Kitabı oku: «Im Reich der hungrigen Geister»
DR. GABOR MATÉ
IM REICH DER
HUNGRIGEN
GEISTER
AUF TUCHFÜHLUNG MIT
DER SUCHT – STIMMEN AUS FORSCHUNG,
PRAXIS UND GESELLSCHAFT
IMPRESSUM
Dr. Gabor Maté
Im Reich der hungrigen Geister
Auf Tuchfühlung mit der Sucht –
Stimmen aus Forschung, Praxis und Gesellschaft
1. deutsche Auflage 2021
ISBN 978-3-96257-217-4
© Narayana Verlag 2021
Titel der englischen Originalausgabe:
In the Realm of Hungry Ghosts - Close Encounters with Addiction
Copyright © 2008 by Gabor Maté, this translation published by arrangement with Alfred A. Knopf Canada, a division of Penguin Random House Canada Limited and Liepman AG.
Translated from the English language: In the realm of hungry ghosts
First published in Canada by Alfred A. Knopf Canada in 2008
Übersetzt aus dem Englischen von Annegret Hunke-Wormser & Elisabeth Möller-Giessen
Cover Design: Andrew Roberts
Coverlayout: Narayana Verlag GmbH
Fotografien: © Rod Preston
Herausgeber:
Unimedica im Narayana Verlag GmbH, Blumenplatz 2,
79400 Kandern, Tel.: +49 7626 974970-0
E-Mail: info@unimedica.de, www.unimedica.de
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Die Empfehlungen in diesem Buch wurden von Autor und Verlag nach bestem Wissen erarbeitet und überprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Weder der Autor noch der Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.
Für meine geliebte Rae, meine Frau und liebste Freundin, die meine Arbeit seit fünfzig Jahren mitträgt, durch dick und dünn mit mir geht, in guten wie in schlechten Zeiten an meiner Seite ist, und dies immer zu unserem Besten.
INHALTSVERZEICHNIS
Anmerkungen des Autors
Einleitung
Die hungrigen Geister: Im Reich der Süchte
Teil I Der Höllenzug
Kapitel 1 Das einzige Zuhause, das er je hatte
Kapitel 2 Die tödliche Macht der Drogen
Kapitel 3 Die Schlüssel zum Paradies
Kapitel 4 Sie glauben mir meine Lebensgeschichte wohl nicht!
Kapitel 5 Angelas Großvater
Kapitel 6 Tagebuch einer Schwangerschaft
Kapitel 7 Beethovens Geburtszimmer
Kapitel 8 Es muss Momente der Hoffnung geben
Teil II Arzt, heile dich selbst
Kapitel 9 Wer könnte das besser verstehen als ich?
Kapitel 10 Zwölf-Schritte – ein Protokoll
Teil III Ein anderer Zustand des Gehirns
Kapitel 11 Was ist Sucht?
Kapitel 12 Von Vietnam bis zum „Rat Park“
Kapitel 13 Ein anderer Gehirnzustand
Kapitel 14 Durch die Nadel – eine warme, sanfte Umarmung
Kapitel 15 Kokain, Dopamin und Schokoriegel
Kapitel 16 Wie ein Kind, das nicht erwachsen werden konnte
Teil IV Wie sich das süchtige Gehirn entwickelt
Kapitel 17 Ihre Gehirne hatten nie eine Chance
Kapitel 18 Trauma, Stress und die Biologie der Sucht
Kapitel 19 Es liegt nicht an den Genen
Teil V Der Abhängigkeitsprozess und die Suchtpersönlichkeit
Kapitel 20 „Ich tue alles, um das Gefühl der Leere zu vermeiden“
Kapitel 21 Zu viel Zeit für äußere Dinge
Kapitel 22 Armseliger Liebesersatz
Teil VI Die Idee einer humaneren Realität: Jenseits des Krieges gegen Drogen
Kapitel 23 Vertreibung und die sozialen Wurzeln der Sucht
Kapitel 24 Kenne deinen Feind
Kapitel 25 Ein gescheiterter Krieg
Kapitel 26 Die Freiheit der Wahl und die Wahl der Freiheit
Kapitel 27 Vorschlag für eine aufgeklärte, soziale Drogenpolitik
Kapitel 28 Ein kleiner, aber notwendiger Schritt
Teil VII Die Ökologie der Heilung
Kapitel 29 Die Kraft der mitfühlenden Neugier
Kapitel 30 Das innere Klima
Kapitel 31 Die vier Schritte – und der Fünfte
Kapitel 32 Enthaltung und das externe Milieu
Kapitel 33 Ein Wort an Familien, Freunde und Betreuer
Kapitel 34 Nichts ist verloren
Erinnerungen und Wunder: Ein Epilog
Appendix I Trugschlüsse in Adoptions- und Zwillingsstudien
Appendix II Eine enge Verbindung: Aufmerksamkeitsdefizitstörungn und Süchte
Appendix III Die Suchtprävention
Appendix IV Die zwölf Schritte
Endnoten
Danksagung
Referenzen
Index
Über den Autor
Anerkennung für Dr. Gabor Maté und seinen Bestseller Im Reich der hungrigen Geister
Anmerkungen des Autors
Alle Personen, Zitate, Fallbeispiele und Lebensgeschichten in diesem Buch sind authentisch. Keine verschönernden Details wurden hinzugefügt und keine künstlichen Charaktere wurden geschaffen. Zum Schutz der Privatsphäre habe ich für all meine Patienten Pseudonyme verwendet, mit Ausnahme von zwei Personen, die direkt darum gebeten haben, namentlich genannt zu werden. In zwei anderen Fällen habe ich – auch hier zum Schutz der Privatsphäre – die körperlichen Merkmale verändert.
Die Personen, deren Leben hier offengelegt wird: Sie haben ausnahmslos die auf sie zutreffenden Texte gelesen. Ferner haben die Personen, deren Fotos auf diesen Seiten abgebildet sind, ihre vorherige Genehmigung und endgültige Zustimmung erteilt.
Quellenverweise für alle Zitate aus wissenschaftlichen Arbeiten sind für jedes Kapitel am Ende dieses Buches in den Referenzen aufgeführt. Leider reicht der Platz nicht aus, um alle Zeitschriftenartikel aufzulisten, die bei der Erstellung dieses Buches hinzugezogen wurden. Fachleute – im Grunde genommen alle Leser – können mich für weitere Informationen gern kontaktieren. Ich bin über meine Website erreichbar: www.drgabormate.com. Ich freue mich über jeden Kommentar, kann aber Anfragen, in denen um medizinischen Rat gebeten wird, nicht beantworten.
Abschließend noch eine Anmerkung zu den Porträts in diesem Text. So demütigend es für einen Autor auch sein mag, dass ein Foto mehr sagt als tausend Worte, gibt es wohl keinen besseren Beweis für diese Aussage als die bemerkenswerten Fotografien, mit denen Rod Preston zu diesem Buch beigetragen hat. Da Rod in der Downtown Eastside gearbeitet hat, kennt er die Menschen, über die ich geschrieben habe, gut, und seine Kamera hat ihre Erfahrungen mit Treffsicherheit und Gefühl eingefangen. Seine Website: www.rodpreston.com
Was ist Sucht wirklich? Es ist ein Zeichen, ein Signal, ein Symptom der Verzweiflung. Es ist eine Sprache, die uns von einer Notlage erzählt, die verstanden werden muss.
ALICE MILLER
Abbruch der Schweigemauer
Auf dem Weg zur Wahrheit macht der Mensch zwei Schritte vorwärts und einen rückwärts. Die Leiden, die Sünden und die Langeweile des Lebens werfen ihn zurück, aber der Durst nach Wahrheit und der feste Wille treiben ihn vorwärts, immer vorwärts. Und wer weiß? Vielleicht erreicht er einmal die ganze Wahrheit.
ANTON ČECHOV
Das Duell
Einleitung
Es ist Februar 2018 – zehn Jahre nach der Veröffentlichung von Im Reich der hungrigen Geister. Ich steige aus einem Aufzug in einem Hotel in San Francisco. Von der anderen Seite der Lobby eilt ein Fremder mit offenen Armen auf mich zu. „Mein Sohn starb an einer Überdosis. Es war unbegreiflich für mich. Aber als ich Ihr Buch las, verstand ich, warum es geschehen war.“
Die tränenreiche Umarmung eines trauernden Vaters bestätigt mich darin, dass es richtig war, dieses Buch zu schreiben, und rechtfertigt die Arbeit, die dahintersteckt. In den letzten zehn Jahren haben mir Menschen aus allen Gesellschaftsschichten von überallher geschrieben, um die Wirkung des Buches auf sie selbst oder auf das Leben ihrer Lieben zu beschreiben. Sie berichten, wie es ihre Sichtweise auf süchtige Menschen und ihre Vorstellung von dem, was Sucht ist, beeinflusst hat. Es hat ihnen geholfen, ihr Herz für das ungeheure Ausmaß des Problems zu öffnen. Mein Buch hat Lieder und Gedichte in Kanada und den USA, Gemälde in Spanien sowie Theaterproduktionen in Rumänien und Ungarn inspiriert und wird heute in Ausbildungseinrichtungen, Suchtberatungsprogrammen und in Therapieeinrichtungen eingesetzt. Besonders dankbar bin ich angesichts der zunehmenden Suchtkrise für die Zuschriften junger Studenten, die beschreiben, wie sie motiviert wurden, Therapeuten zu werden oder Medizin bzw. Psychiatrie zu studieren, um Menschen, wie ich sie in meinem Buch geschildert und ihnen durch die Interviews Ausdruck verliehen habe, zu helfen. Eine Sozialarbeiterin aus Los Angeles schrieb: „Unsere Polizisten haben mich echt umgehauen – sie haben mir Hoffnung in meinem abgestumpften Herz gemacht. Vor allem einer hat sich das Konzept der Schadensminderung in Im Reich der hungrigen Geister zur Orientierung genommen: Wenn er Kandidaten identifiziert, geht er mit Respekt und kreativem Mitgefühl auf sie zu.“ Das Buch hat Eingang in die Gefängnisse gefunden – Therapeuten haben mir von Häftlingen erzählt, die weinten, als sie feststellten, dass sich ihre Geschichten in diesem Buch oder in einigen meiner damit verbundenen Vorträge widerspiegelten. „Ihr Buch hat es mir ermöglicht, die Ursachen meiner Sucht herauszufinden“, schrieb ein in Idaho inhaftierter Mann. „Ich kann nun die Frage beantworten, die mir meine Familie und Freunde seit Jahrzehnten stellen: Warum?“
Die Frage nach dem ‚Warum‘ war noch nie dringlicher als heute.
Während ich diese Einleitung schreibe, gibt es das große Problem der Überdosierung von Opioiden. Alle drei Wochen sterben in den Vereinigten Staaten so viele Menschen an einer Überdosis wie bei den Anschlägen vom 11. September 2001 im World Trade Center. In Großbritannien, das in Europa den höchsten Prozentsatz an Heroinabhängigen verzeichnet, erreichten die drogenbedingten Todesfälle im vergangenen Jahr einen Rekordstand: In England und Wales starben über 3.700 Menschen, hauptsächlich an Heroin und verwandten Opioiden. In Deutschland kamen 1.300 Menschen durch Überdosierungen ums Leben. In Kanada sind die Zahlen ähnlich erschreckend. Laut dem Bericht der kanadischen Gesundheitsbehörde vom März 2018 gab es im Jahr 2017 mehr als 4.000 opioidbedingte Todesfälle, was einem Anstieg von fast 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht und „jeden Teil des Landes betrifft … mit verheerenden Auswirkungen auf Familien und Gemeinden“. In meiner Heimatregion British Columbia starben laut der Gesundheitsbeauftragten der Provinz, Dr. Bonnie Henry, im vergangenen Januar in nur einem Monat 125 Menschen an einer Überdosis. „Früher dachte man“, so erzählte mir Dr. Henry, „dass Überdosierungen den Menschen dort einfach so passieren“, womit sie die heruntergekommenen Viertel wie Vancouvers drogenberüchtigtes Downtown Eastside meinte, wo dieses Buch beginnt und endet und wo ein Großteil seiner Begebenheiten stattfinden. Dr. Henry berichtete, dass British Columbia 2016 einen öffentlichen Notstand ausrief, teilweise um die Diskussion von einem lokal begrenzten Notstand auf das umfassendere soziale Problem zu lenken, das es tatsächlich ist. „Das sind nicht irgendwelche Menschen. Es sind unsere Menschen, unsere Brüder und Schwestern, unsere Familien. Todesfälle durch eine Überdosis kommen in allen Stadtteilen vor, von den reichsten bis zu den ärmsten.“
Bei aller echten Betroffenheit und Trauer wegen dieses massenhaften Sterbens trösten wir uns leicht darüber hinweg, indem wir uns weismachen, dass diese Todesfälle nur auf individuelle Vorlieben oder Gewohnheiten zurückzuführen sind. Auf sozialer und politischer Ebene stellen sie menschliche Opfer dar. Die Menschen fallen dem anhaltenden Widerwillen unserer Gesellschaft zum Opfer, sich mit den Realitäten und den Ursachen der Sucht, insbesondere des Drogenkonsums, auseinanderzusetzen. Im Laufe der Jahrzehnte haben wir uns trotz aller Anhaltspunkte geweigert, eine Politik zu fordern oder anzunehmen, die die verheerenden Folgen der Sucht verhindern oder ihnen angemessen begegnen würde. Dies hat auch David Walker, Vorsitzender der Gesundheitsbehörde Public Health Ontario, in einem Brief an The Globe and Mail (17. März 2018) scharf und treffend bemerkt: „2003 wurde Kanada von einer neuen und beängstigenden Epidemie heimgesucht, vor allem in Toronto: Vierundvierzig Menschen starben an SARS. Die Regierungen der Provinzen und die Bundesregierung reagierten mit vollem Einsatz. Fünfzehn Jahre später befällt die Opioid-Sucht, eine weitere neue und beängstigende Epidemie, Kanada. Man fragt sich, warum unsere kollektive Reaktion relativ verhalten ausfällt. Liegt es daran, dass wir diejenigen, die sterben, weniger schätzen? Ist das die ‚fürsorgliche‘ Gesellschaft, zu der wir uns entwickelt haben?“
Wie bei vielen anderen menschlichen Problemen gibt es sogenannte unmittelbare Ursachen für diese eskalierende Epidemie – Ursachen, die unmittelbar zu den tragischen Ergebnissen beitragen. Jeder, der die aktuellen Nachrichten liest oder schaut, ist sich bewusst, dass die jüngste breite Verfügbarkeit der billigen und wirksamen Opioide Fentanyl und Carfentanyl unter den unmittelbaren Ursachen eine herausragende Rolle spielt. (Diese Drogen haben im Vergleich zu ihren pflanzlichen Verwandten Heroin und Morphium eine viel geringere Sicherheitsmarge, das heißt der Unterschied zwischen einer Dosis, die einen „high“ macht oder bei Entzugserscheinungen hilft, und einer Dosis, die tödlich wirkt, ist viel geringer. Daher ihre Letalität.)
Die Gefahr dieser potenziell selbstmörderischen Gewohnheiten ist nur die Spitze eines riesigen Eisbergs. In unserer Gesellschaft, in der die Menschen immer verzweifelter versuchen, der Isolation und dem Verdruss im Alltag zu entkommen, gibt es alle möglichen Süchte, und es werden immer mehr. „Die Internetabhängigkeit scheint eine weitverbreitete Störung zu sein, die es verdient, in das DSM-V [The Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Auflage] aufgenommen zu werden“, so las man im Editorial des American Journal of Psychiatry in dem Jahr, als dieses Buch erschien – und sie wurde seitdem allgemein viel umfassender als Erkrankung anerkannt.
Kürzlich wurde in einem Artikel in Psychology Today die „Computerspielsucht“ diskutiert. Smartphones sind ein weiterer wesentlicher neuer Suchtfaktor. Die New Yorker Psychotherapeutin Nancy Colier berichtete, dass „die meisten Menschen ihre Smartphones jetzt 150 Mal pro Tag oder alle sechs Minuten checken. Und junge Erwachsene verschicken inzwischen durchschnittlich 110 SMS pro Tag. Sechsundvierzig Prozent der Smartphone-Nutzer sagen mittlerweile, dass sie ohne ihre Geräte ‚nicht leben‘ könnten“: ein klassisches Zeichen für Suchtabhängigkeit.
Wir sollten uns davor hüten, Ursache und Wirkung zu verwechseln – nämlich die Erscheinungsform mit dem zugrunde liegenden Prozess. Hier hat man es nicht mit neuen Störungen zu tun, sondern nur mit neuen Zielen für das universelle und uralte Suchtverhalten; es sind neue Formen der Flucht. Die Prozesse des Geistes und des Gehirns sind bei allen Süchten, egal in welcher Form, gleich, ebenso wie die psychische Leere, die ihren Kern ausmacht.
„Die Daten offenbaren eine Gesellschaft, die von Verzweiflung gepackt ist, mit einem Anstieg ungesunder Verhaltensweisen und einer Epidemie von Drogen“, schrieb der Nobelpreisträger Paul Krugman in der New York Times. Wie sollen wir den Erscheinungsformen der Verzweiflung begegnen, ohne die Verzweiflung selbst zu verstehen?
Die Umstände, die die Verzweiflung – und damit möglicherweise auch die Sucht – fördern, sind mit jedem Jahrzehnt stärker in der industrialisierten Welt verwurzelt, vom Osten bis zum Westen: mehr Isolation und Einsamkeit, weniger Gemeinschaftskontakte, mehr Stress, mehr wirtschaftliche Unsicherheit, mehr Ungleichheit, mehr Angst und letztlich mehr Druck auf und weniger Unterstützung für junge Eltern. Angesichts der Pseudo-Verbundenheit unseres technologischen Zeitalters gibt es immer mehr Abkoppelung. Das Magazin Adbusters bemerkte hierzu in einer kürzlich erschienenen Ausgabe ironisch: „Sie haben 2.672 Freunde und durchschnittlich dreißig Likes pro Beitrag und niemanden, mit dem sie an einem Samstagabend zusammen essen gehen können.“
Es ist frappierend, dass hier in Downtown Eastside, wo Konsumenten in einigen Einrichtungen Drogen prüfen können, bevor sie sie injizieren, sich immer noch viele für Substanzen entscheiden, von denen sie wissen, dass sie potenziell tödliche Bestandteile enthalten. Um zu verstehen, warum das so ist, müssen wir nach den eigentlichen Ursachen suchen, die die Menschen überhaupt erst zum Drogenkonsum – und zu Abhängigkeiten jeglicher Art – treiben.
„Wir müssen darüber reden, was Menschen dazu veranlasst, Drogen zu nehmen“, sagte der berühmte Traumaforscher Dr. Bessel van der Kolk. „Menschen, die sich gut fühlen, tun nichts, was ihrem Körper schadet. Traumatisierte Menschen fühlen sich aufgewühlt, unruhig, haben eine Enge in der Brust. Sie hassen es, wie sie sich fühlen. Sie nehmen Drogen, um ihren Körper zu stabilisieren.“ Es ist die Verzweiflung – das Bedürfnis, Körper und Geist zu regulieren und der unerträglichen Bedrängnis oder Unruhe zu entkommen. Wie dieses Buch aufzeigt, führt diese Verzweiflung zu jedweder Form von Abhängigkeit, ob substanzgebunden oder nicht.
„Ich werde Sie nicht fragen, wovon Sie abhängig waren“, sage ich oft zu den Menschen. „Weder wann, noch für wie lange. Ich frage nur, was auch immer Ihr suchterzeugender Anlass war. Was hat die Droge Ihnen geboten? Was hat Ihnen daran gefallen? Was hat es Ihnen kurzfristig gegeben, wonach Sie sich so sehr sehnten oder was Sie so sehr mochten?“ Und die Antworten lauten durchgängig: „Es half mir, emotionalen Schmerzen zu entkommen, half mir, mit Stress umzugehen, gab mir Seelenfrieden, ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen, ein Gefühl der Kontrolle.“
Solche Antworten machen deutlich, dass Sucht weder eine bewusste Wahl, noch in erster Linie eine Krankheit ist. Sie hat ihren Ursprung in dem verzweifelten Versuch eines Menschen, ein Problem zu lösen: das Problem des emotionalen Schmerzes, des überwältigenden Stresses, der verlorenen Beziehungen, des Kontrollverlustes, des tiefen Unbehagens mit sich selbst. Kurz gesagt, es ist der vergebliche Versuch, das Problem des menschlichen Schmerzes zu lösen. Alle Drogen – und alle Suchtverhaltensweisen, ob substanzgebunden oder nicht, ob Glücksspiel-, Sex-, Internet- oder Kokainsucht – lindern den Schmerz entweder direkt oder lenken davon ab. Daher mein Mantra: Die erste Frage lautet nicht „Warum die Sucht?“, sondern „Warum der Schmerz?“.
„Selbst die schädlichsten Süchte dienen einer lebenswichtigen Anpassungsfunktion für entwurzelte Individuen“, schreibt mein Freund und Kollege Dr. Bruce Alexander in seinem grundlegenden Werk The Globalization of Addiction: A Study in the Poverty of the Spirit. „Nur chronisch und stark entwurzelte Menschen sind für Sucht anfällig.“ Mit Entwurzelung meint er „einen anhaltenden Mangel an psychosozialer Integration“. Dr. Alexander nennt dies innere und soziale Entwurzelung; ich nenne es Trauma.
„Drogenprobleme müssen in ihrem breiteren sozialen und wirtschaftlichen Kontext gesehen und angegangen werden. Tief verwurzelte Drogenprobleme scheinen signifikant mit Ungleichheit und sozialer Ausgrenzung verbunden zu sein“, mahnte die britische Kommission für Drogenpolitik im Jahr 2012. Es ist nicht überraschend, dass die Suchtepidemie in Großbritannien an Orten wie Hull am weitesten verbreitet ist, wo der Niedergang der Fischereiindustrie dazu beigetragen hat, dass es dort eine der höchsten Arbeitslosenquoten im Vereinigten Königreich gibt. Die New York Times berichtete kürzlich aus Hull: „Der neue Kick kam von Fentanyl, einem opioiden Schmerzmittel, das fünfzig- bis hundertmal stärker wirkt als Morphium, und dem Heroin beigemischt wurde. Die Droge hat Tausende von Amerikanern, darunter die Rockstars Prince und Tom Petty, getötet. Doch das tödliche Risiko, das sie darstellt, hat die Süchtigen in Kingston Upon Hull, allgemein bekannt als Hull, kaum abgeschreckt. In der Tat können viele von ihnen nicht genug davon bekommen. ‚Es lässt alle Schmerzen verschwinden‘, erklärt Chris, ein zweiunddreißigjähriger Obdachloser aus Hull, der seit mehr als acht Jahren heroinabhängig ist.“
„Es ist zermürbend zu erleben, dass wir jeden Tag Menschen auf eine Weise verlieren, die hätte vermieden werden können“, bestätigt Dr. Henry. „Um das auszugleichen, haben wir bei der Bewusstseinsbildung große Fortschritte gemacht. Der öffentliche Diskurs, den wir wahrnehmen, hat sich dramatisch verändert.“ Von meinen Reisen durch Nordamerika und andere Teile der Welt weiß ich, dass dies der Fall ist. Ich vertraue darauf, dass dieses Buch weiterhin zu diesem Wandel beitragen wird. Aber trotz ermutigender Anzeichen und gesundheitspolitischer Initiativen auf lokaler und Bundesebene in Kanada und international liegt noch ein langer Weg vor uns, wenn wir einen vernünftigen, evidenzbasierten, mitfühlenden und wissenschaftlichen Ansatz für die Suchtbehandlung und -prävention erreichen wollen. Die Drogenkrise bringt uns an einen Abgrund. Da die gegenwärtige Situation unhaltbar ist, können wir entweder mögliche Lösungen in Betracht ziehen oder zulassen, dass wir über den Rand des Abgrundes in eine größere Dysfunktionalität, eine tiefere tragische Sinnlosigkeit, abgleiten.
Es wurde bekannt, dass in Kanada – als willkommenes Zeichen des sich abzeichnenden gesunden Menschenverstandes – zwei der führenden Parteien, die Liberalen und die New Democratic Party, erwägen, den Besitz bisher illegaler Drogen für den persönlichen Gebrauch zu entkriminalisieren. Dies wird mit großem Erfolg in Portugal praktiziert, dem einzigen Land der Welt, in dem es nicht mehr illegal ist, eine kleine Menge von beispielsweise Heroin oder Kokain für den persönlichen Gebrauch zu besitzen. Statt die Menschen in Gefängnisse zu stecken, werden sie ermutigt, an Rehabilitationsprogrammen teilzunehmen. Statt sie sozial auszugrenzen, wird ihnen Hilfe angeboten.
In Portugal ist der Gebrauch von Drogen zurückgegangen, es gibt weniger Kriminalität und mehr Menschen in Behandlung. Das Land hat die Konsumrate von intravenösen Drogen halbiert. Es gab keine negativen Auswirkungen. Norwegen denkt über die gleiche Politik nach. „Wie ich es sehe, geht es um die Entkriminalisierung der Menschen, die Drogen konsumieren, nicht um die Entkriminalisierung der Drogen“, sagt Dr. Henry. Wenn wir uns vorstellen, welche Fortschritte wir erzielen könnten, wenn ein großer Teil der Ressourcen, die jetzt in die schrecklichen Verfahren der Vollstreckung und Inhaftierung geflossen sind, der Prävention, Schadensminderung und Behandlung widmen würden? Das ist die Chance!
Denn sonst besteht die Gefahr, dass wir uns in die andere Richtung bewegen, zu mehr Ablehnung, Verachtung und Feindseligkeit. Das reichste und einflussreichste Land der Welt, in dem die Suchtraten bereits jetzt am höchsten sind, droht trotz – und zum großen Teil wegen – einer drakonischen Politik, sich in Richtung einer stärkeren Ächtung und gewaltsamen Unterdrückung zu entwickeln. Im März 2018 befürwortete der Präsident der Vereinigten Staaten öffentlich die Todesstrafe für Drogenhändler. „Einige Länder haben eine sehr, sehr harte Strafe – die ultimative Strafe“, sagte Donald Trump. „Und übrigens haben sie ein viel geringeres Drogenproblem als wir.“ In USA Today war zu lesen: „Im vergangenen Mai beglückwünschte Trump den philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte zu seinem ‚great job‘ bei der Bekämpfung von Drogen. Duterte hatte sich damit gebrüstet, mindestens drei Tatverdächtige persönlich erschossen zu haben. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen haben Dutertes Selbstjustiz-Kampagne verurteilt, die Tausende von verdächtigen Drogenhändlern und -konsumenten das Leben gekostet hat.“ Amerikas derzeitiger Justizminister Jeff Sessions hat ebenfalls eine strengere Durchsetzung und härtere Bestrafung gefordert, da er angesichts aller Beweise seine Ansicht bestätigt sieht, dass Drogenkonsum und Kriminalität unweigerlich zusammenhängen. Was unweigerlich zu Verbrechen führt, ist nicht der Drogenkonsum als solcher, sondern die Kriminalisierung, wie der Autor Johann Hari in Drogen: Die Geschichte eines langen Krieges brillant aufzeigt. Nach den Worten des kolumbianischen Journalisten Alonso Salazar hat der von den Amerikanern geführte Krieg „eine Kriminalität und Zerstörung von Leben und Natur geschaffen, wie es sie nie zuvor gegeben hat“.
In diesem Buch stelle ich die Behauptung auf, dass es keinen „Krieg gegen Drogen“ gibt. Man kann keinen Krieg gegen leblose Objekte führen, sondern nur gegen Menschen. Und die Menschen, gegen die der Krieg am häufigsten geführt wird, sind diejenigen, die in ihrer Kindheit am meisten vernachlässigt und unterdrückt wurden, denn nach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen, allen epidemiologischen Daten und allen Erfahrungen erliegen sie später in ihrem Leben am ehesten der Substanzabhängigkeit. In unserer zivilisierten Zeit bestrafen und quälen wir Menschen dafür, dass sie ein Trauma erlitten haben.
Abhängigkeiten sind zwangsläufig am weitesten verbreitet und am tödlichsten bei den Bevölkerungsgruppen, die in der Regel die anhaltendsten Traumata und Zerrüttungen erlebt haben. Anfang März 2018 wurde ich in das Blood Tribe Reservat, eine Blackfoot Community in der Nähe von Lethbridge, Alberta, eingeladen, um auf einer Konferenz über Jugendprobleme zu sprechen. Nach den Worten ihrer Ärztin, Dr. Esther Tailfeathers, hatte die Gemeinde zwei Wochen zuvor, am 23. Februar, „einen perfekten Sturm“ erlebt. Wohlfahrtszahlungen hatten dafür gesorgt, dass genügend Geld im Umlauf war. Die Drogenhändler fielen in das Reservat ein – wobei es sich in diesem Fall größtenteils um ebenfalls junge Leute handelte, die in hoffnungsloser Armut lebten, an einem Ort, wo die Arbeitslosigkeit fast 80 Prozent beträgt und die Wohnsituation so schlimm ist, dass sich manchmal drei Familien – bis zu zwanzig Personen – ein Haus mit einem Badezimmer sowie sechs oder sieben Personen ein Schlafzimmer teilen. Die jungen Leute dealen, um ihren eigenen Drogenkonsum zu finanzieren. An dem Abend wütete ein Schneesturm, sodass die Einsatzkräfte Schwierigkeiten hatten, auf den Straßen voranzukommen. In dieser Nacht gab es neunzehn Fälle von Überdosis und einen Toten wegen einer Messerstecherei. Von denen, die eine Überdosis genommen hatten, starben zwei, was eigentlich eine Tragödie ist, wegen der geringen Zahl aber von der Community zu Recht, wenn auch traurig, als Triumph betrachtet werden konnte. Denn sie hatten Maßnahmen zur Schadensminderung eingeleitet, indem sie zum Beispiel vorab der Bevölkerung Naloxon, ein Mittel zur (teilweisen) Aufhebung von Opiat-Überdosierungen, zur Verfügung gestellt hatten.
Die Konferenz war einberufen worden, weil so viele Blackfoot-Jugendliche Opfer einer Sucht geworden waren oder andere Erscheinungsformen von Traumata aufwiesen. Selbstmord, Selbstverletzungen, Gewalt, Angst und Depression kommen in Kanada in den First-Nations-Gemeinden wie auch in den Reservaten der amerikanischen Ureinwohner sowie in den Aborigines-Gemeinden Australiens in hohem Maße vor. Der Normalbürger hat einfach keine Ahnung, kann sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, welches Unglück, welche Tragödien und andere Widrigkeiten viele junge Ureinwohner erleben, wenn sie in die Pubertät kommen – von wie vielen geliebten Menschen sie bereits den Tod erlebt haben, welche Misshandlungen sie erdulden müssen, welche Verzweiflung sie empfinden, welche Selbstverachtung sie quält, welchen Barrieren für ein Leben in Freiheit und Orientierung sie ausgesetzt sind.
In allen Ländern mit einem kolonialen Erbe sind die Fragen, die auf den Tisch müssen, klar: Wie geht die Gesellschaft vor, um das generationsübergreifende Trauma zu heilen, das das Elend vieler Ureinwohner-Communitys verursacht? Was kann getan werden, um die Dynamik, die unsere Vergangenheit diktiert hat, rückgängig zu machen? Einige schrecken vielleicht vor einer solchen Untersuchung zurück, weil sie das Unbehagen fürchten, das mit Schuldgefühlen einhergeht. In Wahrheit geht es hier nicht um gemeinschaftliche Schuld, sondern um gemeinschaftliche Verantwortung. Es geht nicht um die Vergangenheit. Es geht um die Gegenwart. Und es geht um uns alle: Wenn ein paar von uns leiden, tun das letztlich alle.
„Ihr Buch macht den Süchtigen menschlich“, haben mir viele Leser gesagt. Diese Erkenntnis spiegelt eine grundlegende und weit verbreitete Fehleinschätzung wider. Süchtige sind menschlich. Was hält viele von uns davon ab, das zu erkennen? Es ist nur die Angewohnheit unseres egozentrischen Geistes, die Welt in „wir und die anderen“ aufzuteilen. Genauer gesagt ist es unsere Unfähigkeit – oder Weigerung –, uns in „dem anderen“ zu sehen und sie in dem, was wir als „uns“ betrachten.
Ein solches Versagen der Vorstellungskraft ist in allen Bereichen zu beobachten, von den persönlichen Beziehungen bis hin zur internationalen Politik. Einfach ausgedrückt spiegelt es das Festhalten an einer Identität wider, die unsere Art der Zugehörigkeit zu einer Gruppe definiert. Und wenn wir uns mit einer Gruppe egal welcher Größe identifizieren, die kleiner ist als die gesamte Menschheit, dann muss es andere geben, die per Definition nicht dazugehören und gegenüber denen wir uns, zumindest unbewusst, überlegen glauben. Diese Überlegenheit gibt uns das Gefühl, das Recht zu haben, zu urteilen und gleichgültig zu bleiben.