die Bauern zusammen. Sie wetterten und tobten, weil sie einen unnützen Esser ernähren sollten. Aber da sie sich nicht helfen konnten, fügten sie sich darein und suchten so billig wie möglich davonzukommen. Sie schrieben eine Art Versteigerung aus und bemühten sich, das Kind um ein möglichst geringes Kostgeld unterzubringen. Es wurde um ein paar Groschen gefeilscht. Niemand wollte das Kind nehmen, denn soviel, daß man daran verdienen konnte, gab die Gemeinde nicht, und umsonst wollte niemand das Kind erhalten. Wenn nur die Kosten gedeckt waren, dann blieben Zeit und Mühe unbezahlt. Hätte man es kaufen können – sich ein Anrecht auf die werdende Arbeitskraft sichern – das wäre eine gut verzinste Kapitalanlage gewesen. Das Kind billig großzufüttern, um dann ein williges Arbeitstier zu haben. Aber das ging nicht an.

Im hohen Rat der Gemeinde wußte man nicht aus noch ein. Witzbolde sagten, wenn sich niemand findet, muß der Bürgermeister das Kind behalten. Wäre es zu irgendeiner Arbeit zu brauchen gewesen, hätte er das auch gerne getan. Aber es war erst vier Jahre alt.

Endlich erinnerte man sich einer alten Häuslerin, die an der äußersten Grenze des Dorfes, wo der Wald begann, wohnte, und nichts zu beißen hatte. Die war für einen Groschen zu allem zu haben. Sie ließ das Kind hungern, aber das kümmerte niemanden, und wenn es bei ihr zugrunde geht, ist die Gemeinde von der Last befreit. Der Bürgermeister übernahm es selbst, das Kind hinzuführen. Und da nicht anzunehmen war, daß die Alte das Geschäft zurückweisen werde, galt die Sache für erledigt.


Die Hütte der Alten stand am Waldrand, war ehemals von Köhlern bewohnt gewesen, dann verfallen, eine Zeit lang hatten Zigeuner darin gehaust; als das Haus der Alten einmal niedergebrannt war, wies man ihr die Hütte an. Der Tischler vernagelte die eingebrochenen Fenster, zimmerte einige rohe Möbel, und damit war genug getan. Niemand dachte an das alte Weib, man sah es selten auf dem Stück Acker, das man ihm geschenkt hatte, traf es noch seltener im Dorf. Es suchte keinen und wurde von keinem gesucht.

Darum verwunderte sich die Alte sehr, als der Bürgermeister eines Tages daherkam – sie war vor Aufregung außer sich, lief in dem engen Raum umher, wußte nicht, was sie beginnen sollte.

»Aber die Ehre – der Herr Bürgermeister.«

Der Bürgermeister, der Eile hatte, beschwichtigte sie. Sie ließ es sich aber nicht nehmen, de Stühle abzuräumen, warf allerlei Plunder kurzerhand in den Winkel, holte aus einer Truhe eine Flasche Branntwein, um den Bürgermeister zu bewirten. Da ihm daran lag, sich mit der Alten zu vertragen, trank er einen Schluck. Nun wandte sich die Alte zu dem Kinde.

»Ja – was bringt ihr mir da für eine liebliche Prinzessin?«

»Das Kind soll bei Euch bleiben. Hört zu.«

Mit wenigen Worten klärte der Bürgermeister die Häuslerin über das Wichtigste auf. Die Alte war sofort einverstanden. Als sie das Geld für den ersten Monat sah, kannte ihre Freude keine Grenzen. Ihre brennenden Augen gierten aus fahlen Höhlen nach den Münzen. Der Bürgermeister beobachtete sie scharf.

»Du haftest selbstverständlich für das Kind.«

»Selbstverständlich – das süße Kleine – wird es gut bei mir haben. – Ich hab ja Kinder gern. Herr Bürgermeister – Sie wissen es gar nicht – so gern. Und dann – bin ich nicht mehr so einsam. Es ist manchmal recht unheimlich – da heraußen.«

Und ihre Blicke strichen neugierig nach dem Bündel, das die Kleine trug.

»Das sind ihre Kleider. Einiges ist noch von der toten Mutter. Das kannst du für dich verwenden.«

»Tausend Dank – Herr Bürgermeister – tausend Dank. Werde meine Sache schon gut machen.«

»Ich schaue mal wieder her. – Wenn dem Kind etwas zustößt, meldest du’s sofort – verstanden?«

»Es wird ihm nichts zustoßen bei mir – ich werde es gut halten.«

Ohne auf das Kind zu blicken, ging der Bürgermeister davon.

Kaum war die Tür hinter ihm zugefallen, da stürzte sich die Alte auf das Bündel, riß es auf, wühlte in den Kleidern, suchte die buntesten Stücke, hielt sie sich selbstgefällig vor den Leib. Das Kind sah zu, wußte nicht, wie ihm war. Eine tiefe Leere gähnte in seinem Innern.


Es ging gegen Mittag. In dem kleinen Ofen flackerte Feuer, die Alte kochte Kartoffeln, das Kind saß stumm in der Ecke.

»Komm her – Kleine – komm her.«

Das Mädchen sah auf. Seine Augen hatten einen feuchten Glanz. Als es die Alte sah, fürchtete es sich.

»Na, so komm doch.«

Erst als das Essen dastand, kam das Kind, vom Hunger getrieben.

»Wie heißt du denn – sag!«

»Hannerl.«

»Und wie noch?«

Das Kind starrte verständnislos.

»Wie hieß deine Mutter?«

»Mutter«, sagte das Kind und blickte die Alte an, wie man etwas so Selbstverständliches fragen konnte.

Da sah die Alte, daß aus dem Kind nichts herauszuholen war.

»Und wie wirst du mich nennen?«

Wieder waren die Augen des Kindes groß, aufgerissen, fragend.

»Willst du mich Mutter nennen? Ich bin jetzt deine Mutter.«

Das Kind schüttelte den Kopf.

»Dann Großmutter.«

»Großmutter?«

»Ja. Großmutter. Weißt du nicht, was das ist?«

»Nein.«

»Du wirst das Wort schon behalten. Jetzt iß nur. Magst ein Stück Brot? Ein recht großes? Und viele Kartoffeln, recht viele?«

Der Hunger ließ das Kind alles vergessen, er schnitt ihm alle Gedanken ab. Stumm aß es seine Kartoffeln, kaute an seinem Brot.

Als es fertig war, fragte die Großmutter: »Nun – wie heiße ich – weißt du’s noch?«

»Großmutter.«

»Und wirst du mich lieb haben?«

Ein langer, irrender Blick ging über das Antlitz der Alten. Dann nickte Johanna.

»Ja.«


Die Alte war keine schlechte Person. Ihre Gier war nichts als das Ausgehungertsein der Armut, sie griff nach dem Geld, nur weil sie es brauchte, ihren Hunger zu stillen. Darum war sie auch zu Johanna nicht hart. Was sie dem Kinde an Essen versagen mußte, das ersetzte sie durch Freundlichkeit und Liebe. Sie sah in dem Mädchen den hilflosen, verlassenen Menschen, der ihr anvertraut war, und sie wußte wie es tat, keinen zu haben, der einen lieb hat. Daß dieses Wesen ihr Brot brachte, das war einmal so, das minderte nicht seine Hilflosigkeit, seine Verlassenheit.

Sie nahm das Kind mit, wenn sie aufs Feld ging, gab ihm Blumen und Steine zum Spielen, erzählte ihm Geschichten von Tieren und Wunderwesen. Die Einsamkeit gab ihr Nährboden für die Ausbreitung der Phantasie, die Märchen der Alten taten das Ihrige, und Johanna sah die Welt von Elfen und Nixen und Kobolden und Riesen erfüllt.

So gingen die Monate dahin, der Winter kam, sperrte Johanna in die Hütte, engte ihren Gesichtskreis ein, band sie noch enger an die Alte. Nun begannen die Dinge in der Hütte zu leben, Pfosten und Brett und Pfanne und Bank sprachen eine stumme, unfaßbar schöne Sprache, waren Johanna nahe, daß sie sie streichelte, daß sie weinte, wenn die Pfanne auf den Boden fiel, weil sie sich anschlug und das wehtat.

Die Alte gewöhnte sich so an das Kind, gewann es so lieb, daß sie in ihm nicht mehr das Verdienstobjekt, sondern das einzige nahestehende Wesen sah, dessen Leben mit ihrem verbunden war. Und auch Johanna gewann die Alte lieb, vergaß alles, was früher gewesen, und fühlte sich glücklich.

II.

Das Jahr verrann, abwechslungslos trottete das Leben seinen Gang. Johanna wuchs, der Sinn für ihre Umwelt ging ihr auf, sie fragte nach den Namen der Blumen und Tiere, wollte alles erklärt haben, lernte die Wunder des Waldes kennen und freute sich über Vögel und Schmetterlinge.

Aber die Zeit des Spielens, der Sorglosigkeit, war bald vorüber. Die Alte zog das Mädchen nach und nach an Arbeiten heran, es mußte helfen, Unkraut jäten, mußte die Ziege, das einzige Haustier, das die Alte besaß, bewachen, und ihr mühsam über alle Felsblöcke nachklettern, wenn sie sich verstieg, sie mußte Gänge machen, zum Krämer gehen, zum Müller und kam so mit den Menschen in Berührung. Sie wurde übersehen, verachtet, war nur so ein lästiger Esser, der viel Geld kostete. Niemand hielt damit zurück, sie fühlen zu lassen, daß sie von der Gnade anderer lebe. Der Bürgermeister musterte sie mit unfreundlichem Blick, wenn er das Kopfgeld brachte, dann kam er nicht mehr, sandte es durch einen Boten, durch einen Bauern, der zufällig vorüberging. So war das Kind ganz der Alten überlassen.

Die Alte gab Johanna aus ihrem Wissen soviel sie konnte. Sie beantwortete ihre Fragen, mischte immer Spukvorstellungen in ihre Erklärungen, mengte Einbildung und Wirklichkeit, daß sie Johanna oft verwirrte. Aber es war ihr seltsam, wie sie sich gewandelt hatte. Sie gab Johanna an Essen, was ihre Mittel erlaubten; im Anfang war ihr das Kind ein aufgezwungener Gast, ein Mensch, den man aufnahm, weil er Geld ins Haus brachte. Nun fand sie ein gutmütiges, schmiegsames, dankbares Wesen, das niemals ein liebes Wort gehört hatte, solange seine Erinnerung zurückreichte, und das jeden liebte, der seinen Hunger stillte.


Auch die Kinder des Dorfes übersahen Johanna. Johanna wollte nicht mehr ins Dorf. Wenn sie Menschen sah, verbarg sie sich, bis sie vorüber waren. Aber sie beobachtete die Menschen. Sie sah schöne Puppen in den Händen der Kinder und verlangte auch eine Puppe. Die Alte versprach, ihr eine zu nähen, bis sie Zeit dazu hätte. Johanna weinte. Sie wollte keine genähte, keine Puppe aus alten Lappen. Schön sollte sie sein, mit echten Haaren wie die Puppen der anderen Mädchen. Da sagte die Alte, sie sei unbescheiden, dürfe nicht alles verlangen, sei nur ein Bettlerkind. Gleich tat ihr das harte Wort leid. Sie kramte Tuchstücke hervor, machte eine Puppe. Es wurde ein Wechselbalg, ein roher, schlecht gestopfter Körper, mit Stroh gefüllt, der Kopf aus Leinwand, kleine Knöpfe als Augen. Die Kleider waren aus grellen Stoffen, feuerrot und violett, eine alte Schachtel sollte das Puppenbett sein. Mit feuchten Augen sah Johanna die Puppe entstehen. Als sie fertig war, warf sie sie in den Winkel. Sie sah gar nicht einem kleinen Kinde gleich wie die echten Puppen. Die Alte wurde böse, sie hatte sich mehrere Stunden geplagt, und nun wurde ihre Puppe mißachtet. Aber sie verstand den Schmerz des Kindes und bändigte deshalb ihren Zorn. Mit vielen Worten versuchte sie dem Kinde klarzumachen, daß sie keine Puppe kaufen könnte. Das hielt aber den Tränenstrom nicht auf. Was sind alle Erklärungen und Gründe, alle Worte und Tröstungen gegen die brutale Tatsache, daß das Kind nicht bekommen kann, was es will, womit andere Kinder sich freuen; die Tatsache zerreißt das Herz, und den Platz, den die Freude in der Seele hätte einnehmen sollen, füllt der Neid aus.


Ein furchtbares Laster hatte die Alte: sie trank. Früher, da sie kaum das kümmerliche Brot hatte, reichte es nicht zu soviel Branntwein, wie sie wollte. Aber jetzt konnte sie ihren Durst stillen. Sie humpelte mindestens einmal am Tag zum Wirt. Holte eine Flasche Schnaps heim und begann ihr einsames Gelage. Einmal hatte sie Johanna trinken lassen – das Mädchen hatte das brennendscharfe Zeug ausgespuckt, die Tränen waren ihm in die Augen getreten, über den Schmerz in der Mundhöhle hatte es aufgeschrien. Seither gab ihm die Alte nichts mehr. Sie umschlich die Flasche, die auf einem Wandbrett stand, mit lüsternem Blick, wartete, bis Johanna in ihren Verschlag kroch, um zu schlafen. Dann holte sie ein seltsames altes Glas hervor und trank, solange, bis die Flasche leer war. Wilde Lieder summte sie dann vor sich hin und hielt mit sich selbst Gespräche. Oft schreckte Johanna aus dem Schlaf auf, wenn das Glas und die Flasche zusammenstießen, daß ein schriller Klang durch den Raum pfiff.


So geschah es wieder einmal nachts. Johanna fuhr jäh auf. Es brannte noch Licht. Über den Tisch floß Branntwein, tropfte auf den Boden, auf die Glasscherben, die ihn bedeckten. Die Alte tanzte, halbnackt, mit wirren Haaren, drehte sich, schlug um sich, warf einen Sessel um, stieß rohe Worte aus. Das Kind sah in seiner Angst phantastische Schreckbilder. Oder war es die Hexe, die Hänsel und Gretel gefangen gehalten hatte? – – Doch nein, das konnte nicht sein, die war ja verbrannt – die hatte Gretel ja in den Ofen gestoßen – nein – aber dann war es Teufels Großmutter, die in der Hölle arme Sünder quälte – – so, das war es – Teufels Großmutter.

Das Kind sprang aus dem Bett. Die Gesichtszüge der Alten wurden ihm deutlicher. Die Kälte gab ihm die Sinne wieder.

»Aber Großmutter – Großmutter – was hast du denn?«

Die Alte erwachte aus ihrer Berauschung.

»Ins Bett, Hannerl, ins Bett – es ist ja so kalt.«

Ihr Blick fuhr über den Tisch.

»Der schöne, süße Branntwein. Die dumme Großmutter – hat ihn umgestoßen – ganz umgestoßen –«

»Der süße Branntwein –« lallte sie.

»Ja, Hannerl, wenn du nicht wärst, hätte Großmutter keinen Branntwein. Dann müßte Großmutter Wasser trinken – brrr! – statt süßen Branntwein –«

Das Kind starrte hilflos, verständnislos auf die Frau. Es wußte nicht, was Großmutter so verändert hatte. Die Alte wankte zwischen den Sesseln, fiel zu Boden, lallte unverständliche Worte. Johanna ging zu ihr, sie stieß das Kind fort.

»Laß mich, geh ins Bett – schnell – schnell – sonst wirst du krank – und dann stirbst du – und wenn du tot bist – hat Großmutter – keinen Branntwein mehr –«

Gehorsam kroch Johanna ins Bett. Aber sie konnte lange nicht einschlafen, sah auf die Großmutter, hörte noch lange ihr irres Singen, durch das scharf ein Uhu-Schrei von draußen schnitt. Johannas Augen sanken zu. Sie vergaß, was vorging, alles tauchte in Schlaf. Als sie am Morgen erwachte, war die Szene vergessen.


Dem Wirt fiel es auf, daß die Alte nun soviel Branntwein kaufte, er erzählte es dem Bürgermeister. Der war lange nicht bei der Alten gewesen.

Diesmal kam er, als der Monat um war, selbst.

Die Alte empfing ihn mit gewohnter Unterwürfigkeit.

»Wie geht’s dir –«

»Könnt wohl besser gehen, Herr Bürgermeister.«

»Und dem Kind?«

Johanna wurde von der Alten vorgeschoben.

»Es wächst viel – und wird gescheit. Es fragt soviel.«

Der Bürgermeister sah Johanna an. Sie war gewachsen – war stark geworden. Ihr Leib war fest, hatte derbe Knochen, wenn auch ihr Gesicht nicht schön war. Noch ein Jahr lasse ich sie, dachte der Bürgermeister; wenn sie zwölf ist, kann sie schon etwas leisten – dann nehme ich sie zu mir. –

»Nun – dann ist so alles gut.«

»Vielleicht ein Gläschen gefällig?« fragte die Alte und wollte die Flasche holen.

»Nein – danke – war soeben beim Wirt. Soviel vertrage ich nicht mehr. Das Alter macht sich langsam bemerkbar.«

Er zog den Beutel aus der Tasche, legte Geld auf den Tisch.

Die Alte griff danach, zählte.

Es war weniger als sonst.

Erst wollte sie schweigen. Aber dann, als sie daran dachte, was ihr verloren ginge, meldete sie sich.

»Herr Bürgermeister – entschuldigen schon – aber – es stimmt nicht.«

Der Bürgermeister hatte das erwartet. Er zog die Weste straff über seinen Bauch und erhob sich. Dann kam die Standrede.

»Doch, doch, es stimmt schon. Wir zahlen von nun ab weniger.«

»Ja, warum denn?«

Der Bauer wies auf die Schnapsflasche.

»Deswegen. Du brauchst es ja nicht. Hast viel Geld für Branntwein. Das muß die Gemeinde nicht zahlen.«

In der Alten Häuslerin wallte es auf.

»Dann behalte ich das Kind nicht mehr –«

Der Bürgermeister wußte, daß es der Alten damit nicht ernst war.

»Dazu bist du nicht verpflichtet, das ist richtig. Wir werden einen anderen Kostplatz suchen.«

Nun wollte die Alte begütigen.

»So ernst – ist das nicht gemeint gewesen – Herr Bürgermeister. Aber ich meine doch, daß man mir soviel zahlen sollte wie früher. Das Kind wird größer und braucht mehr. Und alles wird teurer.«

»Solange es für Schnaps reicht – gibt’s nicht mehr. Wenn du statt dessen dem Mädel ein Kleid kaufst, dann vielleicht. Dann komm zu mir – und du bekommst das Übrige.«

Er konnte es wohl wagen, der Alten das Geld auf diese Weise zu vermindern. Bevor sie ihren Schnaps ganz verlor, verzichtete sie doch lieber auf einen Teil.

»Aber wenn das Kind dann nicht so gut gehalten ist – es reicht halt nicht – ich kann dann nichts dafür.«

»Wenn es schlechter gehalten wird als bisher, nehmen wir es fort.«

Die Alte sah, daß sie unterlag.

»Ich werde es versuchen. Und wenn es doch nicht ausgeht, dann komme ich zu Euch und sage es Euch.«

Der Bürgermeister ging. Ein Fluch flog ihm nach. Die Alte nahm die Flasche und trank sie aus. Einige Stunden saß sie, starrte vor sich hin, sprach nichts. Als Johanna hungrig um Brot bat, schlug sie das Kind. Das war das erstemal. Es sollte nicht das letztemal sein.


Von nun an war die Alte ganz verändert. Sie mußte ihren Schnaps haben, und das Geld dazu sparte sie vom Essen ab. Wenn Johanna über Hunger klagte, bekam sie Prügel. Dann hieß es immer:

»Geh zum Bürgermeister – der zahlt nicht für dich – hol dir dort Essen. Der hat mehr als ich.«

Johanna wurde vergrämt, schweigsam, und begann über die Dinge zu grübeln.

Die Kinder der Bauern hatten Spielzeug und gutes Essen, schöne Kleider, bunte Bänder – und sie hatte nichts. Warum die Anderen und sie nicht? Sie war genauso wie die Anderen, hatte Augen, Ohren, Glieder wie die Anderen – und hungerte, lief in Lumpen herum, mußte mit alten Flaschen und Steinen spielen.

Nach und nach trug ihr die Alte schwere Arbeiten auf. Sie mußte auf dem Felde helfen, Wasser schleppen, Holz hacken, mußte Gras für die Ziege heimtragen. Mehr als knappe Befehle sprach die Alte nicht. Nur eine Bemerkung wiederholte sie stets, Tag für Tag:

»Mach schnell – schnell – daß du nicht ganz umsonst ißt – wie komme ich dazu, dich auszufüttern – gehst mich gar nichts an – bist fremd – –«

Johanna wich der Anrede der Großmutter aus, sprach nicht mehr als ja oder nein, wenn sie gefragt wurde.

Es begann eine freudlose, düstere Zeit für Johanna.


Früher hatte die Alte dem Kind oft vom Pfarrer erzählt, vom geistlichen Herrn, der so mild sei und mit dem Himmel so gut stünde, und der überall helfen könnte, wo der Mensch Hilfe versagte. Johanna hatte ihm demütig die Hand geküßt, wenn sie ihm begegnet war, er hatte aber nie ein Wort mit ihr gesprochen. In die Schule ging sie nicht, ob sie etwas lernte oder nicht, lag ja keinem am Herzen. Der Pfarrer wußte, wer sie war, und achtete ihrer nicht.

Als sie den Pfarrer einmal traf, an einem Sommerabend zwischen den Feldern, da blieb sie stehen, nachdem sie ihm die Hand geküßt hatte, damit er sie fragen sollte. Er blickte sie an, las in ihren Augen, daß ein Wunsch in ihr webte, und ermunterte sie zu sprechen.

Da schüttelte sie ihren Kummer aus; nicht daß sie sich über die Alte beklagte, dazu war sie zu einfältig. Sie jammerte nur, daß sie Hunger habe, daß sie nichts zu essen bekäme, mittags wenig, abends oft gar nichts. – Und daß er, der doch gewiß helfen könnte, ihr helfen sollte.

Der Pfarrer setzte eine ernste Miene auf und begann zu lehren.

»Mein Kind – du mußt zufrieden sein. Du bist arm, du weißt nicht, was das heißt. Du hast keine Eltern, du hast niemanden, der dich zu nähren verpflichtet wäre. Wir geben dir Essen – aus Nächstenliebe, weil wir gute Christen sind. Unser Herrgott hat uns geboten, die Armen zu beteilen – weil sie ihm nahestehen. Deshalb zahlen wir für dich. Da darfst du nicht unzufrieden sein. Viele haben nicht einmal was du hast. Viele hungern und haben kein Dach über dem Kopfe. Sei genügsam und danke dem Herrgott, daß er dich unter so gute Menschen gesetzt hat, die für dich sorgen, obwohl du ihnen eigentlich fremd bist. Nicht jeder Mensch trifft es so gut. Und dann, du wirst ja groß werden und selbst verdienen. Bis dahin mußt du Geduld haben. Und wenn dein Leid groß ist – komm in die Kirche, knie nieder vor der Muttergottes, bitte, daß sie dir Mut gibt, dein Leid zu ertragen. Und denke immer derer, denen es noch schlechter geht.«

Johanna hatte zugehört. Niemals noch hatte jemand so zu ihr gesprochen. Obwohl sie nicht mehr verstand, als daß sie mit ihrem Hunger zufrieden sein müsse, dankte sie dem Pfarrer. Der Klang seiner Worte hallte wie Musik in ihren Ohren. Sie beugte sich und küßte nochmals des Pfarrers Hand.

Dann gingen sie voneinander, er dem Dorfe zu, sie zu ihrer Hütte. Der Hunger brannte in ihr – biß, zerrte an den Eingeweiden. Er war von Gott geschickt – aber warum schickt ihr Gott den Hunger, und den Anderen gutes Essen und schöne Puppen?

Die Sonne war untergegangen. Es war dunkel, den ganzen Heimweg war es stockdunkel.

Das erste, was sich tief, unverwischbar einbohrte in Johannas Bewußtsein, war ihre Armut, war die Erkenntnis, auf die Gnade Anderer angewiesen zu sein, sich noch freuen zu müssen, die ihr mit dem Ausdruck der Verachtung eine schimmelige Brotrinde zuwarf. Und ob dieser Gnade müsse sie schweigen, die Tränen hinunterwürgen, schweigen, schweigen, was auch immer in ihr vorging.

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