Kitabı oku: «Tru & Nelle», sayfa 2
4.
Zu heiss für Heckmeck
Ich glaube, ich schmelze», jammerte Truman mit seiner unverwechselbaren Singsang-Stimme. Nachdem sie stundenlang Piraten, Ritter der Tafelrunde, zwei Runden Murmeln und dreimal Jacks gespielt hatten, gingen ihnen die Ideen aus, was sie machen könnten.
Schwitzend und schläfrig ließen er und Nelle sich in den Schatten der Muskateller-Weinlaube plumpsen, wo es kühl war und ein Lüftchen wehte. Sie fächelten sich mit dem Kreuzworträtsel aus dem Monroe Journal Luft zu, das sie heute Morgen auch schon gelöst hatten.
«Die Wirklichkeit ist so langweilig! Ich wünschte, in diesem Ort würde wenigstens einmal irgendwas Aufregendes passieren. Jetzt bin ich schon über einen Monat hier, und es ist mit New Orleans überhaupt nicht zu vergleichen.»
«Tja, vielleicht ist es nicht so aufregend wie New Orleans», sagte Nelle. «Aber hier passieren trotzdem auch Sachen. Erst neulich ist wegen diesem schwarzen Jungen namens Edison eine ganze Menschenmenge auf dem Marktplatz zusammengelaufen, weil er alles nachmachen konnte, was man ihm sagte. Er konnte Vögel und Pferde imitieren, Mr. Barnett und sein Holzbein, die Baumwollentkörnungsmaschine, einfach alles. Ich hab ihn gebeten, den Postzug nachzumachen, und sofort fing er an, mit den Füßen über die Erde zu schlurfen, zu tuckern und zu tuten, wie eine Eisenbahnpfeife! So was sieht man nicht alle Tage!»
Truman ließ sich nicht beeindrucken. «Ich schätze, wir könnten runter zum Drugstore gehen und nochmal ein paar Süßigkeiten umsonst bekommen.» Er drehte die Augen in seinem Kopf nach hinten und begann zu zucken und zu rucken, als hätte er Krämpfe.
«Lass das. Wegen dir hat Mr. Yarborough beinah einen Herzanfall gekriegt. Sein Sohn ist Epileptiker, weißt du? Und ich glaube, er weiß genau, dass Krämpfe nicht mit Bonbons weggehen.»
«Er hat uns trotzdem Lakritze geschenkt.»
«Ja, um uns loszuwerden.»
Truman setzte sich auf. «Wir brauchen irgendein Großstadt-Abenteuer. So was wie … stell dir vor, jemand würde verschwinden. Oder es gäbe einen Mord in der Stadt! Dann hätten wir wirklich was zu tun.»
Nelle starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. «Was zum Kuckuck hätten wir denn mit einem Mord oder einer Entführung zu tun?»
«Na ja, den Fall lösen, natürlich. Wir könnten Detektive sein.» Er schnippte mit den Fingern. «Ich könnte Sherlock sein und du Watson! Das Gehirn und die Muskeln. Guck mal!» Er tat so, als würde er Pfeife rauchen.
«Warum kann ich denn nicht – ach, egal. Hier wird sowieso nie jemand ermordet. Mensch, sogar als General Lee höchstpersönlich nach Monroeville kam, hat er es den langweiligsten Ort der Erde genannt!»
Sie starrten beide in den tiefblauen Himmel von Alabama und zählten die kleinen weißen Baumwollbüschel, die aus der Baumwollentkörnungsmaschine durch die Stadt wehten.
«Also, da hat er mal recht gehabt», sagte Truman schließlich. «Ich schätze, es ist zu heiß für Heckmeck. Der einzige Ort, wo wahrscheinlich was los ist, das ist der Schwimmteich bei der Hatter-Mühle. Wir könnten schwimmen gehen und uns wenigstens abkühlen. Es ist zwar nicht Lake Pontchartrain, aber besser als nichts.»
Nelle verzog das Gesicht. «Da willst du nicht wirklich hin.»
Trumans Augen begannen zu leuchten. «Warum nicht? Gibt’s da Alligatoren? Ist es gefährlich?»
Nelle wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie kannte die Jungs, die sich bei der Mühle herumtrieben. Billy Eugene und seine Kumpel würden einen Jungen wie Truman gnadenlos verprügeln. Und das Wenigste, was sie tun konnte, war, ihm solchen Ärger zu ersparen.
«Nein, es ist nur …» Ihr fiel keine gute Ausrede ein.
«Was denn?» Neugierig legte er den Kopf schräg. «Du bist doch kein Hasenfuß, oder? Kannst du vielleicht nicht schwimmen?»
Nelle war gekränkt. «Nein, ich bin kein Hasenfuß und ich kann sicher besser schwimmen als du!» Sie wollte ihn mit durchdringendem Blick zum Wegsehen zwingen. Er lächelte sie aber nur an.
«Schön, dann lass uns hingehen», sagte sie. «Aber nur unter einer Bedingung.»
«Und die wäre?», fragte er unschuldig.
«Du musst dir was … Normaleres anziehen.»
«Was Normaleres?», wiederholte Truman und blies sich die langen feinen Ponysträhnen aus den Augen. «Seit wann macht normal denn Spaß? Ich meine, schau dich doch selbst an. Du bist ein Mädchen und ziehst dich an wie ein Junge!»
Nelle zupfte an ihrer Latzhose. Sie wusste, dass es sinnlos wäre, ihm zu widersprechen. Truman war nur ein Jahr älter als sie, aber er benahm sich, als wäre er schon erwachsen. «Schön», sagte sie. «Aber dann gib nicht mir die Schuld, wenn irgendwelche Jungs dich vom Dach der alten Mühle werfen. Du musst immer irgendwie … anders sein.»
Truman grinste wie ein schelmischer Kobold, der einen Streich ausheckte. «Wer, ich? Was kann ich dafür, wenn ich ein … Trendsetter bin.» Er wartete auf eine Reaktion von Nelle, die sich einfach weigerte, bei seinem kleinen Wörterbuchspiel mitzumachen. Er zückte trotzdem sein Mini-Wörterbuch und schlug es auf einer markierten Seite auf. «Das bedeutet ‹auf Neuerungen aus seiender Pionier› –»
«Ach, ist mir doch egal, was es bedeutet, Streckfus», sagte sie und tat so, als interessiere er sie überhaupt nicht.
Truman schob die Unterlippe vor und schmollte. Er hasste es, wenn sie ihn so nannte. «Wie du willst, Nä-lie Haar-perr!»
Sie streckte ihm die Zunge raus und er zuckte mit den Schultern.
«Na gut, dann los, zieh dich um», sagte sie. «Wir treffen uns da drüben, du alter … Leithammel.»
Truman kicherte. Nelle war der einzige Mensch, den er kannte, der genauso gut wie er mit Wörtern umgehen konnte.
Natürlich waren an diesem Nachmittag alle am Teich bei der Hatter-Mühle. Billy Eugene, Hutch, Doofie und Twiggs Butts blödelten herum, sprangen kopfüber ins Wasser und schrien den anderen Kindern ständig irgendwas zu. Die mädchenhaften Mädchen, die Angst hatten, sich das Haar nass zu machen, gaben niedliche Bemerkungen zurück und versuchten, sie dazu zu bringen, dass sie vom Dach der Mühle sprangen. Nelle blieb für sich und watete durch das kühle Wasser am Ufer, wo Fische sie an den Beinen kitzelten.
Plötzlich wurde alles still. Nelle blickte auf und sah Edison, den schlaksigen Jungen mit besonders dunkler Haut. Sie fand, er sah wie ein richtiger Afrikaner aus. In Shorts, die aus einem alten Mehlsack genäht waren, stand er am Teichufer, tauchte seine Zehen ins Wasser und machte dazu das Geräusch eines rauschenden Bachs.
«He, Junge, was treibst da du eigentlich?», schrie Billy Eugene.
Edison blickte sich um und merkte, dass alle ihn anstarrten. «Tauche meine Zehen ein und unterhalte mich mit dem Bach», antwortete er leise.
Die Jungs lachten. «Du weißt doch, dass Farbige hier nicht erlaubt sind. Du musst rüber zum Negerteich.*»
Edison machte ein verwirrtes Gesicht. «Der Negerteich ist ausgetrocknet, seit ihr den Damm gebaut habt.» Er zeigte ein Stück weiter auf den ausgetrockneten Teil des Teichs, in dem sich nur noch eingetrockneter Schlamm befand.
«Was kann dir denn ein bisschen Schlamm schaden, Junge?», sagte Billy. «Schwärzer kannst du sowieso nicht werden!» Er und seine Freunde lachten sich darüber kaputt.
Nelle konnte sehen, wie Edison die Zähne zusammenbiss. Sie hasste das, wenn Jungs wie Billy absichtlich Kinder schikanierten, die sich nicht wehren konnten. Denn ein farbiger Junge, der einen weißen schlug? Das war nicht erlaubt. Sie wollte schon selbst rübergehen und Billy Eugene einen Schlag auf die Nase verpassen, damit er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte. Doch da hörte sie jemand singen.
«I found a million-dollar baby … in a five-an’-ten-cent store!» Nach dem Gesang wurde die Melodie gepfiffen und dann bog Truman um die Ecke. Unauffällig wie ein Pfau stolzierte er mit einem Sonnenschirm den Weg herunter und tat wie Der kleine Lord.
«Hey, Edison!» Er winkte und blieb stehen, damit jeder sein Badekostüm bewundern konnte.
Während die Jungs alle barfuß waren und alte Badehosen trugen, die aus abgeschnittenen langen Hosen gemacht waren, präsentierte Truman sich in einem knallroten Hawaiihemd, weißen Schwimmsandalen und einer modischen babyblauen Badehose, die seine Mutter ihm auf einer Reise nach Florida gekauft und geschickt hatte.
Nelle hatte das Gefühl, sie müsste vor Verlegenheit sterben. Als Edison Trumans Hemd anfassen wollte, wedelte dieser seine Hand scherzhaft weg. «Nicht berühren! Nur mit den Augen bewundern, so wie alle anderen auch.» Dann zwinkerte er Edison zu und flüsterte: «Jetzt komm mit mir.»
Edison folgte ihm grinsend.
Truman war klein für sein Alter, aber er hielt seinen großen Kopf hochgereckt und stolzierte so elegant wie ein schicker Prinz aus Monaco zu Nelle – was alle anderen mit staunenden Blicken verfolgten. Nelle war sich sicher, die Jungs würden ihn zusammen mit Edison in den Schlamm zerren, aber niemand sagte etwas – sie glotzten nur mit sperrangelweit aufgerissenen Mündern.
«Warum normal sein, wenn man auch Spaß haben kann?», sagte er, während er mit Edison zu Nelle watete. «So halten wir das jedenfalls in New Or-leeeens.»
Sie gaben ein eindrucksvolles Bild ab – der kleine Prinz, das jungenhafte Mädchen und der schlaksige schwarze Junge, der alles nachmachen konnte. In Monroeville waren sie vorläufig eine Attraktion.
Nur Truman konnte aus einem schläfrigen Samstag etwas Aufregendes machen.
*Dieser hier verwendete Begriff gehört in die Zeit und wird im Glossar erklärt.
5.
Kalt erwischt
Okay, mach die Augen auf», sagte Nelle.
Truman schob Nelles Hände von seinem Gesicht weg. Er fand sich mitten auf dem Marktplatz von Monroeville wieder. Direkt vor dem Gerichtsgebäude, dem ältesten und prächtigsten Bauwerk des Landes, auch wenn die Uhr in dem beeindruckenden Turm immer fünf Minuten nachging.
«Was wollen wir hier?», fragte er. Ihm war eher danach, wieder schwimmen zu gehen, aber Nelle hatte andere Pläne.
«Du meintest doch, du möchtest etwas Spannendes erleben. Nun, hier ist es», antwortete sie, als ob das ganz offensichtlich wäre.
«Das Gerichtsgebäude?»
Sie knuffte ihn in die Schulter. «Du Dummerchen. Was glaubst du, wo die ganzen Kriminellen landen? Ich dachte, du magst Sherlock Holmes?»
Truman riss die Augen auf. «Meinst du, hier wird ein Mordfall verhandelt?»
«Wer weiß? Ich komm’ oft her, und jedes Mal geht’s um irgendein Vergehen. Manchmal ist das besser, als ins Filmtheater zu gehen.»
Truman überlegte angestrengt. «Moment mal. Wie kommt es, dass man dich überhaupt reinlässt? Dürfen da nicht nur Erwachsene rein?»
«Nein, zum Kuckuck!», sagte sie und zog ihn mit. «Man kennt mich hier, weil ich eben über gewisse Beziehungen verfüge …»
Sie ging zum Haupteingang, vor dem ein paar Stadtpolizisten herumliefen. Einer der Officers, ein schwerfälliger Tölpel mit langem, zotteligem Bart, erkannte sie sofort. «Guten Morgen, Miss Nelle. Suchst du deinen Daddy?»
«Nö, wir sind hier, um bei dem neuen Fall zuzusehen.» Der Polizist hob die Augenbrauen und schmunzelte. «Also, der ist allererste Sahne, Miss Nelle. Ich hoffe, du und dein Freund, ihr seid nicht so leicht zu erschrecken.»
Truman hatte keine Lust, sich die Laune verderben zu lassen. «So schnell kriegen wir keine Angst. Denn Sie sollten wissen, ich habe der Gefahr schon aus nächster Nähe ins Auge geblickt, Sir. Als ich in New Orleans lebte, hielt ein Nachbar einen Tiger in seinem Keller.»
«Was du nicht sagst», entgegnete der Polizist.
«Doch das stimmt, Officer. Und Junge, Junge, dieser Tiger war vielleicht wild! Er hatte, soweit ich weiß, bereits zwei Menschen bei lebendigem Leib verschlungen.»
«Warum hat er dich dann nicht gefressen?», fragte Nelle.
«Na ja … Ich schätze, Tiger mögen mich», antwortete Truman ganz nüchtern. «Immer wenn ich ihn gestreichelt habe, hat er wie ein kleines Kätzchen geschnurrt. Eines Tages kam der Postbote vorbei, und wäre ich nicht da gewesen, wäre er von dem Tiger mit Haut und Haar verspeist worden!»
«Was? Das übertrifft ja alles, was ich bisher gehört habe», sagte der Polizist und glaubte Truman kein Wort. «Also, ich schätze mal, wie heißt es so schön – Tiger fressen keine Knirpse!», gackerte er vergnügt.
Die Officers lachten aus vollem Hals und betraten dann das Gerichtsgebäude. Truman blieb stur auf der ersten Treppenstufe stehen und kochte vor Wut.
«Kommst du nicht mit? Du willst doch nicht etwa die Show verpassen», sagte Nelle.
Truman rührte sich nicht, also packte ihn Nelle an der Hand und zerrte ihn in das Gebäude. Drinnen angekommen drängten sie sich durch die dicht beieinander stehenden Erwachsenen und erreichten eine schmale Treppe am anderen Ende der Eingangshalle. «Nun komm schon. Hier geht’s zu den besten Plätzen», erklärte sie und kletterte die hölzernen Stufen hinauf. Sie kamen zu einem Schild, auf dem NUR FÜR FARBIGE stand, aber Nelle beachtete es gar nicht und öffnete eine Tür. Dann standen sie auf einem menschenleeren Balkon, von dem aus man in luftiger Höhe den Gerichtssaal überblickte. Unten befanden sich eine Reihe Personen: der tölpelhafte Polizist von eben, ein schrulliger, alter Richter in schwarzer Robe, eine müde wirkende Gerichtsstenografin und ein enorm dicker Anwalt, der sich leise mit seiner Klientin beriet, einer weißen Frau, die seltsamerweise wie eine indische Prinzessin in goldene und schwarze Gewänder gekleidet war. Gegenüber von den beiden saß hinter einem Tisch ganz ruhig ein Mann in einem schlichten, dunklen dreiteiligen Anzug und mit einer Hornbrille auf der Nase. Er studierte jeden im Saal sorgfältig.
«Dein Daddy arbeitet hier?», fragte Truman, als sie sich hinsetzten. «Er ist aber nicht dieser fürchterliche Polizist, oder?»
«Nein, natürlich nicht.» Nelle zeigte auf den Mann mit der Brille. «Das ist er. Das ist A. C.»
Nelles Daddy schaute auf seine Taschenuhr. Er schien ein ernsthafter, nachdenklicher Mann zu sein.
«A. C.? Was ist das denn für ein Name?», fragte Truman.
«A. C. steht für Amasa Coleman, aber seit ich denken kann, nennen ihn die Leute einfach A. C. Er ist Rechtsanwalt und Diakon … und Herausgeber des Monroe Journal.»
Truman verspürte einen Hauch Eifersucht.
«Psst!» Nelle versuchte, die Aufmerksamkeit ihres Vaters zu erregen. «A. C.!»
Aber A. C. ignorierte sie. Er blickte erneut auf die Uhr und dann auf den leeren Stuhl neben sich.
«Du sagst nicht Daddy zu ihm?»
«Nö. Jeder nennt ihn A. C., warum dann nicht auch ich?», antwortete Nelle. «Hey, sieh mal, da tut sich was.»
A. C. ging auf den Richter zu, der dann auch den anderen Rechtsanwalt zu sich rief. Sie sprachen leise miteinander, es ging hin und her, und gelegentlich schauten sie zu dem leeren Stuhl.
Daraufhin schlug der Richter mit dem Hammer auf den Tisch. «Ist Mr. Archulus Persons im Saal anwesend?», fragte er schroff. «Gerichtsdiener?»
Der Polizist meldete sich zu Wort. «Nein, Euer Ehren. Mr. Persons ward heute noch nicht gesehen.»
Der Richter nickte und machte sich eine Notiz. «Also gut. Heute Nachmittag soll Haftbefehl gegen ihn erlassen werden … Ist der nächste Fall soweit?»
Nelle wirkte verwundert. «Heiliger Bimbam. Scheinbar ist der Verdächtige geflohen! Hey, das ist doch spannend –»
«Wir sollten besser gehen», meinte Truman leise. Er benahm sich, als hätte er einen Geist gesehen.
«Ach, komm schon, es gibt doch noch einen weiteren Fall. Einer ist so gut wie der andere. Beispielsweise wurde Mr. Cooper vergangene Woche angeklagt, weil er Miss Anna Maes Pfirsichkuchen vom Fensterbrett gestohlen haben soll –»
Doch da war Truman schon aufgesprungen und lief hinaus.
«Truman! Wo willst du hin?»
Er verschwand die Treppe hinunter, aber Nelle war ihm dicht auf den Fersen. «Tru! Warte!»
Er rannte durch die Lobby, die Stufen vor dem Gerichtsgebäude hinunter und rechts in die Alabama Avenue. Als sie ihn schließlich mitten auf der Straße am Ellenbogen erwischte und festhielt, war sie so atemlos und durcheinander, dass sie nicht einmal sah, wie das Auto auf sie beide zuraste.
6.
Eine knappe Sache
Das Gehupe und die quietschenden Reifen erschreckten sie beide fast zu Tode. Plötzlich starrten sie in zwei Scheinwerfer.
«Truman! Da bist du ja!»
Truman blinzelte und sah schemenhaft, wie sich eine Gestalt in dem Cabriolet aufrichtete, die nun durch den hochgewirbelten roten Staub in seine Richtung spähte.
«Daddy?», fragte er wie unter Schock.
Nelle ließ seinen Arm los. Vor Schreck hatte sie sich in die Hose gemacht.
Während sie mit rotem Kopf dastand und nicht wusste, was sie als Nächstes tun sollte, ging Truman um den Wagen herum zur Beifahrerseite. Sein Vater trug einen Panama-Strohhut und grinste von einem Ohr zum anderen.
«Daddy», sagte Truman atemlos.
«Komm, mein Sohn», sagte der und öffnete die Beifahrertür. «Wir müssen los. Jetzt.»
Truman stieg ein und warf sich seinem Vater in die Arme.
Der drückte ihn fest an sich, blickte aber nervös um sich. «Ich wollte dich überraschen. Bist du überrascht?»
Truman nickte und traute seinen Augen nicht. Zwei Monate hatte er den Vater nicht gesehen.
«Ich würde schon sagen, dass er überrascht ist!», sagte Nelle, deren Verlegenheit sich in Zorn verwandelt hatte. «Wo haben Sie denn bloß gesteckt? Also, wenn mein Daddy mich jemals so lange allein lassen würde, dann –»
«Wer ist denn dein reizender Freund, Truman?», fragte er. «Er scheint ein temperamentvoller Bursche zu sein.»
Da wurde Nelles Gesicht noch eine Spur röter. «Ich bin eine Sie, verdammt! Nur weil ich kein Kleid anhabe, heißt das nicht, dass ich keins anziehen könnte!»
Trumans Daddy tippte an seinen Hut. «Tja, dann musst du wohl die Königin der burschikosen Mädchen sein, was, Schätzchen?» Er stieß Truman mit dem Ellbogen an. «Lass dich nie mit einer temperamentvollen Frau ein, Tru. Das habe ich bei deiner Mutter gelernt. Jetzt müssen wir aber wirklich los –»
Truman schoss vor Aufregung in die Höhe. «Ist Mutter auch hier?»
Sein Vater ließ den Motor an. Es knirschte grässlich, als er den Gang einlegte. «Mehr oder weniger …»
Truman sah ihn mit dem Blick eines Hundewelpen an. «Bedeutet das, dass wir alle zusammen nach Hause fahren werden?»
Sein Vater wurde blass. «Wir haben Familienangelegenheiten zu besprechen, Truman. Lass uns erst einmal zum Haus fahren.»
Der Mann tippte nochmal in Nelles Richtung an seinen Hut. «Nett, dich kennengelernt zu haben, kleiner Hosenmatz. Mein Name ist Archulus Persons.»
Nelle blinzelte. «Einen Moment mal … Archulus?»
Er gab ordentlich Gas und ließ Nelle einfach auf der Straße stehen.
«Freut mich, dass du Freunde gefunden hast», sagte Arch, während er rasch von der Hauptstraße abbog und eine leere Gasse hinauffuhr. Dabei machte er einen nervösen Eindruck.
«Bringst du mich nach Hause?», fragte Truman.
Arch räusperte sich und begann stockend zu sprechen: «Truman … ich weiß, dass das für dich alles nicht leicht war, mein Sohn. Und wenn deine Mutter nicht so stur wäre, dann wären wir auch längst alle wieder zusammen. Aber sie hat diese Idee, in eine teure Großstadt wie New York zu ziehen … weil sie uns für Millionäre hält!» Er stöhnte. «Ach, ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.»
Eine Weile fuhren sie schweigend. Truman hatte so viele Fragen. Dann platzte diese aus ihm heraus: «Wieso haben die dich im Gericht gesucht?»
Archs Augenbrauen schossen in die Höhe. «Wovon redest du, mein Sohn? Warum sollte man den guten alten Archulus in einem Gericht suchen?»
«Das hab ich mich auch gefragt. Aber als der Richter im Gerichtssaal deinen Namen aufgerufen hat –»
Archs Gesicht lief dunkelrot an. «Oooh … das. Das war gar nichts. Nur ein Missverständnis drüben in Burnt Corn – oder war es in Cobb Creek? War da auch eine Frau, die aussah, als käme sie aus Indien?»
Truman überlegte und erinnerte sich an so eine Frau. «In gold-schwarzen Gewändern?»
«Genau die. Das war die Witwe des Großen Hadjah. Leider.» Er blickte nervös über seine Schulter. «Gott schenke ihm die ewige Ruhe.»
«Wer ist das?», fragte Truman.
Arch tat ungläubig. «Du meinst, du hast noch nie von ihm gehört, von dem Großen –» Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. «Natürlich nicht. Er hat das Zeitliche gesegnet, bevor wir die Chance zu einer Vorstellung hier in der Stadt hatten.»
Trumans Augen begannen zu strahlen. «Betreibst du ein Varieté?»
Arch grinste. «Varieté ist noch untertrieben. Es ist eher eine Extravaganza. ‹Lebendig begraben!›», verkündete er wie der legendäre Zirkusdirektor P. T. Barnum höchstpersönlich. «Das größte Wunder unserer Tage!»
«Du hast ihn lebendig begraben?»
«Das hättest du sehen sollen, Tru. Ich habe diesen ägyptischen Burschen drüben in Mississippi gefunden. Er konnte die Luft richtig lange anhalten. Dabei senkte er seinen Puls, bis er für Stunden in so eine Art Winterschlaf fiel!»
«Wirklich?», fragte Truman fasziniert.
«Tja, zumindest eine Stunde lang. Er trat wie ein indischer Prinz gekleidet auf, und dann begruben wir ihn für eine Stunde in einem Sarg mitten auf dem Marktplatz! Die Leute waren außer sich und wetteten, dass er niemals die ganzen sechzig Minuten durchhalten würde. Aber das tat er. Hat ein Vermögen damit gemacht!»
«Und was ist dann mit ihm passiert?»
Arch wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Tja, bei der letzten Show lockten wir eine so große Menge an, dass bis ich alles Geld eingesammelt und die Wetteinsätze aufgeschrieben hatte, fast zwei Stunden vergangen … und traurigerweise auch der Große Hadjah von uns gegangen war.»
«Du meinst … er war gestorben?»
Arch nickte düster. «Wie sich rausstellte, war eine Stunde ungefähr die maximale Zeit, die er aushielt. Aber wer hätte das wissen können? Armer Kerl. Leider hab ich dadurch auch alles verloren. Und jetzt versucht diese Frau, mich auf den Anteil ihres Mannes zu verklagen. Lächerlich! Er war schließlich derjenige, der immer damit angab, wie lange er es unter der Erde aushalten würde. Aber wer ist am Ende immer der Dumme? Der gute alte Arch natürlich.»
Er hielt neben dem Zaun aus Tierknochen hinter dem Haus von Großcousine Jenny und stellte den Motor ab. Der Wagen kam klappernd zur Ruhe. Einen Moment lang saß Arch nur da und blickte zum Haus. «Hör zu, Truman, kein Wort davon zu deiner Mutter. Sie ist sowieso schon wütend genug auf mich. Da braucht sie nicht zu wissen, dass wir vielleicht sogar noch mehr verlieren. Aber ich werde es wiedergutmachen. Ich habe schon einen neuen Plan. Es gibt da diesen Boxer –»
Doch da war Truman schon ausgestiegen und rannte aufs Haus zu. Er hatte dieses überwältigende Gefühl, dass, wenn seine Mutter erst sein Gesicht sähe und merkte, wie sehr sie ihn vermisst hatte, die Familie vielleicht endlich wieder vereint sein würde.