Kitabı oku: «Ein Kuckuckskind», sayfa 2
DER ALLTAG HIELT EINZUG
Arbeit, Familie, Kinder, Streit, Versöhnung und die nächste Schwangerschaft.
Wieder wurde ein Sohn geboren. Er wurde nicht einmal ein Jahr alt. Das Kind verstarb im Alter von elf Monaten an Ernährungsstörungen. Was auch immer das heißen sollte. Die Muttermilch reichte nicht mehr aus und die Ersatznahrung vertrug der Kleine nicht. Wer Beziehungen hatte, ließ sich Trockenmilch aus dem Westen schicken. Doch Henny hatte keine Beziehungen zum Westen und verzweifelte an dem Leid des Kindes. Stets war er krank. Bauchschmerzen. Vertrug keine Kuhmilch. Die Ärzte waren ratlos. Norbert starb. Trauer zog in das Haus am LPG-Hof ein. Bisher gab es hier nur Lebensfreude. Sex, Tanz, Arbeit, Singen, Kaffeeklatsch, Federn schleißen …
Nun der Tod. Eine Welt brach zusammen. ›Warum kann es nicht so fröhlich und bunt in unseren Herzen bleiben?‹, fragte sich Henny. Weinend zog sie ihre Kleinen an sich und drückte sie fest an ihr Herz. Sie fand Trost in ihren beiden Rackern, die noch so unbekümmert schienen. Und gut, dass es Freunde gibt. Die halfen ihr, in den Alltag zurückzufinden. Ihre zwei Kinder beanspruchten sie zusehends und lenkten sie ab. Sie wurde vom Alltag aus den bedrückenden Grübeleien herausgeholt und flüchtete sich in die Arbeit.
Durch die Bodenreform gingen viele der Dorfbewohner in die neu gegründeten Landwirtschaftsbetriebe und halfen im Feldbau oder der Tierproduktion. Dadurch erhielten die Menschen, die auf dem Land blieben, Ställe oder andere Gebäude, die sie sich zu Wohnungen aus- oder umbauen konnten. Material zum Bauen gab es per Zuteilung von der LPG oder einer entsprechenden Einrichtung namens BHG – die Bäuerliche Handelsgenossenschaft. Ähnlich wie bei den Lebensmittelkarten musste man sich auch hierfür anmelden und warten, bis man dran war, um Zement oder Fliesen zugewiesen zu bekommen – das aber oft nur in unzureichender Menge. Das konnte schon mal ein paar Jahre dauern, eh man seine bereits begonnenen Baumaßnahmen zu Ende bringen konnte. Vitamin B war erforderlich. Zu jeder Zeit brauchte man seine Gönner. Auch hier. Leider!
Die Aufgaben innerhalb der Familie hatten sich sondiert. Der Vater ging in den Stall und versorgte die Tiere der LPG. Melkte, mistete aus und fütterte die Rinder und seinen Haflinger Lotte, der dort untergestellt war. Zu Hause hielt man sich zusätzlich Schweine, um die Versorgung über den Winter für die Familie zu sichern. Da fiel halt von der LPG auch Futter für das eigene Vieh ab. Das spart. Schließlich reichte es bei den meisten vorn und hinten nicht. (»Sozialistisch umlagern« nannte man das. Ich hätte gesagt: Das Futter wurde geklaut.)
Die Mutter versorgte die Kinder, immerhin zwei an der Zahl, den Haushalt, den Mann, half im Stall und putzte in fremden Haushalten, um die Familienkasse aufzubessern. Es war schwer, bei diesem geringen Einkommen, die Familie durchzufüttern und zu kleiden. An Luxusgüter, gemeinsame Freizeitaktivitäten war nicht zu denken. Es reichte nicht mal für ein Eis zwischendurch. Durch das Putzen in anderen Haushalten bekam sie abgelegte Kleidung von den Kindern ihrer Arbeitgeber. Die durften ihre Kleinen dann auftragen, beginnend von dem Großen über jedes weitere Kind. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um eine Jungenhose oder einen Mädchenpullover handelte. Hauptsache, es hielt warm, war heil und sauber.
Jeder trägt das, was ihm passt. BASTA.
Die Tiere wollten schließlich auch sieben Tage die Woche und das zweimal am Tag versorgt sein. So kam Willi nicht mehr so oft nach Hause. Nur noch zu den Mahlzeiten und zum Schlafen. Die Gaststätte lag auf dem Weg nach Hause und hatte für die Bauern stets geöffnet. Außerdem warteten die jungen Frauen, die während des Krieges auf ihn gehofft hatten und dann so unverschämt enttäuscht wurden. Man hatte so seine Verpflichtungen. Irgendwann kam er nicht einmal mehr zu den Mahlzeiten heim. Die Kinder nervten. Sie forderten ihren Tribut. Henny ward allein gelassen. Die Abende nahmen zu, an denen ihr Ehemann spät und betrunken nach Hause kam. Da war der Streit vorprogrammiert. Es hagelte Vorwürfe. Wut sprang ihm entgegen. Tränen flossen. Statt nach der Arbeit ihr unter die Arme zu greifen, ließ er sich volllaufen und hurte sich durch fremde Betten. Bei seiner Familie wurde er jähzornig und aggressiv. Der Vorwurf, er würde das bisschen Geld versaufen, das sie eigentlich nicht hatten, saß tief. Im Jahr war das Geld immer knapp, es wurde sich etwas geborgt und dann fiel es schwer, es zurückzuzahlen. Dafür gab es das dreizehnte Monatsgehalt, die Jahresendprämie, die an die Genossenschaftsbauern im Januar ausgezahlt wurde. Davon wurden die Schulden beglichen und die Taschen waren wieder leer. Er begann in seiner Wut zu schlagen. Zuerst seine Frau und später die Kinder. Irgendwann kippte das Ganze. Dann schlug er erst die Kinder, und da die Mutter dazwischen ging, fing sie die Hiebe ab, die dann auch mit einem Ledergürtel oder einer Peitsche verstärkt wurden.
Die Versöhnung endete oft im Bett. Sie liebte ihn. Sie nahm Wilhelm, wie er war und verzieh ihm. Stets kam er zu ihr zurück. ›Also liebt er mich doch‹, dachte sie. ›Man kann nicht immer gleich auseinander rennen. Außerdem, wo soll ich denn hin mit den Kindern?‹
HENNY wollte VIELE Kinder. Sie selbst war ein Einzelkind. Begab sich somit in eine Abhängigkeit, die später zu einer Ausweglosigkeit führen sollte. Sie war aufgewachsen ohne Geschwister, ohne Vater. Er sei im Krieg gefallen, hieß es. In ihrer Ehe sollte alles anders sein. Sie wollte Kinder, und für diese einen liebevoller Vater und für sich einen fürsorglichen Ehemann. Wenn Wilhelm sich dann mal fünf Minuten um ein Kind gekümmert hatte, entschädigte das seine Fehltritte für drei Monate. Warum war Henny nur so genügsam? Also, wieder ins Bett, Sex und das Ergebnis war eine Schwangerschaft. Dann ließ er sie wieder in Ruhe. Nach neun Monaten gebar sie eine Tochter. Ursel. Es war wieder alles neu. Alle kamen, um das Baby zu bewundern. Dinge für die Ausstattung wurden im Dorf zusammengetragen und Henny zur Verfügung gestellt. Ein Grund zum Feiern. Die Männer kippten sich die Birne zu.
Das Kind war erst einmal versorgt. Es gedieh gut. Auch Wilhelm wurde wieder etwas ruhiger. Es schien, als sei seine Sturm-und-Drang-Zeit vorbei. Verhütung schien nicht in dem Umfang wie heute möglich gewesen zu sein. Die Antibabypille gab es im Osten noch nicht. Nur in Ausnahmefällen wurde diese als ein Medikament an ausgewählte Frauen verschrieben. Erst Anfang der 70er-Jahre gab es diese auf Rezept für jedermann. Sicherlich auch eine Versorgungslücke. Oder zu teuer für den Staat. Denn Medikamente wurden zum Teil mit Devisen eingekauft und den Bürgern kostenfrei zur Verfügung gestellt. Das Kuriose war: Die Pille wurde wohl in der DDR hergestellt, aber eben für Devisen an die BRD verkauft. Krankheitskosten wie Medikamente, Krankenhausaufenthalte, Untersuchung und alle Arztbesuche mussten hier nicht von den Patienten bezahlt werden. Leider standen sie gleichwohl nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung.
Kondome wurden allerdings verkauft. Im Konsum oder HO. Gekauft wurden sie aber in der nächsten Stadt. Aus Scham. Ja, man schämte sich damals zu bekennen, Sex mit der eigenen Ehefrau zu haben. Manche Männer hatten Angst, dass irgendjemand womöglich nachzählt, wie viele man verbraucht. Außerdem war das sowieso Frauensache. Die Dinger waren zudem rationiert wie alles andere. War es Scham, dass sie nicht damit verhüteten? Fehlte der Spaß, weil sie beim Sex störten? Schließlich ist denkbar, dass die Qualität der Überzieher nicht so ausgereift und geschmeidig war wie heute. Oder fehlte das Geld, um ›Mondos‹ zu kaufen? Es spielte wohl alles eine Rolle.
Ein Jahr später wurde Kind Nummer fünf geboren. Mit jetzt vier Kindern galt man als kinderreich. Es war ein Junge. Der Michi. Wieder eine Feier. Dafür war immer Geld da. Klamotten waren noch genug vorhanden. Es wurde ja nichts weggeworfen. Wiederverwendung hieß das Zauberwort. Das war auch gut so. Denn eineinhalb Jahre später ward der nächste Sohn geboren. Die sechste Geburt, das nun fünfte Kind. Aber der kleine Mann verstarb noch in der Klinik. »Henny, du hast ja noch genug Kinder«, meinte der Arzt. Man kannte sich inzwischen. Taktgefühl war etwas anderes. Und gefeiert wurde trotzdem. Ohne Rücksicht auf die Gefühle der Mutter.
Im Ort wandten sich immer mehr von ihr ab. So viele Kinder weisen auf asoziales Verhalten hin. Damit wollten viele nichts zu tun haben. Bestehende Standesdünkel wurden wieder hervorgekehrt. Es wäre nicht sauber in so einem Haushalt. Stete Unordnung, laute Verständigung. Man schrie sich an. Das wäre kein guter Umgang. Keine Manieren. Die Mutter war allein, überfordert, genervt. Leider bestätigte sich das meiste.
Bei so vielen Kindern erziehen diese sich gegenseitig, meinte Henny. Das macht das Leben einfacher, so heißt es. Fragt sich nur für wen? Der Große, Rudi, war inzwischen neun Jahre alt. Henny wusch einmal in der Woche die Wäsche. Das erstreckte sich allerdings über zwei bis drei Tage. Und die Wäsche musste oft gewaschen werden, weil nicht ausreichend vorhanden war. Damals trug man schon mal die Hosen eine Woche. Der Waschkessel wurde nur am Samstag angeheizt. Fließend Wasser gab es in der Wohnung nicht. Man holte es aus der Pumpe, die auf dem Hof stand. Zehn Eimer Wasser à zehn Liter schluckte der Kessel. Der wurde dann beheizt, die Wäsche darin gekocht, mit einer Wäschestange daraus entnommen und in verschiedenen Zinkwannen gespült. Ein Waschkessel war meist zu wenig. Oft musste er ein zweites Mal neu mit sauberem Wasser befüllt und angeheizt werden, und die Prozedur wiederholte sich. Das Spülen und Auswringen erfolgte mit den Händen. Die Mädchen mussten früh mit zufassen und helfen. Das Wasser war kalt, die Wäsche schwer. Es war beschwerlich. Der Rücken, die Arme und Hände schmerzten. Es wollte kein Ende nehmen. Später gab es zu allem Luxus eine, nein, zwei Rollen, die an die alte Holzwaschmaschine angebaut wurden. Der Nachbar brauchte sie nicht mehr. Er hatte sich eine neue Maschine gekauft – die WM 66 oder so. Sie konnten sich das leisten, sie hatten nur ein Kind. Diese Rollen dienten zum Auswringen. Man presste damit das Wasser aus den Textilien, damit wurden die Sachen für einen Moment leichter. Bis zum Spülen. Dann ging alles von vorn los. Ein Waschvollautomat war zu dieser Zeit pure Utopie.
In einer Holztrommel drehte ein Kreuz in der Seifenlauge das Waschknäuel hin und her. Auch hier wurde zuvor das Gerät mit vorgewärmtem Wasser befüllt. ›Turmperle‹ hieß die große Waschhilfe nach dem Waschbrett. Kein Wunder, dass die alten Menschen früh unter Rheuma litten.
Die Jungen mussten schon im eigenen Stall mitarbeiten. Die Tiere füttern, ausmisten und den Mist in den Garten fahren. Wer etwas essen will, muss auch mit zupacken, sagte der Vater. Das war die Vorbereitung auf die Verantwortung, die Leben heißt. Es gab keine Wahl. Zufassen musste jeder, sonst gab es Hiebe.
VOLKSFEST
Einmal im Jahr fand ein Volksfest statt. In manchen Gegenden nannte man es auch Kirmes, Rummel oder Schützenfest. Das war der kulturelle Höhepunkt in dieser Region. Schließlich führte es nicht nur die Menschen aus dem eigenen Dorf, sondern auch aus den Nachbarorten zusammen. Schon eine Woche vorher wuchs die Aufregung und Vorfreude auf das Ereignis. Wenn die Wagen der Schausteller dann durch die Straßen rollten, liefen die Kinder herbei und bildeten ein Spalier. Später trafen sie sich auf dem Sportplatz, wo die Fahrgeschäfte aufgebaut wurden. Es war so spannend! Welche Überraschungen verbargen sich wohl in den großen Wagen? Oh, es dauert noch so lange, bis sich die Türen der geheimnisvollen Waggons öffnen würden. Die Aufregung war groß.
Als es dann so weit war, freuten sich die jungen Erwachsenen auf Musik und Tanz. Die Kinder fuhren mit der Berg- und Talbahn, mit der Luftschaukel, dem Kettenkarussell und standen mit großen Augen vor den Losbuden. Es war ein Treffpunkt für Jung und Alt, ein Ereignis voller Anspannung, Freude und Hoffnung auf ein kleines bisschen Glück. Die Holzkegelbahn war meist Treffpunkt der Männer. Schließlich mussten sie sich ja messen. Auch beim Luftgewehrschießen. Dieses Mal zum Glück nicht auf Menschen. Der Spaß brachte gleichzeitig einen kleinen Dankesgruß für die Frauen mit ein. Papierblumen.
Für jeden war etwas dabei. Lustig und ausgelassen wurde gefeiert. Meistens ging es mit einer zünftigen Keilerei einher. Ein Bier kostete 48 Pfennig. Ein Los zehn Pfennig. Auf der Suche nach Freude und Vergnügen nutzte man jede Begegnung sehr intensiv. So manches Kind wurde hinter dem Bierzelt gezeugt. Die Aussage: »Schlage nie ein fremdes Kind, es könnte dein eigenes sein«, sorgte zwar für manchen Lacher, war allerdings zu der Zeit nicht ausschließlich witzig gemeint.
Jedenfalls war der Sommer wieder fruchtbar. Das nächste Kind war unterwegs. Die siebte Schwangerschaft!
Das fünfte Kind.
Ein Mädchen! Gisela. Sie wog stolze acht Pfund und war 53 Zentimeter groß. Das war ICH!
1961
Wieder ein Grund zum Saufen. Das Kind war sicher nicht willkommen, aber um darauf anzustoßen, war es als Anlass gut genug. Ansonsten war es nur ein Fresser mehr. Wie soll man denn so viele Mäuler stopfen? Wilhelm entzog sich der Verantwortung, indem er nach der Arbeit in die Kneipe ging. Trost und Ablenkung suchte und fand er in fremden Betten. Vielleicht war es ihm im eigenen auch zu riskant, die Angst zu groß, es käme gleich wieder etwas Lütsches. Nein, kein Sex – kein Kind. Es ist genug.
Die Leute im Dorf waren auch so freundlich und steckten es Henny. »Du, der treibt sich wieder im Nachbardorf rum«, bei Christa oder Liesbeth oder … egal.
Danke schön! Das ist mir bekannt, wird sie gedacht haben.
Sind sie nicht nett, die Dörfler? Die Eskapaden waren also aller Welt bekannt. Und so verpasste man ihm den Spitznamen Juckelprinz. Es war demütigend für Henny. Sie war nur noch für die Kinder da. Und da war noch etwas, aber das Geheimnis trug sie allein mit sich herum.
Es war Frühling. Die Zeit war unruhig. Irgendetwas hing in der Luft. Aber auf dem Land spürte man nichts davon. Hier ging alles weiter wie immer: Früh aufstehen. Die Tiere versorgen. Auf dem Feld arbeiten, aufräumen, putzen, waschen, Essen kochen …
Niemand fragte die Kinder, wie es in der Schule läuft. Das war auch nicht notwendig. Die Lehrer traf man auf der Straße. Sie berichteten gleich über den Gartenzaun, was das Kind vergessen oder mit wem es einen Streit vom Zaune gebrochen hatte. Und wenn der Lehrer dem Sohn eine scheuerte, weil er frech war, half kein Petzen bei den Eltern. Dann gab es gleich noch einmal eine Schelle, eine Strafarbeit und Stubenarrest. (Damals war das wirklich noch eine Strafe, es gab weder Handy, PC noch Laptop. Henny hatte nicht mal ein Telefon mit Wählscheibe.)
Mit dem neuen Baby wuchsen Hennys Sorgen. Wie sollte es nur weitergehen? Gut, dass es Kindereinrichtungen gab. Der Große war inzwischen zehn und Karla sieben Jahre alt. Sie gingen zur Schule und anschließend in den Hort. Ursel und Michi waren gut im Kindergarten untergebracht. Das Kindergeld des Staates half über einige finanzielle Probleme hinweg, wenn Wilhelm nur nicht so viel versaufen würde. Henny musste recht bald wieder arbeiten gehen, um das Fehlende dazu zu verdienen. Einige Auftraggeber sagten ihr schon ab. Sie durfte dort nicht mehr putzen, weil sie sicher die Zeit für ihre vielen Kinder bräuchte. Was nun? Sie brauchte das Geld, um die Familie satt zu bekommen. Es war nicht für sie. Ihre Wünsche hatte sie schon lange in den Hintergrund gestellt. Aber die Kinder. Was sollte nur aus ihnen werden? Wie schnell war der Staat dabei, sie ihr wegzunehmen. Nein. Sie musste arbeiten.
Sechs Wochen nach der Geburt galt die Mutter als wieder einsatzfähig. Damals gab es die Sechs-Tage-Arbeits-woche. Also begann Henny auf der Suche nach Arbeit, ›Klinken zu putzen‹.
Der LPG-Vorsitzende hatte Mitleid mit ihr und stellte sie ein. Sie durfte für ein paar Stunden das Büro putzen und im Stall aushelfen. Es fehlte immer jemand. Somit arbeitete sie als Springer im Kuhstall. Das heißt, immer da, wo jemand gebraucht wurde, weil ein Angestellter wegen Krankheit, Urlaub oder Ähnlichem ausfiel, sprang sie ein. Damit war die Verantwortung zu Hause auch neu verteilt. Die Großen mussten die Kleinen in den Kindergarten bringen, bevor sie selbst zur Schule gingen. Und sie nachmittags hüten, bis die Mutter wieder zurück war. Denn der Arbeitsbeginn im Kuhstall war morgens um vier. Um drei stand sie auf, machte sich zurecht und bereitete das Brot für ihren Mann vor. Dann fuhr sie mit dem Rad zum Kuhstall.
Freizeit? Was ist das? Die hatte Henny schon seit Jahren nicht mehr. Früher kamen die Frauen noch zum Kaffeeklatsch. Jede Woche war jemand anderes dran, um bei einer Nachbarin beim Federnschleißen für neue Kopfkissen zu helfen, wobei Neuigkeiten ausgetauscht und auch mal ein Likör getrunken wurde. Inzwischen war Henny nicht mehr dabei. Eine Freundin hatte sie noch. Musste sich aber heimlich mit ihr treffen, weil deren Mann das nicht wollte. Der Ehemann ihrer Freundin war wohl der Meinung, dass Henny einen schlechten Einfluss auf seine Frau ausüben könnte.
Wenn Henny dann nach der ersten Schicht im Kuhstall zurückkam, machte sie mich fertig, um mich in der Kinderkrippe abzuliefern. Etwas Katzenwäsche gab es vorher noch. Mit einem ollen Waschlappen und kaltem Wasser ging es durchs Gesicht. Ein Geschrei und schon waren alle wach. Auch die Nachbarn.
Meine Mutter trug mich schnell raus. An dem Fahrrad hing ein Körbchen vorn am Lenkrad aus Weidengeflecht mit einem dünnen Holzbrett als Sitzfläche. Ich musste mich am Lenker festhalten, rücklings zur Fahrtrichtung. So wurde ich bei Wind und Wetter zur Krippe gefahren. Danach ging Mami putzen oder richtete den Haushalt her. Anfangs putzte meine Mutter morgens im Büro, bevor es genutzt wurde und nur nachmittags quälte sie sich im Stall. Später buckelte sie dann auch in der Frühschicht. Bis halb sieben musste ich brav im Bett liegen bleiben, weil sie nicht eher von der Frühschicht mit dem Fahrrad vom Nachbardorf zurück war. Wie das alles funktioniert hat, weiß ich nicht. Aber es hat wohl geklappt. Ab und zu hat die Nachbarin gehorcht, ob noch Ruhe im Hause ist. Sie wusste, dass wir Kinder alleine waren und das Haus für jedermann offenstand. Manchmal kam sie rüber, um uns zu trösten, wenn wir eher wach waren als unsere Mutter zu Hause. Bald lehnte sie aber diesen Einsatz ab. »Henny, so geht das nicht!«, sagte sie. »Du musst dich um deine Kinder kümmern!«
Was sollte sie darauf antworten? »Ja, du hast ja recht, aber ...«
Ich ging gern in die Kinderkrippe. So nannte man die Einrichtung, in der Babys von sechs Wochen bis zum dritten Lebensjahr untergebracht wurden. Sie war getrennt vom Kindergarten. Die Krippe befand sich im zwei Kilometer entfernten Nachbarort auf dem Weg zu Mutters Arbeitsstelle. Leider passten die Zeiten nicht. Darum fuhr sie diese Strecke mehrmals am Tag. Eine Lösung für ihr Problem war nicht in Sicht.
Die Orte schmolzen immer mehr zusammen. Es wurden neue Häuser gebaut. Eine offensichtliche Ortsgrenze gab es über die Jahre nicht mehr. Im 15. Jahrhundert waren diese kleinen Siedlungen im Bördeland entstanden und durch Zuwachs und Zuwanderung immer größer geworden. Kirchen, Rathäuser und Schlafplätze für die Erntehelfer wurden gebaut und stets modernisiert. Viele wurden ansässig, bauten das eigene Nest und so zählte ein Dorf mehr als 800 Einwohner. Die Häuser waren aneinandergereiht und näherten sich somit dem Nachbardorf. So lebten in den ehemals vier kleinen Siedlungen bis zu 3.000 Bürger.
Heute, im Jahr 2018, sinkt die Einwohnerzahl, weil es kaum Arbeitsplätze auf dem Land gibt. Die Lebensmittel werden aus dem Ausland billig importiert. Unser guter Bördeboden mit der besten Bodenwertzahl weit und breit wird zu Bauland für Windkrafträder umfunktioniert. Das Essen kommt aus China, Nordamerika, Argentinien … Gütekontrollen spielen keine Rolle, Hauptsache billig. Der Arbeitslohn in den Importländern ist im Vergleich zu den deutschen Einkommen minimal. Deshalb schrumpfen auch die Landwirtschaftsbetriebe. Zu allem Überfluss ist der Transport nach Europa eine erhebliche Umweltbelastung – ob mit dem Flugzeug oder mit dem riesigen Öltanker. Aber das ist für die Leute nicht mehr wichtig, weil auch heute wieder das Geld für gesunde Ernährung fehlt. Die heimische landwirtschaftliche Produktion scheint auszusterben. Arbeit gibt es nur in den Städten. Handel und Industrie sind dort angesiedelt. Wer Geld verdienen will, muss in die Stadt. In meinem Heimatdorf leben inzwischen weniger als 1.800 Leute. So ist es im 21. Jahrhundert.
Tja, also in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts war alles bescheidener, unkomplizierter und ausgeglichener. Der Bauer galt noch etwas auf dem Lande. Die Landwirtschaft war der Mittelpunkt des Schaffens.
Ich wurde also aus dem Bettchen befreit, gewaschen und gewickelt, gefüttert und in die Krippe geschafft. Endlich!
Da war eine Tante in der Kindereinrichtung angestellt, die lieb zu mir war. Sie freute sich, wenn sie mich sah, umarmte mich und erzählte mit mir. Sie hatte Zeit. Das war ein schönes, mir unbekanntes Gefühl. Ich lernte spielend, aufs Töpfchen zu gehen, weil diese nasse Baumwollwindel sonst zu stinken anfangen und keiner mit mir spielen wollen würde, sagte Tante Ille. Ich aß gemeinsam in Ruhe mit den gleichaltrigen Kindern an einem Tisch. Das war so, wie es in einer Familie sein sollte. Schön. Tante Ille! Sie war mein Lieblingsmensch, nach meiner Mama versteht sich. Wenn sie mal nicht da war, wollte ich nicht in die Krippe gehen.
Als ich zweieinhalb Jahre alt war, spielte ich zu Hause auf dem Hof, in der Nähe meiner Mama. Sie machte wieder die Wäsche und ich schmadderte mit dem kalten Wasser in den Wannen herum. Nicht nur meine Windel, nein, mein ganzer Bauch war nass. Meine Mama schaute kurz auf, schimpfte mit mir und zog mir die Hose aus. Nur ein luftiges Flatterhemdchen hatte ich an und sonst nichts. So ließ sie mich weiter auf dem Hof gewähren. Verbot mir, in dem kalten Wasser zu spielen. Aber es zog mich wieder zu dieser Wanne an das kühle Nass.
Meine Mutter hatte wie so oft keine Zeit für mich und ich hatte Langeweile. Die Klammern tauchte ich in das Wasser und sie kamen von ganz alleine wieder hoch. Warum nur? Es war ein schönes Spiel. Ich wollte wissen, warum die Klammer oben schwimmt. Mutti war genervt. Tante Ille hätte es mir erklärt. Die wusste alles.
Das Spiel wurde mit der Zeit öde. Doch ich wusste nichts mit mir anzufangen. Meine Geschwister wollten nichts mit mir zu tun haben. Ich war noch viel zu klein und störte nur bei ihrem Spiel. Sie waren fort, bei Freunden in der Nachbarschaft oder vor dem Hof auf der Straße. Dort durfte ich nicht hin. Schade. Was sollte ich tun? Ich hatte so viele Geschwister und keiner war für mich da. Wo waren nur alle hin? Not macht erfinderisch. Ich beschloss, meiner Mama nicht mehr auf die Nerven zu gehen, sie hatte doch so viel Arbeit.
Tante Ille aus der Kinderkrippe müsste jetzt hier sein! Und die Kinder! Dann könnten wir gemeinsam im Wasser planschen, dachte ich. Also machte ich mich auf den Weg. Ich wollte zur Kinderkrippe! Unbeachtet von den Kindern vor dem Grundstück wanderte ich durch das große Tor in die große weite Welt. Die Krippe war zwei Kilometer von meinem Zuhause entfernt. Aber das wusste ich ja nicht.
Wie bei den Bremer Stadtmusikanten machte ich mich als Erste auf den Weg. Ich lief brav am Straßenrand entlang. Der Bürgersteig war für mich zu hoch. Die wenigen Autos, die damals die Straße befuhren, machten einen weiten Bogen um mich und ließen mich einfach weiterlaufen. Eines hielt an und eine Frau fragte mich, wohin ich wollte, aber außer »Kinder« oder vielleicht »Tinder« war wohl nichts aus mir heraus zu kriegen. Sie verstand mich nicht. Da ließen sie von mir ab. Sie hatten Bedenken, dass ich zu Schreien beginne und wollten deshalb nicht mit mir gesehen werden. Schließlich wollten sie keinen Ärger bekommen wegen Kindesentführung oder so. Also lief ich weiter den Weg entlang, der mir bekannt vorkam. Ich habe eineinhalb Kilometer geschafft, bis eine junge Mutter zufällig aus dem Fenster herausschaute und mich erkannte. Aufgeregt sah sie sich um, lief auf die Straße, schnappte mich und erkannte sofort, dass bei meinem Aufzug – ich trug ja immer noch nur mein Hemdchen – und ohne erwachsene Begleitperson etwas nicht in Ordnung sein konnte. Sie hatte einen Sohn in meinem Alter. Daher kannte sie mich und wusste, wohin ich gehöre. Lieschen schnappte ihr Fahrrad mit dem Kinderkörbchen und dann mich und fuhr mich – oh nein! – in die falsche Richtung: wieder nach Hause. Ich war nur 200 Meter von der Kinderkrippe entfernt. Ich wollte doch zu den Kindern! Ich konnte das Haus schon sehen!
Das war eine böse Frau – in dem Moment empfand ich das so. Und außerdem: Ohne Schlüpper in diesem Körbchen, das war auch kein Genuss. Es tat weh!
Meine Mutter hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal bemerkt, dass ich fort war. Das Waschen und Putzen nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Und das Ende vom Lied? Ich bekam Mecker. Und beschäftigen wollte sich auch keiner mit mir. An diesem Tag blieb das Spielen mit den Kindern aus. Meine Mama befasste sich auch nicht mit mir. Von meinen Geschwistern war weit und breit nichts zu sehen.
Ein toller Tag. Ich nahm mir die Klammern und Knöpfe und baute mir ein kleines Märchenschloss.
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