Kitabı oku: «Das Dorf am Grunde des Sees», sayfa 2
An der ihr zugewandten Ecke sah Claire einen auffällig bunten Stand, zwei Zelte groß und voll überquellender Kisten, Fässern und Schrankkoffer. Wie von Magie angezogen näherte sie sich vorsichtig dem Flohmarkt, der trotz seines übergroßen Angebotes in diesem Moment in friedlicher Ruhe versunken zu sein schien.
»Sei gegrüßt, Mädchen. Woher kommst du?«
»Deutschland«, antwortete Claire, überrumpelt.
»Davor oder danach?«
»Wonach?«
»Nach der großen Flut, Dummerchen.«
Schon das zweite Mal, dass man sie so nannte. Das passte Claire nicht und so fiel ihre Erwiderung schärfer aus, als es angebracht war.
»Woher soll ich das denn wissen?«, schnappte sie daher. »Dass es diesen Ort gibt, widerstrebt jeder Logik und dann soll ich auch noch die örtlichen Gepflogenheiten kennen?«
Die Marketenderin lachte mit ihrer unvergleichlichen, dunklen Reibeisenstimme, was Claire nicht friedlicher stimmte.
Dann verstummte das Lachen und die Händlerin funkelte das Mädchen an: »Jetzt hör mal zu, Madame, du bist nicht die erste Besucherin hier und sicher auch nicht die letzte, also mach mal nicht so ein Fass auf. Bis jetzt hat sich noch jeder hier einpassen können. Das Davor-Danach wird dir hier noch öfter begegnen. Und ich kann dir nur raten, höflich und freundlich zu den Dorfbewohnern zu sein, denn nur so können wir verhindern, dass sie den Zugang dicht machen.«
»Den Zugang? Besucher?« Claire kroch die Röte ins Gesicht. Ihr wurde bewusst, dass sie keine Ahnung von diesem Mikrokosmos hatte, in den sie geraten war.
Die fliegende Händlerin hob eine Braue und fasste die junge Frau vor sich näher ins Auge. Dann besah sie sich das Oberteil, das Claire trug, und pfiff leise durch die Zähne.
»Ein wahrlich schönes Stück. Norius 7?«
Claire nickte.
»Kukuschkin muss dich entweder sehr gern haben oder er weiß nicht, was er da für einen Schatz bei sich hatte. Er hätte ihn mir verkaufen sollen, der Narr. Dann hätte er ein hübsches Sümmchen machen können.« Die Händlerin schnalzte mit der Zunge. »Willst du mir den Tand verkaufen? Du könntest dir etwas aus meinem Fundus aussuchen und ich würde dir noch obendrein ein gutes Startkapital aushändigen. So ein bisschen Klimpergeld kann nicht schaden.«
Claire strich sich über den Kaftan. Sie hatte sich in ihn verliebt, in die Stickereien, die Farben – und er trug sich so unglaublich weich auf der Haut. So schüttelte sie den Kopf.
»Tut mir leid, der steht nicht zum Verkauf. Aber vielleicht das hier?« Claire sah auf den Ring, den sie erst wenige Tage zuvor in dem Dorf oben, am Ufer des Sees, erstanden hatte. Sie erinnerte sich an das rudimentäre Gespräch mit dem Händler, der weder Deutsch noch Englisch sprach und mit dem sie aber letztlich ins Geschäft gekommen war, mit Händen und Füßen und ihrem Handy-Dolmetscher. Den Reif hatte sie lieb gewonnen, doch wenn sie sich schon von etwas trennte, dann lieber von eben diesem Ring.
Sie streifte das Kleinod schnell entschlossen ab und reichte ihn der älteren Frau. Diese setzte sich eine Diamantenlupe ins rechte Auge und studierte das Schmuckstück.
»Keinen Wert«, gab sie nach der Prüfung zum Besten. »Touristenschmock.«
Claire hielt der Marketenderin die Hand hin. »Dann geben Sie ihn mir zurück, bitte.«
»Ah, Kleine, man nennt mich die fliegende Händlerin, die mit allen auf Du und Du ist. Also hör’ mit der gestelzten Höflichkeit auf. Ich bin Emma. Aber das bleibt unter uns.«
Das Mädchen nickte ergriffen.
»Und wer bist du?«, hakte die Krämerin freundlich nach.
»Claire Lindenbaum«, erwiderte die verspätet. »Und was machen wir damit?« Sie wies mit ihrem Kinn zu dem Ring, der noch immer in Emmas Hand lag.
Die besah sich den Stein ein zweites Mal und nickte dann leicht. »Dekorativ ist er ja. Da wird sich sicher einer finden, der das Schätzchen mitnimmt.« Damit steckte sie ihn sich an den rechten Mittelfinger.
Claire fiel erst jetzt auf, dass die Finger der fliegenden Händlerin all überall mit Ringen der verschiedensten Couleur bestückt waren.
»Ist das deine Auslage?« Claire grinste. »Sieht ja beeindruckend aus.«
Emma erwiderte das Grinsen. »Man muss ja zeigen, was man hat.«
»Was hast du denn noch?«
Die Krämerin vollführte eine einladende Geste. »Sieh dich um, in aller Ruhe. Ich mache so lange unser Geschäft dingfest.«
Claire näherte sich den feilgebotenen Waren. Sie stöberte durch die verschiedensten Stoffe und Textilien. Da gab es Krinolinen, Reifröcke, Mieder der unterschiedlichsten Machart, aus Samt, aus Leder, aus Metall, aus Plastik, alles Waren, die Claire so bisher nie in den Händen gehalten hatte. Als ihr ein Wams zwischen die Finger geriet, entfuhr ihr ein »Davor!«
Emma merkte auf, sah zu ihr hinüber und lächelte. »Ich sehe, du verstehst so langsam unseren Spleen. Moment!« Sie trat neben Claire, griff in die Kiste und zog einen spitzenbesetzten Body mit Druckknöpfen im Schritt hervor. »Von wann ist das?«
»Danach?«
»Genau.« Emma nickte bekräftigend, griff erneut in die Kiste und beförderte ein Kleidungsstück an die Oberfläche, dass zu viele Falten und Nischen und Ärmel hatte, als das Claire die Anatomie der Trägerin abschätzen konnte. Dass es weiblich war, mutmaßte sie anhand der Farben und des Musters. Aber wer wusste das schon genau?
»Und was ist das?« Emma baumelte mit dem Textil vor Claires Nase herum.
»Ich weiß es nicht.«
»Das ist ein Daneben.«
»Was willst du mir damit sagen?«
»Nun, geh zur Schmiede, kaufe einen Nagel und lass ihn dir zu einem Ring formen. Dann hast du ein einzigartiges Andenken an das Dorf und kannst dir anschauen, was ›Daneben‹ wirklich bedeutet.«
»Aber womit kann ich etwas kaufen?«
Emma klopfte sich auf ihre Börse, öffnete sie und entnahm eine Handvoll Münzen, Steine und Knöpfe. »Hier hast du dein Handgeld für den Ring. Setz’ es gut ein.«
»Soll ich da jetzt wirklich rausgehen?«
»Irgendwann musst du dich ihnen zeigen, Süße.« Emma tätschelte Claires Schulter. »Und vergiss nicht, du hast jetzt eine Aufgabe. Geh zur Schmiede. Und grüß den Tylla von mir.«
»Tylla ist der Schmied?«
»Jepp. Ein feiner Kerl. Lass’ dich nur nicht ins Bockshorn jagen.«
»Warum denn?«
»Geh einfach hin.« Emma machte dicht.
Claire steckte sich das Handgeld in die Hosentasche, winkte der Krämerin und wandte sich dem Markttreiben zu. Das bestand aus vielen kleinen Ständen, an denen Lebensmittel wie Gemüse, Brot, Honig und Obst feilgeboten wurden. Haushaltswaren, eine Seifensiederei, Bürsten und Besen und immer wieder Strickwaren, textiles Allerlei, Arm- und Beinstulpen, Schuhe, Kappen und Mützen. Überall scharten sich Menschen darum, begutachteten und prüften die Waren, unterhielten sich mit den Händlern oder untereinander.
Aber da waren ebenfalls andere, die Claire unpassend empfand. Sie wirkten wie aus der Zeit gefallen, obwohl sie die Kleidung trugen wie die Dörfler. Es lag an ihrem Gehabe, ihrem Auftreten, an den forschenden Blicken.
Claire kam sich auf einmal wie ein fein gestimmtes Instrument vor, sie spürte Schwingungen um sich herum, es prickelte auf ihrer Haut und kroch ihr in den Nacken hoch. Sie verkroch sich in ihren Kaftan, duckte sich. Es war ihr, als zöge sich der Boden unter ihr weg. Mit einem Stöhnen kippte sie seitlich auf die weißlich glühende Straße, schlug mit dem Kopf auf einen Stein und verlor das Bewusstsein.
»Hallo?« Claire hörte eine Stimme, eine junge, männliche. »Hallo? Komm zurück zu uns!«
Sie wimmerte.
»Hey, hey. Alles gut.« Der junge Mann klang besorgt. »Wer bist du denn?«
»Claire«, murmelte sie. Dann hob sie die Lider langsam und sah in ein offenes freundliches Gesicht mit dunkelbraunen Augen und von welligen Haaren umgeben. Sie lächelte unwillkürlich.
»Lindenbaum«, schob sie hinterher. »Claire Lindenbaum.«
»Gio Dante.« Seine Stimme klang aufrichtig und ernst, aber die Lachfältchen um seine Augen sprachen Bände. »Giovanni Dante. Der dritte Dante-Bruder.«
»Oh«, entfuhr es Claire. »Ein dritter Bruder? Wie im Märchen?«
»Tja«, erwiderte Gio. »Das konnte ich mir nicht aussuchen. Kannst du aufstehen?«
»Ich weiß nicht. Ist eben alles schwarz geworden um mich.«
»Dein erster Besuch?« Gio lächelte verständnisvoll. »Da kann das mal passieren. Warte, ich helfe dir.«
Entschieden schob er seinen Arm unter Claires Schulter und richtete sie auf. Sie half mit, zunächst zögerlich, dann aber ebenso nachdrücklich, wie Gio sie zog. Gemeinsam rappelten sie sich hoch, stießen kurz mit den Köpfen zusammen und standen dort mitten auf der Straße und starrten sich unverhohlen an.
Gio hatte nie zuvor ein Mädchen wie Claire gesehen. Die kurzen Haare waren so ungewohnt für ihn, dass er seinen Blick nicht davon löste. Sie wirkten so frech und ungebärdig.
Claire bemerkte das und strubbelte sich durch die kurzen Strähnen, auf das diese wild ihren Kopf umstanden. »Besser so?«, meinte sie ironisch.
Gio lachte auf. »Ja, besser sogar noch als eben!« Ihm war die Ironie vollkommen entgangen.
Claire hingegen lernte zwei Dinge. Zum einen, dass ihre kurzen Haare hier zwar befremdlich, aber kein Ausschlusskriterium waren und zum anderen, dass Gio sie gern hatte. Wenigstens ein klein wenig. Sonst gäbe er sich nicht so. So, als ob er, sie schmunzelte leicht, von Unschuld umgeben war. Das ließ sie weich werden und so lächelte sie Gio an und sagte leise: »Danke!«
Derweil floss der Strom der Anwohner und Besucher, der für die Dauer von Claires Bewusstlosigkeit ins Stocken gekommen war, wieder geschäftig um sie herum. Man starrte nicht länger auf die beiden jungen Leute, sondern gab sich den eigenen Plänen hin.
Gio nickte leicht. »Hast du Hunger? Durst? Seit wann bist du hier? Du musst ja sterben vor Hunger! Hat Kukuschkin dich schon mit allem versorgt?«
»Ja, ja. Seit heute Mittag, ja und ich weiß nicht? Was braucht man denn alles hier?«
Ebenso wie die Fragen aus Gio herausgestürzt waren, schnellten ihm jetzt ihre Antworten entgegen, sodass er merkte, wie überschwänglich er reagierte. Er verbiss sich weitere Neugierigkeiten.
»Lass uns zum Gasthaus gehen. Dort bekommst du eine Fuhre Kartoffeln mit Schichtkäse und Kräutern. Tut gut! Stellt dich wieder auf die Füße.«
»Oh, ich sollte vorher in die Schmiede gehen.«
»Wieso das?«
»Das hat mir die fliegende Händlerin gesagt. Ich soll Tylla von ihr grüßen.«
»Ah, Daneben« lachte Gio auf. »Also wenn du keinen Hunger hast, dann können wir ihn gerne besuchen.«
2
Claire wälzte sich zwischen den verknäulten Laken herum. Der Schlaf näherte sich nicht. Immer wieder rannte er wie ein aufgescheuchtes Huhn über den staubigen Vorhof der komatösen Müdigkeit, schlug Haken, links und rechts, wie ein Hase gebärdete sich das Wechselbalg und lachte ihr dabei höhnisch ins Gesicht.
Irgendwann schob Claire entnervt das bauschige Plumeau zur Seite, schälte sich aus den Tiefen des schon monströs anmutenden Bettes und tappte auf bloßen Füssen zum kleinen Fenster, das in die Gaube eingelassen war. Sie wischte mit der rechten Hand den Nachtschweiß des Zimmers von dem geteilten Glas. Kondenswasser murmelte sie, kein Schweiß. Räume schwitzen nicht. Aber Häuser atmen. Und seufzen. Und ächzen im Schlaf.
Claire schüttelte den Kopf und setzte sich in die Fensterlaibung. Sie lehnte den verwirrten und überstrapazierten Schädel mit all seinen Fragen an die kühle Scheibe.
Sie memorierte den Nachmittag, den sie in der Schmiede verbracht hatte. Sie erinnerte sich an Gio, wie er mit diesem Tylla gescherzt und gelacht hatte, während der ihr einen Nagel zu einem Ring krumm schlug. Sie selbst hatte danebengestanden, hin und wieder schwer geschluckt und dabei den berserkerstarken Handwerker angestarrt.
Als es peinlich zu werden drohte, hatte ihr Gio freundschaftlich den Ellbogen in die Seite gerammt. Tylla aber hatte nur gegrinst. Oder doch eher die Zähne gefletscht? Selbst jetzt konnte Claire das nicht recht deuten, sie hatte nie einer überlebensgroßen Echse auf zwei Beinen gegenübergestanden.
Irgendwann war der Ring fertig und Tylla hatte es sich nicht nehmen lassen, ihn ihr höchstpersönlich über den Daumen zu streifen. »So trägt man meine Werke«, hatte er gesagt.
Als sie ihren Dank hervor stammelte, winkte er lässig ab. »Nicht der Rede wert. Ist ja nur ein Nagel, nicht die Geschmeide von Herikonon.«
Sie hatte Gio angesehen und die Schultern hochgezogen.
»Seine Heimat«, erklärte Gio als wäre es das Normalste von der Welt, genau das zu wissen. »Nicht, Tylla? Die dritte Kaiserstadt war das doch, oder? Bekannt für Prunk und Reichtum und die edelsten Metalle?«
»So ist es, kleiner Zimmermann«, klang es spöttisch und von oben herab, was Claire nicht gefiel. Das hatte Gio wahrlich nicht verdient.
»Und wofür ist Seedorf bekannt?« Sie fand wieder zu ihrer Stimme zurück und konzentrierte sich bei ihrer Frage überdeutlich auf Gio. Tylla bemerkte das, pfiff zwischen den Zähnen hindurch und nahm das Gelärme mit dem Schmiedehammer, das er nach der Fertigstellung des Ringes hatte ersterben lassen, wieder auf.
»Oh«, stieß Gio hervor. Er überlegte eine ganze Weile. »Nichts Besonderes. Wir sind nur ein Dorf, mit ein paar Feldern, Wald und einem gut besuchten Markt.«
»Ihr habt einen T. Rex als Schmied«, gab Claire zurück. »Und ansonsten ist hier auch nicht alles, wie es scheint, scheint mir jedenfalls so.«
»Du meinst unsere Besucher.« Gio zuckte mit den Schultern. »Sie waren schon immer hier. Die einen kommen, die anderen gehen. Manch einer bleibt für eine Weile, bevor er weiterzieht. Tylla hat sich in unser Dorf verliebt und ist geblieben. Kukuschkin hat ein Spiel verloren und muss für immer hier bleiben. Viele kommen aber nur für einen oder zwei Tage, dann verschwinden sie wieder in der Zeit, aus der sie stammen, oder in dem Raum, aus dem sie kommen.«
»Habt ihr euch nie gefragt, warum das so ist?«
Gio schüttelte mit dem Kopf.
»Und das ist so okay für euch?«
Gio runzelte die Stirn. »Nicht für jeden, denke ich. Aber ich finde es spannend, mich mit ihnen zu unterhalten. Man kann viel lernen, wenn man nur zuhört.«
Dann verabschiedeten sie sich von Tylla, winkten ihm ein letztes Mal zu und stiefelten aus der Schmiede auf die Straße.
»Und wohin jetzt?«
»Auf zum Gasthaus, ich sterbe vor Hunger.«
Die beiden wanderten die Hauptstraße entlang, die bevölkert war von Dorfbewohnern und den unterschiedlichsten Besuchern. Sie kamen an dem Honigstand von Laitindas Großmutter vorbei und ein heller Ruf ereilte Gios Ohren. Er ruckte herum, herausgerissen aus der Plauderei über Abschlussklausuren der Pädagogik und Arbeitsproben an deutschen Grundschulen. Claire blieb ebenfalls stehen und sah von Gio zu der jungen Frau, die dort am Stand einen Honigtopf in die Höhe hielt.
»Soll ich ihn dir noch immer zurückhalten – oder kommst du ihn jetzt holen?«
Gio stieß die Luft aus, die er in der letzten Minute angehalten hatte.
»Geh«, hatte ihn Claire ermutigt. »Ich warte hier.«
Gio hatte ihr zugezwinkert. »Danke dir. Bin gleich wieder da.«
Claire lehnte noch immer an der Scheibe, nur dass jetzt die Kälte in ihren Körper kroch. Langsam stieg es höher in ihr auf, das Knochen rüttelnde Frösteln.
Sie hatte Gio und das Mädchen beobachtet. Jeder Blinde sah, dass die junge Marketenderin Interesse an dem Zimmermann hegte. Nur er schien es nicht zu bemerken. Stolz kam er mit seinem Topf wieder zurück, nahm das Bienenwachstuch ab und hielt Claire den Tiegel hin. »Probier mal!«
Sie wollte schon ihren Finger in das flüssige Gold tunken, da sah sie zu dem Honigstand hinüber, sah das Mädchen, das sie feindselig anstarrte und dann betont langsam den Kopf schüttelte. Da zog sie ihre Hand zurück.
Gio schien das nicht zu stören, gleichmütig legte er das Tuch wieder über die Öffnung des Topfes und band die Schnur um den irdenen Hals.
»Aber nun hält mich nichts ab von einem guten Essen. Komm mit.« Gio schritt mit seinen langen Beinen weit aus.
»Kennst du sie?« Claire hastete ihm überrumpelt hinterher.
»Wen?«
»Das Mädchen, das dir den Honig verkauft hat.«
»Das ist Laitinda, wieso fragst du? Klar kenn’ ich sie, wir wohnen in Seedorf, da kennt jeder jeden. Außerdem sind unsere Großmütter befreundet.«
Ein paar Meter weiter standen sie vor einem großen Haus, das sich unter einem lang gezogenen tonnenförmigen Dach hinduckte.
Als sie durch die Tür traten, öffnete sich ein einziger großzügiger Gastraum vor ihnen. Er verfügte über eine Theke am rückwärtigen Ende, und eine geschäftige Küche lärmte im Hintergrund. Die meisten Tische waren besetzt. Besucher und Dorfbewohner vermischten sich hier aber eher selten, das Miteinander, so wie es sich auf dem Marktplatz vor dem Lokal präsentiert hatte, zeichnete sich an den Tafeln nicht ab. Da blieben alle für sich.
»Wo willst du sitzen?«
Claire zuckte mit den Achseln.
»Lust, ein paar unserer Besucher kennenzulernen?«
»Aus der Ferne, ja, vielleicht. Doch. Schon.«
»Okay, dann komm mit.«
Gio bahnte sich ein Weg durch die Menge, grüßte hier und da, lachte manchmal heiter auf und ließ sich auf einen freien Platz an einen unbesetzten Vierertisch fallen. Er zog den Stuhl zu seiner Linken hervor und bot ihn Claire an. »Setz dich und entspanne.«
Sie rutschte auf den Sitz, zog die Schultern hoch und sah sich um.
»Es ist seltsam«, murmelte sie. »Abstrus, abwegig und doch so real.«
Gio hatte sie nicht gehört, er studierte die Wandtafeln, auf denen die heutigen Speisen standen.
»Willst du einen Double Cheese Bacon BBQ Burger haben? Oder eher das Kesselfleisch, die Schlachtplatte oder das Sauerkraut aus dem Fass?«
»Einen was?«
»Wie, was?«
»Ihr habt Burger auf eurer Karte?«
»Na ja, die sind der Renner hier – nicht bei den Dörflern, da gibt es viele, die würden eher verhungern, als sich so was Neumodisches reinzuziehen, aber gerade von unseren Besuchern wird es gerne genommen.« Gio schmunzelte. »Wir sind nicht immer so drauf. Wenn du länger dableibst, wirst du die barocken Wochen kennenlernen. Mit Wachteln, Stubenküken und Pfau in Aspik und solche Scherze.«
»Hallo, Gio, wie ergeht es dir an diesem grünen Tag?«
Eine rauchige Stimme, zwischen weiblicher Verführung und männlicher Schroffheit changierend, wanzte sich von hinten an den Zimmermann und an sie selbst heran. Claire drehte sich vorsichtig herum und musterte die Erscheinung fassungslos.
Gio hingegen wandte sich einen Moment später völlig unbefangen dem Neuankömmling zu. Er vollführte eine begrüßende Geste in Höhe seines Brustbeins und lachte offen heraus.
»Brisbee, meine Liebe, wie schön dich zu sehen. Hat es dich wieder hierher verschlagen? Wie lange wirst du diesmal bleiben?«
»Oh, nur ein Kurztrip, ein Kurztrip. Ich konnte mich für zwei eurer Tage von meiner Brut loseisen. Die müssen jetzt ohne Mama zurechtkommen.« Das Äquivalent eines Lachens ertönte.
Claire schrak weiter zurück. Denn wenn eine mannsgroße Assel mit ihren Mandibeln wedelte und ihre Armpaare in die Hüfte stützte, dann gab es neben all dieser Absurdität eine gewisse Verbindung mit ihrer Mutter. Wahrscheinlich war es genau dieses sozialisierende Element – die Mutterschaft. Es haftete allen Muttis etwas Ähnliches an, egal, von welchem Planeten sie kamen.
Claire drehte sich weg und stützte ihren schmerzenden Schädel auf. Außerdem knurrte ihr Magen und erinnerte sie ungeduldig daran, endlich zu essen.
»Hat sie etwas?« Brisbee setzte sich kurz entschlossen an Gios rechte Seite.
»Erstes Mal«, sagte er leise. »Sie gewöhnt sich ein.«
»Aha«, schabte Brisbee verständnisvoll. Dann wandte sie sich an Claire. »Du darfst keine Angst haben. Das hier ist ein schöner Ort. So idyllisch. Du wirst ihn lieben!« Sie sprach laut und langsam und sehr deutlich, als ob Claire schwerhörig war, oder schwer von Begriff.
Die Studentin wollte bereits auf die Barrikaden hetzen. Dann aber rang sie sich zu einem bloßen Nicken durch. Wer wollte sich schon mit einem Insekt in die Haare bekommen?
»Na, siehst du. Wir beißen nicht.« Brisbee lachte wieder. »Ich komme in Frieden.«
»Woher kommen Sie?« Claire hatte endlich ihre Sprache wiedergefunden.
»Aus Nodu, Planet Soxaga 7. Aus einem riesigen Haushalt mit zu vielen Kindern. Kein Wunder, dass Mama etwas Ruhe braucht.«
Gio feixte. »Und manchmal denke ich mir, so oft, wie du herkommst, sind deine Kleinen die Abwechslung von unserem Dorf.«
»Frechdachs!«
»Ich habe Hunger«, schaltete sich Claire wieder ein. »Gio, ich nehme den Burger.«
»Ihr habt heute die Burger am Start?« Brisbee jubilierte auf Schabenart. Die Mandibeln klickten eifrig.
Gio nickte. »Ich versteh schon, die Damen.« Er hob die Hand und ein junges Schankmädchen kam herbeigeeilt. Es stellte drei Krüge Wasser auf den Tisch und wartete dann, um die Bestellung aufzunehmen. Die kam prompt.
»Dreimal den Burger mit allem Drum und Dran. Schreibst du es auf meinen Deckel?«
Die Schankmaid nickte, lächelte Gio zu, drehte sich herum und verschwand in der Menge.
»Und wo kommst du her?« Brisbee nippte an ihrem Wasser und wartete auf Claires Antwort.
»Ich bin aus München, habe dort Lehramt studiert. Habe das Abschlussexamen geschrieben und bin hierher gefahren, um endlich Urlaub zu genießen.«
»Und wie kommst du nach Seedorf?«
»Ich bin geschwommen und durch die Decke gekracht, wie es scheint. Ich bin mir da nicht so sicher, wie es passiert ist. Jetzt bin ich hier.«
»Dann bist du nicht aus dem Berg gekommen? Dem Portal?«
»Nein. Da gibt es ein was? Was ist das?«
»Na, sicher doch. Wie kommen wir denn sonst zu Besuch?« Brisbee wandte sich Gio zu. »Es ist schon ein Segen, dass es existiert. Dieser Ort tut so gut, er ist so pittoresk, so überschaubar und handlich. Man entspannt hier so gut.«
Gio nickte leicht. »Man kann unseren Weiler aber auch verschlafen, hinterwäldlerisch und winzig nennen. Es bezieht sich immer auf die Perspektive. Für einen Besucher, der aus freien Stücken hierher kommt, stellt es sich anders dar, als für jemanden, der hier hineingeboren worden ist. Und nie die Chance hat, mehr als Seedorf zu erleben.«
»Möchtest du denn etwas anderes sehen?« Claire sah fragend zu Gio hin.
»Ich würde schon gerne Brisbees Zuhause kennenlernen. Oder in die Epoche zurückfallen, aus der Kukuschkin zu uns gekommen ist. Ich würde München sehen wollen, die Stadt deiner Gegenwart, Claire.« Er nahm einen Schluck Wasser. »Am liebsten aber würde ich mit der fliegenden Händlerin reisen. Ich glaube, sie kann mich an jeden belebten Ort in Raum und Zeit führen.«
»Ich wünschte mir, zu Hause aufzuwachen. In meinem eigenen Bett.«
Das Essen kam und Claires letzter Satz blieb kurz in der Luft hängen, die danach geschwängert war von Lauten des Wohlbehagens.
Claire erinnerte sich an den Moment, als ihr erster rasender Hunger gestillt war. Sie hatte den Kopf gehoben und sich umgesehen. Und an diesem Punkt, gesättigt und tief zufrieden, akzeptierte sie das, was ihr zugestoßen war. Das Gefühl beschlich sie, dass sie es schlimmer hätte treffen können. Die Möglichkeit, dass sie ertrunken wäre, hatte durchaus bestanden. Und? Exitus, Nulllinie, mausetot. Hm.
Abwesend nahm sie einen Bissen von dem verschwindend kleinen Rest ihres Burgers. Jetzt lebte sie – an einem Ort, den es nicht geben konnte, mit Menschen und Wesen, gegen die sie sich anfänglich gesträubt hatte, die nun aber durch den Dunst ihrer Zufriedenheit wie von einer warmen Umarmung der Toleranz umgeben waren.
Sie lächelte Brisbee zu. Und die erwiderte diesen Gruß, dieses Angebot von »Ich lass dich so gelten, wie du bist«.
Claire grinste. Gio spürte die Veränderung in ihr, die alle Steifheit verlor, die sie die ganze Zeit unbewusst ausgestrahlt hatte. Er wandte sich ihr zu. »Glücklich?«
Claire nickte. »Und selber?«
Er lachte. »Nach einem ordentlichen Essen geht es mir immer super. Aber du wirst müde sein. Soll ich dich zu Kukuschkin zurückbringen? Nicht, dass du uns abspenstig wirst.«
»In diesem Ort kann man nicht verloren gehen. Vielleicht einen halben Tag lang, spätestens dann landest du wieder auf dem Dorfplatz«, mischte sich die Assel ein und putzte sich geziert die Mandibeln.
»Ja, da gebe ich dir recht. Du hast das ja oft genug praktiziert.« Gio sah einen Moment sinnend drein, als ob er über die Konsequenzen von Brisbees Aussage nachdachte. Als ob er ansatzweise die Ausmaße dieser einen kurzen Replik der Asselmutter abschätzte.
Claire hatte von Gios Nachdenklichkeit nichts mitbekommen, die Assel und ihre Äußerung ließ das Frösteln über diese Anhäufung von Absurditäten wieder zurückkehren. Und so zupfte sie Gio am Ärmel und aus der Grübelei heraus. »Bringst du mich zu Kukuschkin?«
»Ja, sicher. Wir brechen gleich auf.« Gio erhob sich, fügte die Hände in Höhe seines Brustbeins zu einer Grußgeste zusammen und verbeugte sich leicht vor Brisbee. »Hab einen schönen Abend, Frau Mutter. Und tu nichts, was ich nicht täte.«
Die Assel ließ einen schnarrenden Laut vernehmen, den Claire für sich in ein Kichern ummünzte. Die klickenden Mandibeln gaben ihr recht. Dann schnappte sich Gio ihre linke Hand und zog sie durch das Getümmel des gut besuchten Schankraumes. Sie folgte ihm schlafwandlerisch, schloss die Augen vor den Anderen, den Davors, Danachs und Danebens – vor allem den Letzteren, obwohl das gleichzeitig am schwersten fiel. So einer, wenn er nur spektakulär genug war, war wie ein Verkehrsunfall, dachte Claire. Man konnte nur schwerlich wegschauen. Und Himmel, es hätte in dieser Schankstube eine Menge Sanitäter gebraucht. Zu viele Unfälle hier.
Dann purzelten sie aus der Wirtschaft, fanden sich auf einer der weißen Straßen wieder, die jetzt, in der Dämmerung, gespenstisch leuchteten, und sahen sich für einen Augenblick an. Still waren sie, leise, bis Claire tief Luft holte und seufzte.
Da ließ Gio sie los, wandte sich rechter Hand und wanderte im Schlenderschritt die Straße entlang. Sie begab sich nach einem Moment des Besinnens an seine Seite, holte mit ihren langen Beinen aus und hielt mit dem auf einmal wortkargen Schlacks Schritt.
»Wie geht es jetzt weiter?« Claire drehte sich kurz in Gios Richtung, dann konzentrierte sie sich auf die Straße.
»Falls du Glück hast, zeigt Kukuschkin dir das Besucherprotokoll. Wenn nicht, sag mir Bescheid, dann unterweise ich dich im Groben.«
»Was macht er hauptsächlich?«
»Er ist unser Besucherbeauftragter. Er kümmert sich um deren Belange, stattet sie mit den Flüstermännchen aus. Schlichtet Streitigkeiten, ob untereinander oder mit uns Dörflern. Manchmal«, Gio musste nun doch grinsen, »ist es, als träge er ihnen den Hintern hinterher. So hat er es mal ausgedrückt.«
Als sie bei Kukuschkin eintrafen, sahen sie in der Turmspitze ein Gleißen. Claire sah darin sofort einen Leuchtturm. Wie ein Licht in tiefer Nacht, schoss es ihr durch den Kopf, aber anstatt dass sie diese Worte trösteten, wurde ihr die Fremdartigkeit dieses Ortes ein wenig präsenter als zuvor.
Gio stieß das Gartentor auf und drehte sich ihr zu. »Na, komm, er wird nicht beißen. Manchmal neigt er zur Griesgrämigkeit, aber eigentlich ist er ganz umgänglich. Und er hat dir schon einmal geholfen, als er dich gerettet hat. Dann wird er auch jetzt einen Platz für dich haben.«
Damit hob er die linke Faust und pochte hallend an die schwere Holztür. »Kukuschkin, komm runter. Dein Gast wartet hier und will in die Federn!«
Claire schrumpfte zusehends. Sie hatte es nie gemocht, wenn es so einen Wirbel um ihre Person gab. Aber bevor sie sich weiter schämen konnte, wurde die Tür geöffnet, die mit einem kapitalen Quietschen aufschwang, und die klein gewachsene Rokoko-Schranze mit der gepuderten Perücke erschien in dem Rahmen.
»Ihr wünscht?«
»Claire braucht einen Platz für sich. Ist dein Gästezimmer frei?«
Kukuschkin überlegte kurz. »Die Philosophen sitzen bei Andrea in zwei Fässern und werden die ganze Nacht diskutieren. Ja, dann ist das Zimmer unbelegt. Willkommen, Claire. Ich zeige dir gleich die Kammer. Ist kein Palast, aber den braucht man ja nicht beim Schlafen.«
Gio trat einen Schritt zurück, fasste sie sacht an den Schultern und schob sie Kukuschkin entgegen.
»Dann weiß ich dich gut versorgt, Claire. Sehen wir uns morgen wieder?«
»Ich würde mich freuen«, murmelte die junge Frau. Danach tappte sie in das Haus des Besucherbeauftragten.
Die Tür schlug hinter ihr zu und Gio stand vor dem dunklen, rissigen Holz, dachte an Claire und lächelte leicht. Dann verschwand er in der Nacht, zockelte über die Geisterstraßen quer durch Seedorf, hin zu seinem Zuhause und ließ den Tag bei einem Tee ausklingen.
Währenddessen hatte Claire ihre Kammer bezogen, hatte sich hingelegt und war ohne Federlesens in einen zunächst tiefen und traumlosen Schlaf gerutscht. Dann aber waren die Gesichter von Tylla und Brisbee vor ihrem inneren Auge aufgetaucht, doch nicht in der fröhlichen und friedlichen Form, wie sie sie kennengelernt hatte. Nein, die Larven verschmolzen zu erschreckenden Fratzen, überlagert mit den Assoziationen aus Claires Lebenswelt. Sie träumte von Jurrassic Park und Dokumentationen über Schaben. Und sie rannte, lief weg vor diesen Monstern, bis sich die Laken um ihre Beine knäulten und sie sich aus dem Bett rettete und hier am Fenster saß, die Stirn an die feuchte Scheibe gelehnt.
Und sie versuchte, sich an den Nachmittag zu erinnern, an Tylla und an Brisbee, und je länger sie an das dachte, was geschehen war, desto mehr erdete sie sich. Irgendwann waren die Nachtmahre verschwunden und der Schmied wurde in ihrer Vorstellung wieder zum Handwerker und war nicht länger der furchterregende Dinosaurier. Und die Asselmutter – wurde zur Mutter Assel. So einfach war das, Claire lächelte ein verschämtes Lächeln. Lass dich auf die Umstände ein, die hier gegeben sind, Schatz, sprach sie sich Mut zu. Dann wird das schon.
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