Kitabı oku: «Mord im Regionalexpress»

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Impressum

Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten.

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dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg

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Die Bilder stammen aus dem Privatarchiv der Autorin,

von Rainer Lange und aus dem Polizeiarchiv

Das Neue Berlin –

eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

ISBN E-Book 978-3-360-50174-5

ISBN Print 97-3-360-01370-5

1. Auflage 2020

© Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Verlag, Peter Tiefmann

www.eulenspiegel.com


Über das Buch

Zwei Tage vor Heiligabend freut sich die 20-jährige Röntgenassistentin Andrea Dittrich, zu ihrem Freund und ihrer Familie zu fahren. Schon am 24. Dezember muss sie zurück sein, weil sie Dienst in einer Rehaklinik versieht. Doch bevor ihr Freund sie am Bahnhof Glauchau in die Arme nehmen kann, wird sie im Zug Opfer einer brutalen Gewalttat.

Die Kriminalpolizei rekonstruiert akribisch, was im Regionalexpress nach Zwickau passiert ist, und wendet sich an die sächsische Bevölkerung. Tausende Hinweise gehen ein, 50 000 Mark Belohnung sind ausgesetzt. Der Täter aber bleibt unauffindbar …

Dieter Wolfram, Chef der Chemnitzer Mordkommission, fühlt sich an einen Fall aus seiner frühen Zeit als Ermittler erinnert: die Ermordung einer jungen Frau 1977 im sächsischen Mittweida. Da gab es klare Spuren des Täters, dennoch dauerte es fast zwölf Jahre, bis er gefasst war.

Über die Autorin

Gabi Thieme, geboren und aufgewachsen im Erzgebirge, studierte in Leipzig Journalistik und arbeitete ab 1976 für die DDR-Nachrichtenagentur »ADN«. 1990 wechselte sie zur Freien Presse, wo sie bis 2018 tätig war. Sie kennt die großen Kriminalfälle, die sich in Sachsen ereignet haben. Über viele berichtete sie ausführlich und so lange, bis der oder die Täter gefasst und verurteilt waren. Nach mehreren Büchern über Sachsen, an denen sie als Mitautorin beteiligt war, legt sie mit den authentischen Kriminalfällen »Mord im Regionalexpress« ihr erstes eigenes Buch vor.

Inhalt

Vorwort

DIE FALSCHE SPUR

MORD IM REGIONALEXPRESS

Die geschilderten Vorgänge basieren auf realen Fällen. Die Namen von Tätern und Zeugen sind so weit verändert, wie es aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nötig war.

Vorwort

In meinem Berufsleben als Journalistin habe ich in den vergangenen dreißig Jahren über viele schwere Verbrechen in Sachsen geschrieben. Mit etlichen Fällen war ich jahrelang befasst: bis zur Ergreifung und Verurteilung des Täters oder der Täterin.

Ich musste miterleben, wie ein Erstklässler morgens auf dem Schulweg verschwand und ein anonymer Bekenner die Ermittler über Monate auf Trab hielt. Ich habe mich mit einer jungen Mutter beschäftigt, die ihr Baby über Weihnachten allein in seinem Bettchen verhungern ließ, während sie zu einem neuen Internet-Bekannten an die Ostsee fuhr. Ich lernte einen Mann kennen, der als Mörder eines behinderten Kindes verurteilt wurde und bis heute sagt, er sei es nicht gewesen. Ich traf auf einen Bankräuber, der zwanzig Jahre am Ende der Welt untertauchen konnte und schließlich doch noch vor dem Kadi stand. Die Akribie und Hartnäckigkeit, an einem ungelösten Fall über viele Jahre dran zu bleiben, ihn faktisch zu meinem Fall zu machen, brachte mir nicht nur das Vertrauen der Ermittler, sondern das Vertrauen der Angehörigen ein.

Besonders deutlich erlebte ich das nach der Ermordung einer jungen Frau im Regionalexpress zwischen Dresden und Zwickau zwei Tage vor Weihnachten 1995. Es war für mich eines der brutalsten Verbrechen, mit dem ich je zu tun hatte. Vielleicht berührte mich der Fall auch deshalb so sehr, weil ich am Vormittag des Heiligabends beim Weihnachtsbaumschmücken mit der Tat konfrontiert wurde. Wann werden Journalisten schon am 24. Dezember von der Polizei zu einer Pressekonferenz zusammengetrommelt? Bereits an diesem Tag stellte ich mir die Frage: Welche Qualen muss die Familie des Mädchens jetzt durchmachen?

Ich sollte die Eltern bald kennenlernen und sie sieben Jahre lang durch die Tiefen ihres Lebens begleiten. Oft fragte ich mich: Woher nimmt der Vater einer ermordeten jungen Frau die Energie, die Ermittler zu unterstützen, eine fünfstellige Summe für die Belohnung aufzutreiben und schließlich im Gerichtssaal dem Mörder seiner Tochter gegenüberzutreten?

2017 erzählte mir ein altgedienter Kriminalist, dass seine Schwester vor 40 Jahren ermordet worden sei. Weil meine berufliche Laufbahn zu dem Zeitpunkt gerade begann, hatte ich nie etwas von diesem Verbrechen gehört. Was war damals passiert? Warum wurden die Ereignisse unter der Decke gehalten? Warum wurde einer der erfahrensten Mordermittler seinerzeit von dem Fall abgezogen? Wie konnte der Täter knapp zwölf Jahre später doch noch überführt werden?

Einen solchen Kriminalfall Jahrzehnte später zu recherchieren, geht nicht nur mit großem Aufwand einher. Es funktioniert nur, wenn Angehörige, Betroffene und die Ermittlungsbehörden dabei Unterstützung geben. Von beiden Seiten wurden mir großes Vertrauen und eine unerwartete Offenheit entgegengebracht. Ohne die hätte ich viele Details nicht so zu Papier bringen können.

Ich danke dem Vater und dem damaligen Freund von Andrea Dittrich für ihr Vertrauen. Ich danke dem Bruder der 1977 in Mittweida ermordeten Petra Lange. Und ich danke dem Chemnitzer Oberstaatsanwalt Bernd Vogel sowie dem langjährigen Chef der Mordkommission Chemnitz Dieter Wolfram, dass sie mich mit viel Hintergrundwissen für dieses »Buch gegen das Vergessen« versorgt haben.

Gabi Thieme, Sommer 2020

DIE FALSCHE SPUR

Februar 2020, Südtirol

Es ist, als würde der Alpenhauptkamm am Brenner nicht nur zwei Staaten, sondern auch zwei Klimazonen trennen. Rainer hat das schon zig Mal erlebt, wenn er im Winter für eine Woche zum Skiurlaub in die Alpen fährt. Auf der Nordseite begleiten ihn oft dicke Wolken und Nebel auf der Fahrt über die Inntal-Autobahn. Kaum hat er den Brennerpass in knapp 1400 Metern Höhe hinter sich, empfängt ihn auf der Autostrada del Brennero gleißender Sonnenschein.

Rainer liebt rasante Skiabfahrten. Und er liebt es, wenn dazu die Sonne scheint. Auf der Alpensüdseite ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass alles passt. In den deutschen Skigebieten und auch in den österreichischen Alpen hat das in den vergangenen zwanzig Jahren oft nicht funktioniert.

Wenn Rainer Lange das Quartier für eine Woche Winterferien klarmacht, achtet er stets darauf, dass er an den Tagen um den 21. Februar irgendwo unterkommt. Weit weg von seiner sächsischen Heimat und von seinem neuen Wohnort Halle, wohin es ihn als Jungrentner verschlagen hat. Dass in diesem Jahr sein Skiurlaub ausgerechnet in die Faschingswoche fällt, passt ihm nicht so recht. Denn mit Fasching hat er nichts am Hut. Aber was hilft’s. Er will an diesem Tag nun mal weit weg von allem sein. Das Einzige, was er dann von seinem früheren Leben bei sich hat, ist ein kleines abgegriffenes Foto seiner Schwester Petra in der Brieftasche. Es gibt ihm wenigstens ein bisschen das Gefühl, dass sie bei ihm ist. Wie gerne hätte er mit ihr hier die Winterferien verbracht. Sie, die so gern auf Brettern stand und die noch dazu eine totale Faschingsnärrin war. Bis zum Karneval in Venedig wäre es nur ein Katzensprung. Selbst das Corona-Virus hätte sie in diesem Winter vermutlich nicht von einem Besuch der Lagunenstadt abhalten können. Wo sie doch so gern verreiste. Dabei blieben ihr die schönsten Reiseziele Europas und der weiten Welt verwehrt. Denn Petra erlebte die Öffnung der Mauer und das Ende der DDR nicht. Als dieses Kapitel der Weltgeschichte eingeläutet wird, ist sie bereits mehr als zwölf Jahre tot.

Fünfziger und sechziger Jahre, Mittweida

Petra hat das, was sich viele kleine und auch pubertäre Mädchen wünschen, gleich im Doppelpack: zwei ältere Brüder. Wolfgang, Jahrgang 1953, wird fünf Jahre vor ihr geboren. Rainer kommt 1956 und damit zwei Jahre vor Petra zur Welt. Weil die Eltern unbedingt auch eine Tochter wollen, lassen sie sich auf eine dritte Schwangerschaft ein. Erst am 28. Februar 1958 sollten sie Gewissheit haben, dass es diesmal tatsächlich mit einem Mädchen geklappt hat.

Die staatliche Zentralverwaltung für Statistik der DDR verkündet an diesem Tag, dass der Volkswirtschaftsplan der jungen Republik mit 101,6 Prozent übererfüllt worden ist. Doch die aus Ottendorf, nordöstlich von Karl-Marx-Stadt, stammenden Eltern interessiert das gerade nicht. Glücklich und behutsam nimmt Kurt Lange das winzige Lebewesen in den Arm: »Endlich eine Tochter!« Er kann sich gar nicht mehr erinnern, dass die beiden Jungen bei ihrer Geburt auch so klein und zerbrechlich waren. Das Köpfchen des Babys verschwindet beinahe in seiner Hand.

Während Wolfgang, der bereits ein Jahr später eingeschult wird, bald andere Interessen hat, als sich mit der kleinen Schwester zu beschäftigen, weicht Rainer ihr kaum von der Seite. In der Vorschulzeit sind sie ein unzertrennliches Paar. Das ändert sich auch nicht, als Petra mit ihren Klassenkameraden und später ihren ersten Freunden einen Teil der Freizeit verbringt. Mit Rainer teilt sie jedes Geheimnis: wenn es in der Schule mal Ärger gibt oder ein Junge sie zu einem Eis am Stiel einlädt. Rainer ist ihr Beichtvater und ihr Beschützer. Dabei entgeht ihr nicht, dass der große Bruder Wolfgang für alle Untaten der Geschwister die Schelte bekommt, dass Rainer sich dagegen fast alles erlauben kann und sie selbst ganz klar der Liebling der Mutter ist.

In den sechziger Jahren bezieht die Familie am südlichen Rand von Mittweida eine Wohnung in einem neu errichteten Plattenbau, die nicht nur wegen der zwei Kinderzimmer ein Segen für alle ist. Petras Vater arbeitet gleich nebenan als Lehrer in der SED-Bezirksparteischule »Ernst Schneller«. Er unterrichtet die künftige Parteielite im Fach Gesellschaftswissenschaften. Die Mutter ist Wirtschaftsleiterin im Kindergarten der Kaderschmiede. Sowohl die Kinder der Lehrkräfte als auch die der Studenten werden hier betreut. Für alles ist gesorgt.

Anfang der siebziger Jahre, Mittweida

Petra ist ein auffallend hübsches, schlankes Mädchen mit langen blonden Haaren. Noch bevor sie die zehnte Klasse abschließt, liegen ihr die Jungen zu Füßen. Als sie in der Baumwollspinnerei Mittweida ihre Ausbildung zur Facharbeiterin für Textiltechnik beginnt, blüht sie noch mehr auf. »Ich werde Spinnerin«, sagt sie gern scherzhaft.

Rainer bleibt nicht verborgen, dass ihr ständig irgendwelche Kerle Offerten machen. Er fragt ihr Löcher in den Bauch, will verhindern, dass sie sich mit dem Falschen einlässt. »Mach dir keine Gedanken. Ich stell ihn dir schon rechtzeitig vor, wenn es ernst wird. Noch ist alles ein Spiel«, versucht sie ihn zu beruhigen. Der Bruder ist stolz auf die kleine Schwester, die eigentlich schon eine junge Frau ist. Aber ihn beherrscht eine Art Beschützerinstinkt. Besonders wenn sie allein auf Reisen geht: mit Jugendtourist bald sogar bis nach Ungarn und Bulgarien. Rainer lässt sie daheim.


Petra Lange als Teenager

Mit achtzehn verdient Petra eigenes Geld. Sie lebt sparsam. Rainer weiß nicht, wieso sie immer gut bei Kasse ist. Er dagegen hat nie Geld. Auch nicht, nachdem er 1973 eine dreijährige Berufsausbildung mit Abitur zum Facharbeiter für Anlagentechnik im VEB Baumwolle Flöha beginnt und jeden Monat Lehrlingsgehalt bekommt. »Wenn wir samstags tanzen gehen, ist mein Geld immer schon um neunzehn Uhr alle«, beichtet er seinem besten Freund. »Dann gehe ich zu Petra, klage ihr mein Leid, und sie reicht mir was rüber. Sie weiß, dass sie das nie zurückbekommt. Aber sie stellt mich deshalb auch nie zur Rede.« Nicht mal, als Rainer ihr gesteht, dass er 300 DDR-Mark für eine echte Levi’s-Jacke ausgegeben hat, die ihm ein Kumpel mit Westverwandtschaft besorgt hat.

Frühling 1976, Ottendorf

Anna ist frisch verliebt. Sie kennt diesen eigentlich unbeschreiblichen Zustand nur zu gut. Mit vierzehn hatte sie das Glücksgefühl zum ersten Mal erlebt, als sie sich in einen Schulkameraden verknallte. Allerdings waren dessen Eltern von der Beziehung nicht sonderlich begeistert. Was wollte ihr Sohn, ein angehender Rinderzüchter, mit einer, die Dolmetscherin werden möchte. »Das passt doch nicht zusammen«, reden sie ihm ins Gewissen: »Ein Bauer muss eine Bäuerin nehmen, sonst wird das nichts.« Anna ahnt, dass ihr Traumboy wohl nicht um sie kämpfen wird. Enttäuscht und mutlos lässt sie von ihm ab.

Nun, reichlich zwei Jahre später, vertraut sie ihrer besten Freundin an, dass es da wieder einen Jungen gibt, der ihr gefällt und der sie interessiert. Die inzwischen Sechzehnjährige wohnt bei ihren Eltern in dem kleinen Ottendorf. Jeder kennt hier jeden. In der zehnten Klasse müssen die Schüler regelmäßig zum ESP-Unterricht in den Nachbarort Altmittweida. ESP steht für »Einführung in die sozialistische Produktion«. Der Unterricht soll die Mädchen und Jungen mit dem Arbeitsalltag in der DDR, mit Produktionsabläufen in Industrie und Landwirtschaft vertraut machen. Volksbildungsministerin Margot Honecker will so die Berufsorientierung erleichtern und mehr Nachwuchs für praktische Berufe rekrutieren. Anna mag dieses Fach – ebenso wie den praktischen Teil UTP – Unterrichtstag in der Produktion. Nicht nur, weil es eine schöne Abwechslung zu den normalen Fächern in den Klassenzimmern ist, sondern weil sie beim ESP-Unterricht in Altmittweida jedes Mal auf den gleichaltrigen Volker trifft. »Der ist so süß! Sieh dir doch mal diese herrlichen schulterlangen Haare an. Und dieses Lächeln!«, schwärmt Anna ihrer Freundin vor.

»Ja, süß ist er. Aber ich glaube, auch extrem schüchtern«, gibt Maria zu bedenken. Genau das ist für Anna die Herausforderung. Sie schreibt Volker einen Brief, den sie ihm beim nächsten Unterricht in die Tasche steckt. »Ich würde dich gern näher kennenlernen«, lässt sie den Mitschüler wissen. Es dauert eine Weile, bis die Antwort kommt. Es folgen Verabredungen zur Disko in Altmittweida und zum Tanz im benachbarten Schönborn. Anna gefällt, wie behutsam Volker die Beziehung angeht. Er macht weder Anspielungen, dass er mit ihr ins Bett will, noch bedrängt er sie bei den zärtlichen Abschiedsküssen nach solchen gemeinsamen Abenden.

Herbst 1976, Nossen/Karl-Marx-Stadt

Als Anna nach der zehnten Klasse entgegen ihren ursprünglichen Dolmetscherplänen eine Lehre als Zootechnikerin beginnt, muss sie im Herbst 1976 ins Internat nach Nossen ziehen. Dort findet die praktische Ausbildung statt. Der Kontakt zu Volker, der seine Lehre in Karl-Marx-Stadt bei der Deutschen Reichsbahn beginnt, beschränkt sich nun auf Briefe. Unter der Woche können sich die beiden gar nicht mehr sehen, dafür ist die Entfernung ohne eigenes Moped zu groß. Anna grübelt: »Soll damit schon alles vorbei sein? Wir kennen uns doch noch nicht einmal richtig«, fragt sie Maria um Rat. »Ein einziges Mal war ich erst bei ihm in seiner Dachgeschossbude. Da hat er mir auf der Gitarre seine Lieblingslieder von den Beatles vorgespielt, ›Hey Jude‹ und ›Yesterday‹«, schwärmt Anna von jenem Besuch. Sie erzählt auch, dass Volker mit drei Freunden in einer Hobbyband musiziert und dass er der Paul McCartney unter den vier sächsischen Beatles sei. »Ist das nicht eine großartige Idee?«

Der 11. 11. ist für Petra ein besonderer Tag. Die Achtzehnjährige wird zum Faschingsauftakt vom Elfer-Rat ihres Karnevalsvereins zur Prinzessin gekürt. Nicht nur, weil sie die Schönste, sondern auch, weil sie klug, wortgewandt und witzig ist und weil sie vollen Einsatz für die fünfte Jahreszeit zeigt. Dabei arbeitet sie inzwischen beim Rat des Kreises Karl-Marx-Stadt in der Abteilung Preise und muss täglich pendeln. Petra liebt Fasching, und sie weiß, dass wieder anstrengende Wochen vor ihr liegen. Nicht nur wegen diverser Auftritte und Reden, die sie vorbereiten muss.

Sie ist inzwischen mit Peter zusammen, einem zehn Jahre älteren, attraktiven Mann, der in Karl-Marx-Stadt eine eigene Wohnung hat. Noch fährt Petra täglich zwischen Mittweida und der Bezirksstadt mit einem der sogenannten Arbeiterzüge, die im Berufsverkehr immer rappelvoll sind. Doch es kommt auch schon vor, dass sie eine Nacht bei Peter verbringt. Die Eltern und Rainer kennen ihn. Sie wissen, dass sie sich an solchen Abenden keine Sorgen machen müssen. Bei ihm ist ihre Kleine in guten Händen. Rainer ahnt, dass er nun langsam loslassen muss, dass sie bald ganz einem anderen gehören wird. Denn Petra und Peter schmieden bereits Zukunftspläne. »Diesen Mann werde ich heiraten«, gesteht sie eines Abends ihrem Bruder. Der weiß, dass sie das nie bloß aus einer Laune heraus sagen würde.

Rainer hat inzwischen das Abi in der Tasche und will studieren: in Zwickau an der Pädagogischen Hochschule. Als er sich um einen Studienplatz für die begehrten Fächer Deutsch und Sport bewirbt, gibt man ihm zu verstehen, dass ohne drei Jahre NVA-Dienst nichts läuft. Er kann sich zwar nicht vorstellen, was er drei Jahre in den Reihen der DDR-Volksarmee soll, aber zumindest sportlich ist er. Sein Vater meint, dass ihm wohl keine Wahl bleiben wird. Eine Verweigerung würde automatisch ein Nein zum Studium zur Folge haben. Das will der gerade Zwanzigjährige nicht riskieren. Also verpflichtet er sich für drei Jahre. Auch Petra rät ihm dazu. Statt der Einschreibung an der Zwickauer Hochschule folgen die Einberufung und die Vereidigung beim Wachregiment Feliks Dzierżyński. Halbe-Teupitz, südlich von Berlin, wird auf Zeit Rainers neues Zuhause – auch wenn er sich in dieser herrlichen waldreichen Gegend nie wirklich zu Hause fühlt. Wohl auch, weil die Schwester plötzlich so weit weg ist. Er merkt, wie sehr sie ihm fehlt. Ihre kleinen Geschichten, ihre Vertrautheit, ihr Humor. Wenn er Ausgang hat, vergleicht er jede seiner neuen Bekanntschaften mit Petra. Keine kann ihr das Wasser reichen.

21. Februar 1977, Halbe-Teupitz/Altmittweida

Wieder einmal muss Rainer Nachtwache schieben. Er hasst diese Dienste, dieses Nichtstun. Ihm wird in den stillen Nachtstunden bewusst, dass er erst ein halbes Jahr seiner Armeezeit hinter sich hat. Immer wieder muss er daran denken, wie lange dieser Schwachsinn noch gehen wird. »Dafür bin ich einfach nicht geboren. Nichts, aber auch gar nichts kann ich derartigen Pflichten und diesem Diensteifer hier abgewinnen«, gesteht er schon nach wenigen Wochen unverblümt seinem Vater. »Am liebsten würde ich abhauen oder einfach alles hinschmeißen.« Rainer weiß, dass das nicht geht und dass er sich dann seine ganze Zukunft verbauen würde. So einsichtig ist er. »Ich muss diese endlosen Wochen und Monate irgendwie rumkriegen«, sagt er sich immer wieder. Er versucht, auf andere Gedanken zu kommen. In einer Woche hat seine Schwester ihren neunzehnten Geburtstag. »Worüber würde sie sich wohl am meisten freuen?«, fragt er sich. Er will ihr unbedingt ein besonderes Geschenk machen, auch wenn er an dem Tag vermutlich keinen Urlaub bekommt.


Die Neusorger Straße in Altmittweida heute

Plötzlich vernimmt Unteroffizier Lange im Dunkel der Nacht schnelle Schritte. Zwei Uniformierte kommen mit Taschenlampen auf ihn zu: »Sie sollen sofort zum diensthabenden Offizier kommen. Der Genosse hier löst Sie ab«, sagt einer der Männer. Eigentlich müsste sich Rainer freuen, von diesem Posten wegzukommen. Aber ihn beschleicht ein ungutes Gefühl. »Da muss schon etwas Besonderes geschehen sein, wenn die mich hier abkommandieren«, denkt er.

Minuten später weiß er den Grund. »Ihre Schwester ist verunglückt. Wir wissen nichts über die Umstände«, sagt der Vorgesetzte. »Hier ist Ihr Urlaubsschein. Sie bekommen eine Woche Sonderurlaub. Fahren Sie sofort nach Hause!«, ertönt es befehlsmäßig.

Für Rainer ist die Stimme des Offiziers da schon ganz weit weg. Verunglückt? Was soll das heißen? Ein Verkehrsunfall? Wo und wie ist das passiert? Immer neue Fragen tun sich auf. Niemand gibt ihm in den nächsten Stunden eine Antwort.

Der D-Zug von Berlin nach Karl-Marx-Stadt hält planmäßig in Mittweida. Rainer steigt am Heimatbahnhof aus und rennt fast den Weg bis zur Wohnung der Familie. Noch nie hat er die Entfernung als so groß empfunden. Die Eltern sind nicht auf Arbeit, sondern sitzen zusammen mit den Großeltern aus Ottendorf am langen Tisch in der Stube. Vor lauter Schluchzen versteht Rainer kaum ein Wort. »Deine Schwester ist ermordet worden!«, sagt der Vater schließlich. Rainer muss sich setzen.

»So ein Satz haut dich um«, erzählt er eine Woche später einem Armeekumpel in Teupitz. »In Berlin hätte ich mir das ja noch vorstellen können. Aber in einem Nest wie Mittweida mit nicht mal 20 000 Einwohnern! Nee, so eine Nachricht hältst du nicht aus.«

Rainer setzt sich mit an den Tisch zu den Eltern und Großeltern. Kein Wort bringt er heraus. Tränen rollen über sein Gesicht. Er schämt sich nicht dafür, obwohl es ja immer heißt, starke Männer weinen nicht. Bruchstückhaft erfährt er in den nächsten Stunden und Tagen, was seiner Schwester passiert ist.

Petra hat an jenem 21. Februar alles darangesetzt, endlich von der Arbeit wegzukommen. Es ist Rosenmontag, da muss gefeiert werden. Durch die monatliche Parteiversammlung ist der Feierabend bereits weit nach hinten gerückt. Der Zug steht im Karl-Marx-Städter Hauptbahnhof schon zur Abfahrt bereit und rollt um 18.29 Uhr an. Als Petra zwanzig Minuten später in Altmittweida aussteigt, ist es stockdunkel. Mehr als zwei Kilometer muss sie jetzt noch laufen. Doch dieser Weg ist immer noch kürzer, als wenn sie eine Station weiter bis zum Mittweidaer Bahnhof fahren würde. Es ist kühl, aber es gibt keinen Frost. Sie hat außer ihrer Tasche einen Knirps dabei, der zusammengeschoben in der Hülle steckt. Auf der Dorfstraße ist kaum jemand unterwegs. Sie beeilt sich, biegt schließlich an der großen Kreuzung nach rechts ab und hat jetzt nur noch die Anhöhe vor sich, die im Volksmund Käseberg genannt wird. Wenn sie oben ankommt, kann sie immer schon die Lichter des Neubaublocks sehen, in dem sie jetzt nur noch allein mit den Eltern wohnt. Wolfgang ist ausgezogen, und Rainer bei der Armee.

Schnellen Schrittes eilt sie die Neusorger Straße hinauf. Auf der rechten Seite reiht sich ein Dutzend Häuser aneinander. Dann folgen bis zur Mittweidaer Straße nur noch Felder. Plötzlich vernimmt Petra hinter sich Schritte. Wo kommen die auf einmal her? Sie hatte die gesamte Zeit niemanden gesehen oder gehört. Bis zum Haus der Eltern ist es noch ein reichlicher halber Kilometer. Obwohl die junge Frau nun schneller läuft, kommen die Schritte immer näher. Jetzt rennt sie, doch die Schritte sind weiter dicht hinter ihr. Sie ist froh, dass sie ihren Knirps am Handgelenk trägt. Mit dem will sie zuschlagen, wenn ihr einer an die Wäsche will.

Plötzlich umfasst eine Hand von hinten ihren Hals. Sie dreht ihren Kopf zu dem Angreifer und sieht sich einem jungen Mann gegenüber, der rabiat an ihrer Tasche zerrt. Das fast kindliche Gesicht kommt ihr bekannt vor. Aber sie kann es in diesem Moment niemandem zuordnen. Sie beginnt zu schreien, so laut sie kann. Auf einmal sieht Petra trotz der Finsternis die blinkende Klinge eines Messers auf sich gerichtet. Panik erfasst sie. Ihre Knie zittern. »Was willst du von mir?«, fragt sie mit schriller Stimme. Sie wartet die Antwort nicht ab, sondern schlägt blitzschnell mit ihrem Schirm auf den Angreifer ein und schreit. Immer und immer wieder schlägt sie schreiend um sich. Doch sie scheint den Mann nicht richtig zu treffen und ihn damit eher noch zu reizen. Dann stolpert sie und fällt in den Straßengraben. Es liegt kein Schnee. Ihr Körper drückt sich in den weichen Untergrund direkt neben der Straße. Sie hat keine Chance mehr, sich zu wehren. Der Körper des Mannes, der ihr ganz klar überlegen ist, nimmt ihr die Luft zum Atmen. Plötzlich spürt sie einen heftigen Schmerz.

Ihr Angreifer sticht auf sie ein, einmal, zweimal, dreimal … Erst nach dem vierten Messerstich hält er inne und lässt von ihr ab. Das Gemetzel hat ihn erregt. In diesem Moment verspürt er einen heftigen warmen Samenerguss in seiner Hose. Er sieht die Tasche der Frau im Dreck liegen und kommt zu sich. Die war es doch, weshalb er ihr nachgelaufen ist. Er hatte die Frau vom Fenster seiner Dachgeschosswohnung in der Neusorger Straße gesehen und gemutmaßt, dass sie nicht nur hübsch sei, sondern bestimmt Geld in dieser Tasche habe. Ihn selbst drücken Schulden. Das nächste Lehrlingsgehalt würde es erst in zehn Tagen geben. Es reicht ohnehin nie für einen ganzen Monat. Er grübelt ständig, wie er an Kohle kommt. Nun wühlt er in der Tasche der unbekannten Frau herum. »Verdammter Weiberkram«, schimpft er, als ihm Lippenstift, Schminkspiegel, Cremedose und ein Parfümfläschchen zwischen die Finger kommen. Dann endlich fühlt er eine kleine Geldbörse. Er kann im Dunkeln nicht erkennen, wie viele Scheine und Münzen sich darin befinden. Er steckt das Portemonnaie in seine Jackentasche und schaut sich kurz um, ob ihn jemand bemerkt haben könnte. Doch er sieht und hört niemanden. Er wirft noch einen Blick auf die junge Frau, die keinen Laut und keine Regung mehr von sich gibt. Die kann mich nicht mehr verraten, ist er überzeugt. Dann rennt er über das Feld. Der lehmhaltige Ackerboden klebt an seinen Schuhen. Er fällt, stützt sich mit Ellenbogen und Händen am Boden ab, um nicht vollends auf dem Bauch zu landen. Dann rappelt er sich wieder auf, erbricht sich und läuft nach Hause zurück.

Leise öffnet und schließt er die nie verschlossene Haustür und verschwindet lautlos in seinem Dachgeschossdomizil. Er weiß nicht, ob seine Großmutter, die das Erdgeschoss bewohnt und der sonst nichts entgeht, mitbekommen hat, dass er kurz außer Haus war. Ihr Fernseher läuft noch so laut wie vor einer knappen halben Stunde, als er seine Dachkammer verließ. Mit verschmutzten Händen zieht er die Geldbörse der jungen Frau aus seiner Hosentasche. Sie enthält fünfzig Mark in Scheinen und etwas Kleingeld.

Petras Eltern warten bis halb acht mit dem Abendbrot. Als die Tochter bis dahin nicht kommt, sagt die Mutter: »Sie wird wohl wieder bei Peter übernachten, wie schon am Wochenende. Da muss sie morgens nicht so früh raus. Vielleicht schenkt sie uns ja schon bald ein Enkelkind. Es ist schön, dass wir uns um das Mädchen keine Sorgen machen müssen. Petra weiß, was sie will.«

Gegen 19.15 Uhr kommt Jürgen Ullmann mit seinem Moped dort vorbei, wo sich Petra in einem letzten Kraftakt auf allen Vieren aus dem Straßengraben bis auf die Fahrbahn geschleppt hat. Es ist eher Zufall, dass der Mopedfahrer in der Dunkelheit am Straßenrand etwas liegen sieht. Dass es eine Frau ist, bemerkt der 45-Jährige erst, als er anhält und auf das unbekannte Etwas zugeht. Er erschauert. Die Frau scheint tot zu sein. In diesem Moment kommt ein Trabant von Altmittweida den Berg hoch gefahren. Ullmann gibt hektisch winkend Stopp-Zeichen. Der Fahrer steigt aus und erfasst auf den ersten Blick, dass hier etwas Schlimmes passiert sein muss. Die Männer beschließen, dass Ullmann bei dem Opfer bleibt und der Trabi-Fahrer bis zur Torwache der Parteischule fährt, um von dort telefonisch Polizei und Rettungsdienst zu verständigen.

Zehn Minuten später ist das Krankenauto da. Der Puls der in einer großen Blutlache liegenden Frau ist noch schwach zu spüren. Das Krankenhaus Mittweida liegt nicht weit entfernt. Doch dort kann der jungen Frau niemand mehr helfen. Sie verblutet kurz nach der Ankunft an den Stichverletzungen – ohne etwas über das Geschehen gesagt zu haben.

Die Polizei ist da bereits am Tatort. Sie kann in dieser Nacht nichts mehr machen, als den Fundort der Leiche abzusperren. Die Spurensuche auf dem Feld gestaltet sich im Dunkeln mehr als beschwerlich. Was vor allem ins Auge fällt, ist die Blutlache auf der Fahrbahn, die einen Durchmesser von mehr als einem Meter hat. In dieser Nacht darf niemand mehr die Straße passieren.

22. Februar 1977, Mittweida/Altmittweida

Am nächsten Morgen beginnen die Männer der Mordkommission Karl-Marx-Stadt, zu der ein erfahrener Kriminaltechniker mit entsprechendem Equipment gehört, mit der Spurensuche. Auch Dieter Wolfram, Oberstleutnant der K, der Kriminalpolizei, ist vor Ort.

Seit knapp zehn Jahren ist er Teil der Truppe. Seine erste Begegnung mit dem gewaltsamen Tod eines jungen Mädchens liegt neuneinhalb Jahre zurück. Damals kam er nach drei Jahren Direktstudium gerade frisch von der Offiziersschule des Innenministeriums Aschersleben in die zu dieser Zeit nur dreiköpfige Mordkommission Karl-Marx-Stadt. Eine sechzehnjährige Schülerin aus Frankenberg war vom Vater ihrer Freundin aus sexueller Lust erwürgt und unter Laub vergraben worden. Nach einer Woche hatte Wolfram den Täter gefasst, der eine lebenslange Haftstrafe erhielt, nach achtzehn Jahren allerdings durch ein Gnadengesuch auf freien Fuß kam.

Inzwischen gehören Tote zu seinem Berufsalltag. In Momenten wie jetzt fragt er sich, warum er sich keinen anderen Beruf gesucht hat. Aber er weiß, dass in der DDR so gut wie jeder Täter gestellt wird, besonders bei Schwerverbrechen. Wenn auch mit einem hohen Personalaufwand. Die Kriminalisten im ganzen Land sind gut ausgebildet, und Wolfram gehört zu jenen, die motivieren können. Gern auch mit seinem Standardsatz: »Wir fahren erst nach Hause, wenn wir das Ding im Kasten haben.«


Bezirksparteischule »Ernst Schneller«

Dass die Männer diesmal einen brisanten Fall zu lösen haben, ahnen die Ermittler noch nicht. Der Tatort liegt nur wenige hundert Meter von der SED-Bezirksparteischule entfernt. Fast tausend Genossen werden hier ständig in einem einjährigen Direkt- oder zweijährigen Fernstudium auf Linie gebracht. Die aus der näheren Umgebung pendeln zwischen Wohn- und Studienort. Für alle anderen gibt es gleich nebenan ausreichend Internatsplätze: in Gebäuden, die 1913 errichtet wurden und schon den Nationalsozialisten für Schulungszwecke dienten. Die Herberge ist alles andere als luxuriös. Zum Teil schnarchen fünf Männer auf einer Bude.

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